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Erwacht bin ich

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Erwacht bin ich, von einer kalten Hand beseelet,
Und muss nun wach empfinden, was mir immer fehlet,
Aus allen meinen Wolkenschlössern ausgesperrt,
Denn sie, die mir so teuer war wie keine Zweite,
Sie stand in unserm größten Sturm mir nicht zur Seite
Und hat ihr falsches Herz aus meiner Brust gezerrt.
Wie gern würd‘ ich all das mir von der Seele schreiben,
Doch alle Worte, die sich in mir rühren, bleiben
Ein dumpfer Nachhall fernen Lebensmuts, und kaum
Vermag ich es, die Kraft nur aufzubringen,
Um sie in diesen Zeilen würdig zu besingen,
Die Hauptperson in meinem alten Lebenstraum.

Wie lange scheint es her, dass ich ein kleines Kind war,
So voller Hoffnung, wissbegierig und entzündbar
Und ohne Kenntnis von den Schrecken dieser Welt!
Als ich sie wiederfand, war’s wie ein neuer Morgen;
Wie fühlte sich mein Seelenkind da wohl geborgen,
Ein Nestling, den man sacht in warmen Händen hält!
Doch leider lässt das Glück sich selten nur beschwören,
Ganz gleich, wie wir es locken mögen und betören,
Und wenn du meinst, es könnt‘ dir angehören nun,
So singt es nur noch einmal, scheinbar brav und sittig,
Schlägt dir dann um die Ohren mit dem linken Fittich
Und fliegt davon, um jemand anders wehzutun.

Vor einem halben Leben kannten wir uns beide
Und liebten uns wie Kinder – eine Herzensweide!
Für jeden, der uns damals so zusammen sah,
Stand fest, das Schicksal wollte uns zusammenfügen,
Doch damals wie auch heut‘ verging die Lieb‘ in Lügen,
Und wieder frag ich mich, was eigentlich geschah.
Wie spielt das Schicksal nur mit uns, dass wir grad eben,
Wenn alle Hoffnung in uns stirbt, etwas erleben,
Das sich tief in uns prägt wie eine Niederschrift,
Um uns fortan im Leben nicht mehr loszulassen
Und wie ein Schutzgeist leise auf uns aufzupassen,
Und uns nach Jahren ohne Warnung wiedertrifft?

Habe ich auch genügend Lebensglück empfunden,
Dass es sich schadlos durch die eisig kalten Stunden,
Die mich erwarten, über’s Jahr bewahren lässt,
Oder muss ich in diesem Wintersturm erfrieren
Und alle Hoffnung fahren lassen, resignieren,
Ein Vogeljunges ohne Heimatbaum und Nest?
Ich werde mich zu einem festen Ballen rollen
Und so erwarten, was die Götter mit mir wollen,
Fest eingekapselt den Verlust in meinem Sinn.
In meinem Herzen mag sie ewig weiter strahlen,
Die Liebe, und mir bunte Kindheitsbilder malen,
Dann wird es einst vielleicht auch wieder warm darin.

Und sollte sich das alte Wort als wahr erweisen,
Dass kein Gehölz vollkommen ist und ohne Schneisen,
Und dass im Leben nichts sich ganz vergebens tut,
So will ich einmal feiern, dass ich dies genossen,
Dann ist es nicht vergeudet und umsonst geflossen,
Mein eigenes erschreckend warmes Lebensblut.
Einmal will ich, und sollt‘ es viele Jahre dauern,
Mich nicht mehr krümmen und in Qual zusammenkauern,
Will ganz erwacht sein auch aus diesem großen Traum,
Damit das Glück mich einmal wieder offen findet
Und nicht erneut beim ersten Misston gleich verschwindet,
Denn dann geb‘ ich ihm endlich wieder einen Raum.

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Autor:in

Goldmund1995

Geboren wurde ich am 19.06.1995 in Northeim, Niedersachsen. Momentan lebe ich in Marburg und bin Autor mehrerer Gedichtbände. In meiner künstlerischen Arbeit bin ich bestrebt, eine Renaissance ohne Rückschritt zu vollziehen, also der Lyrik wieder zu dem Glanz zu verhelfen, den sie einmal hatte und der ihr in Zeiten von Poetry Slam und ähnlichen Auswüchsen oft abhanden kommt. Dabei fällt auf, wie tief Gedichte bei Livelesungen in die Seelen der Zuhörenden einzudringen vermögen, selbst wenn diese vorher dies niemals vermutet hätten. Solange man selbst um eine gewisse objektiv nachweisbare Qualität bemüht ist und nicht versucht, es den falschen Leuten recht zu machen, kann die Tätigkeit als Lyriker eine äußerst erstrebenswerte sein. Hätte Hermann Hesse diese Meinung nicht geteilt, gäbe es diese Seite nicht.

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