Die Nürnberger Reise ist ein Buch, in dem von einer Reise zu Lesungen nach Süddeutschland berichtet wird und sich humoristisch-kritische und selbstironisch getönte Schilderungen mit allerlei grundsätzlichen Äußerungen ineinander verflechten. Hesse war eingeladen worden, im Spätherbst 1925 in verschiedenen süddeutschen Städten aus seinen Büchern vorzulesen, und hatte sich nach einigem Zögern entschlossen, der Aufforderung zu folgen.

>> Ich habe gegen das öffentliche Vorlesen nicht nur jene, von Fall zu Fall leicht zu überwindenden Hemmungen des Alleinlebenden gegen gesellige Veranstaltungen, sondern ich stoße hier auf prinzipielle, tief verankerte Unordnungen und Zwiespälte. Sie liegen, allzu kurz und schroff gesagt, in meinem Mißtrauen gegen die Literatur überhaupt. Sie plagen mich nicht nur beim Vorlesen, sondern noch viel mehr beim Arbeiten.

Ich glaube nicht an den Wert der Literatur unsrer Zeit. Ich sehe zwar ein, daß jede Zeit ihre Literatur haben muß, wie sie ihre Politik, ihre Ideale, ihre Moden haben muß. Doch komme ich nie von der Überzeugung los, daß die deutsche Dichtung unserer Zeit eine vergängliche und verzweifelte Sache sei, eine Saat auf dünnem, schlecht bestelltem Boden gewachsen, interessant zwar und voll von Problematik, aber kaum zu reifen, vollen, langdauernden Resultaten befähigt. Ich kann infolgedessen die Versuche heutiger deutscher Dichter (meine eigenen natürlich inbegriffen) zu wirklichen Gestaltungen, zu echten Werken immer nur als irgendwie unzulänglich und epigon empfinden; überall glaube ich einen Schimmer von Schablone, von unlebendig gewordenem Vorbild wahrzunehmen. Dagegen sehe ich den Wert einer Übergangsliteratur, einer problematisch und unsicher gewordenen Dichtung darin, daß sie bekenntnishaft ihre eigene Not und die Not ihrer Zeit mit möglichster Aufrichtigkeit ausspricht. Dies ist der Grund, warum ich viele schön und treu gearbeitete Werke heutiger Dichter nicht mehr genießen und bejahen kann, während ich für manche recht roh und skrupellos gemachte Kundgebungen der Jüngsten, eben als für einen Versuch zu rückhaltloser Aufrichtigkeit, Sympathie empfinden kann. Und dieser Zwiespalt geht mitten durch meine eigene kleine Welt und Literatur … << *1

Über Locarno, Zürich und Tuttlingen reiste Hesse mit allerlei Umständlichkeiten und Unterbrechungen zunächst zu dem Freund Wilhelm Häcker nach Blaubeuren und gesteht sich, den Kausalitäten dieser Reise nachsinnend, daß es wohl das Bild der schönen Lau aus dem Hutzelmännlein und damit Mörike gewesen sein mußte, der ihn dazu bestimmte, die Fahrt nach Schwaben und Franken anzutreten. Er liest in Ulm vor, besucht Freunde, betrachtet sich Kasernen, Bahnhöfe und das Münster und meditiert darüber, ob er es nicht doch versäumt habe, sich der Wirklichkeit anzupassen. >> Und wieder spürte ich das Zucken zwischen Pol und Gegenpol, spürte über der Kluft zwischen Wirklichkeit und Schönheit das Schwanken der luftigen Brücke: den Humor. Ja, mit Humor war es zu ertragen, sogar die Bahnhöfe, sogar die Kasernen, sogar die literarischen Vorlesungen. << *2

Besuche bei Thomas Mann in München, ein Zusammentreffen mit Joachim Ringelnatz und ein Abend bei Valentin in den Kammerspielen beschließen die Reise und damit den liebenswürdig-besinnlichen Bericht, der gleich einem sentimentalischen Intermezzo zwischen Werken ganz anderer Art steht.

 

Einband und Kassette der Erstausgabe aus:
Bernhard Zeller (Bearbeitung): Hermann Hesse. Eine Chronik in Bildern. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. Erweiterte Auflage 1977. Seite 124.

Zitat aus:
*1 *2 Brief an Conrad Hausmann vom 27.12.1910. Unveröffentlicht.