>> Ich habe gegen das öffentliche Vorlesen nicht nur jene, von Fall zu Fall leicht zu überwindenden Hemmungen des Alleinlebenden gegen gesellige Veranstaltungen, sondern ich stoße hier auf prinzipielle, tief verankerte Unordnungen und Zwiespälte. Sie liegen, allzu kurz und schroff gesagt, in meinem Mißtrauen gegen die Literatur überhaupt. Sie plagen mich nicht nur beim Vorlesen, sondern noch viel mehr beim Arbeiten.
Ich glaube nicht an den Wert der Literatur unsrer Zeit. Ich sehe zwar ein, daß jede Zeit ihre Literatur haben muß, wie sie ihre Politik, ihre Ideale, ihre Moden haben muß. Doch komme ich nie von der Überzeugung los, daß die deutsche Dichtung unserer Zeit eine vergängliche und verzweifelte Sache sei, eine Saat auf dünnem, schlecht bestelltem Boden gewachsen, interessant zwar und voll von Problematik, aber kaum zu reifen, vollen, langdauernden Resultaten befähigt. Ich kann infolgedessen die Versuche heutiger deutscher Dichter (meine eigenen natürlich inbegriffen) zu wirklichen Gestaltungen, zu echten Werken immer nur als irgendwie unzulänglich und epigon empfinden; überall glaube ich einen Schimmer von Schablone, von unlebendig gewordenem Vorbild wahrzunehmen. Dagegen sehe ich den Wert einer Übergangsliteratur, einer problematisch und unsicher gewordenen Dichtung darin, daß sie bekenntnishaft ihre eigene Not und die Not ihrer Zeit mit möglichster Aufrichtigkeit ausspricht. Dies ist der Grund, warum ich viele schön und treu gearbeitete Werke heutiger Dichter nicht mehr genießen und bejahen kann, während ich für manche recht roh und skrupellos gemachte Kundgebungen der Jüngsten, eben als für einen Versuch zu rückhaltloser Aufrichtigkeit, Sympathie empfinden kann. Und dieser Zwiespalt geht mitten durch meine eigene kleine Welt und Literatur … << *1
Besuche bei Thomas Mann in München, ein Zusammentreffen mit Joachim Ringelnatz und ein Abend bei Valentin in den Kammerspielen beschließen die Reise und damit den liebenswürdig-besinnlichen Bericht, der gleich einem sentimentalischen Intermezzo zwischen Werken ganz anderer Art steht.
Einband und Kassette der Erstausgabe aus:
Bernhard Zeller (Bearbeitung): Hermann Hesse. Eine Chronik in Bildern. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. Erweiterte Auflage 1977. Seite 124.
Zitat aus:
*1 *2 Brief an Conrad Hausmann vom 27.12.1910. Unveröffentlicht.