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Der Steppenwolf erschien nach dem Vorabdruck von Einzelteilen im Juni 1927 in Buchform. Die kunstvoll gegliederte Dichtung erzielte starke Wirkung und erfuhr widersprüchlichste Beurteilung, scharfe Ablehnung wie – vor allem in literarischen Kreisen – begeisterte Zustimmung. Kein anderes Werk wurde so mißverstanden, mußte von seinem Autor immer wieder verteidigt und erklärt werden. Aber dieses Buch vornehmlich hat dann Jahrzehnte später die neue große Hesse-Rezeption in Amerika und Deutschland ausgelöst.
Das Buch entsteht in einer Zeit, in der Hesse zutiefst an dem Phänomen der technisch-rationalisierten Welt und der zum Selbstzweck gewordenen modernen Zivilisation leidet, durch die er, einem hochempfindlichen Seismographen gleich, Geist und Seele des Menschen gefährdet sieht. Der Gedanke an die unter unseren Füßen glimmende Hölle, das Gefühl der Bedrohtheit durch nahe Katastrophen und Kriege läßt ihn nicht mehr los.

In dieser Stimmung zeichnet er, gleichsam als ein neues, sich schonungslos entblößendes Selbstbildnis die Geschichte von Harry Haller, des Steppenwolfs. Die Krise Hallers, der gegen die Welt revoltiert, die ihn bisher getragen hat, gleicht zunächst der pathologischen Krise eines Mannes im Alter von 50 Jahren. Aber in ihrer Diagnose wird die Neurose jener Generation, der er angehört, ja die Krankheit der Zeit selbst entlarvt. In der Formel des Steppenwolfes, des einsam schweifenden, des grausam und alle Hürden durchbrechenden Tieres, versucht sich Haller den Zwiespalt in sich und den Zwiespalt zwischen sich und der Welt verständlich zu machen. Doch sein Leben ist vielfältig gespalten, es schwingt nicht bloß zwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist, oder dem Heiligen und dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen tausenden, zwischen unzählbaren Polpaaren. Die völlige Aufspaltung und damit die Auflösung droht, und er sucht verzweifelt die Mitte, sucht über Trümmern seines Lebens den zeflatterten Sinn. Die verlorene Einheit ist aber nur wiederzugewinnen, wenn es ihm gelingt, in das Unbewußte des magischen Ichs einzudringen, wenn er bereit ist, sich dem Chaos der eigenen Seele zu stellen, sich zum vollen Bewußtsein seines Selbst durchzuringen. Hallers Aufzeichnungen sind daher weit mehr als die Phantasien eines gemütskranken Idealisten. Sie sind ein Dokument der Zeit, ein Versuch, die große Zeitkrankheit nicht durch Umgehen und Beschönungen zu überwinden, sondern durch den Versuch, die Krankheit selber zum Gegenstand der Darstellung zu machen. Sie bedeuten, ganz wörtlich, einen Gang durch die Hölle, einen bald angstvollen, bald mutigen Gang durch das Chaos einer verfinsterten Seelenwelt, gegangen mit dem Willen, die Hölle zu durchqueren, dem Chaos die Stirn zu bieten, das Böse bis zu Ende zu erleiden.

Diese Selbstbegegnung, die Höllenreise zu sich selbst, ist der Inhalt der Dichtung. Sie bewegt sich in einem eigentümlichen Zwischenreich zwischen Traum, Vision und Wirklichkeit und gewinnt dadurch besondere Intensität. Dunkle Labyrinthe der Leidenschaft, der Laster und Irrtümer, des Nihilismus und eines zynischen Ekels, der bis zum Selbstmord treibt, werden durchschritten. Die eigene Vergangenheit reflektiert in einem Spiegelkabinett vielfacher Brechungen, und Haller erfährt, daß jene andere Wirklichkeit, nach der er sich sehnt, nur im eigenen Innern gefunden werden kann. Ich kann Ihnen nichts geben, was nicht in Ihnen selbst schon existiert. Ich kann Ihnen keinen andern Bildersaal öffnen als den Ihrer Seele. Ich kann Ihnen nichts geben, nur die Gelegenheit, den Anstoß, den Schlüssel. Ich helfe Ihnen, Ihre eigene Welt sichtbar machen, das ist alles.

Der Steppenwolf bietet keine harmonisierende Endlösung. Haller vermag die Prüfungen, die ihm auferlegt werden, nicht zu bestehen, aber er endet auch nicht in der Verzweiflung. Er wird das Spiel nochmals beginnen, wird nochmals leben und dann wohl auch das Lachen lernen, das von ihm gefordert wird. Nehmen Sie endlich Vernunft an! Sie sollen leben, und Sie sollen das Lachen lernen. Sie sollen die verfluchte Radiomusik des Lebens anhören lernen, sollen den Geist hinter ihr verehren. Haller erfährt, daß es nicht damit getan ist, Krieg und Technik, Geldrausch, Nationalismus und all die Phänomene, die ihm hassenswert erscheinen, für minderwertig zu erklären, sondern daß hinter den Erscheinungen großartig, zeitlos und unantastbar die Ideen stehen. Über allem Triebhaften, Chaotischen, erhebt sich eine zweite, höhere, unvergängliche Welt, die Welt der Unsterblichen, eine positive, heitere, überpersönliche und überzeitliche Glaubenswelt. Darin liegt der Sinn des magischen Theaters, für Hesse Bild und Hülle für das, was ihm zutiefst wertvoll und wichtig ist.

Das magische Theater wird zu der überwirklichen Bühne, von der das Göttliche und der Geist, unberührt von den Verzerrungen barbarischer Zivilisation, zu den Menschen sprechen.
Eine goldene Spur leuchtet durch das wirre Dunkel. Sie führt zu Mozart. Er gehört zum Kreise der Unsterblichen, sein Name gewinnt magische Gewalt. Mozart wartet auf mich, lauten die letzten Worte der Dichtung. Bereits im Tagebuch von 1920 finden sich die Sätze: >> Über diesen Tag, über diese Seite meiner bunten Lebensblätter möchte ich ein Wort schreiben, ein Wort wie „Welt“ oder „Sonne“, ein Wort voll Magie und Strahlungskraft, voll Klang, voll Fülle, voller als voll, reicher als reich, ein Wort mit Bedeutung vollkommener Erfüllung, vollkommenen Wissens. Da fällt das Wort mir ein, das magische Zeichen für diesen Tag, ich schreibe es groß über dies Blatt: MOZART. Das bedeutet: die Welt hat einen Sinn, und er ist uns erspürbar im Gleichnis der Musik. <<

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Der Liebende von Hermann Hesse