Hermann Hesse: Gedanken über Weihnachten

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Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete sich Hermann Hesse, der noch deutscher Staatsbürger war, aber in der Schweiz lebte, bei der deutschen Armee. Obwohl er für kampfunfähig befunden wurde, wurde er zur Betreuung deutscher Kriegsgefangener eingesetzt. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, darunter auch Schriftsteller, die die Kriegsanstrengungen ihrer jeweiligen Länder unterstützten, lehnte Hesse den Krieg ab und verfasste in den folgenden Jahren mehrere Essays, in denen er seine Ablehnung des laufenden Konflikts darlegte.

Zu diesen Aufsätzen gehörte der folgende:

Weihnacht

(Dezember 1917)

Auch früher schon, ehe die große Mahnung an uns ergangen war, bekam ich an Weihnachten je und je leise Widerstände, bekam einen etwas unangenehmen Geschmack auf der Zunge zu fühlen, wie bei einer Sache, welche zwar hübsch, aber nicht ganz echt ist, welche zwar allgemein Vertrauen und Achtung genießt, welcher man aber ganz heimlich doch ein wenig mißtraut.
Jetzt, da die vierte Kriegsweihnacht kommt, ist der Geschmack auf der Zunge unüberwindlich geworden. Gewiß, ich feiere Weihnacht, weil ich Kinder habe, die ich nicht um eine Freude bringen will. Aber ich begehe diese Kinderweihnacht ebenso, wie ich in meiner Kriegstätigkeit die Gefangenenweihnacht begehe—als einen hergebrachten, festlich-offiziellen Akt verjährten Herkommens, verstaubter Sentimentalität. Den armen Kriegsgefangenen, die wir seit drei Jahren wie Schwerverbrecher schmachten lassen, schicken wir hübschen Kisten und Päckchen mit Tannenzweigen drin—es ist rührend, und ich fühle das Rührende daran selber zuzeiten stark, denke mir die Gefühle eines Gefangenen, der sein kleines Geschenkchen erhält, male mir aus, welch ein Strom von Erinnerungen ihn unter Umständen beim Duft eines Tannenzweiges überfallen kann. Aber auch das ist ja schließlich nichts als eine Sentimentalität.
Und ebenso wie wir die Gefangenen jahrelang einsperren, obwohl sie nichts getan haben, als sich von einem Sturmangriff oder einen gewaltsamen Erkundung überraschen zu lassen, und wie wir diese armen Hunderttausende und Millionen dann an Weihnachten mit einer gefühlvollen Gabe heimsuchen und sie an das Fest der Liebe erinnern—ebenso machen wir es mit unseren Kindern. Einmal im Jahr lassen wir sie sich an der Legende von der göttlichen Liebe freuen, sind einen Abend lang beim Christbaum mit ihnen rührend nett und erziehen sie im übrigen zum selben Schicksal, das wir heut alle verfluchen.
Wenn der Kriegsgefangene mir das hübsche Weihnachtspaket, das ich im schicke, ins Gesicht schmeißt und den sentimentalen Tannenzweig mit Füßen tritt, so hat er ganz recht. Und wenn unsere Kinder uns am Lichterbaum unsere ganze Ergriffenheit und Erlöstheit durch das Christkind nicht recht glauben können und uns für ein wenig falsch oder doch für ziemlich komisch ansehen, so haben sie ebenfalls völlig recht.
Unsere Weihnacht ist, von den paar wirklich Frommen abgesehen, ja schon sehr lange eine Sentimentalität. Zum Teil ist sie noch Schlimmeres geworden, Reklameobjekt, Basis für Schwindelunternehmungen, beliebtester Boden für Kitschfabrikation.
Das kommt daher: die Weihnacht und das Fest der Liebe und Kindlichkeit ist für uns alle schon längst nicht mehr Ausdruck eines Gefühls. Es ist das Gegenteil, ist längst nur noch Ersatz und Talmi-Nachahmung eines Gefühls. Wir tun einmal im Jahr so, als legten wir großen Wert auf schöne Gefühle, als ließen wir es uns herzlich gern etwas kosten, ein Fest unserer Seele zu feiern. Dabei kann die vorübergehende Ergriffenheit von der wirklichen Schönheit solcher Gefühle sehr echt sein; je echter und gefühlvoller sie ist, desto mehr ist sie Sentimentalität. Sentimentalität ist unser typisches Verhalten der Weihnacht und den wenigen anderen äußeren Anlässen gegenüber, bei denen noch heute Reste der christlichen Lebensordnung in unser Tagesleben eingreifen. Unser Gefühl dabei ist dieses: “Wie schön ist doch dieser Liebesgedanke, wie wahr ist es, daß nur Liebe erlösen kann! Und wie schade und bedauerlich, daß unsere Verhältnisse uns nur einen einzigen Abend im Jahr den Luxus dieses schönen Gefühls gestatten, daß wir sonst jahraus jahrein durch Geschäfte und andere wichtige Sorgen davon abgehalten sind!” Dies Gefühl trägt alle Merkmale der Sentimentalität. Denn Sentimentalität ist das Sich-Erlaben an Gefühlen, die man in Wirklichkeit nicht ernst genug nimmt, um ihnen irgendein Opfer zu bringen, um sie irgend je zur Tat zu machen.
Wenn die Pfarrer und Frommen klagen, daß der Glaube und damit das Glück aus der Welt geschwunden sei, so haben sie recht. Unser Verhalten gegen alle wirklichen Werte des Menschen ist von einer Barbarei und Rohheit, wie sie die Welt seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hat. Dies zeigt sich in unserm Verhalten zur Religion, in unserm Verhalten zur Kunst, in unserer Kunst selber. Denn die beliebte Meinung, daß die Kunst des modernen Europa auf einer ungeheuer hohen Stufe stehe, ist ebenso ein Irrtum der Bildungsphilister wie die Meinung vom Vorhandensein einer hochstehenden und Respekt verdienenden “Kultur” unserer Zeit.

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Glück von Hermann Hesse

Der “Gebildete” von heute verhält sich zur Lehre Jesu so, daß er das ganze Jahr hindurch an sie nicht denkt und nach ihr nicht lebt, daß er aber am Weihnachtsabend einer vagen wehmütigen Kindererinnerung nachgibt und ein wenig in zahmen, wohlfeil-frommen Gefühlen schwelgt, ebenso wie er noch ein- oder zweimal im Jahre, etwa bei Aufführung der Matthäuspassion, dieser zwar längst verlassenen, dennoch aber noch unheimlichen und im Verborgenen mächtigen Welt seine Reverenz macht.
Ja, das alles gibt man zu, jedermann weiß es, und jeder weiß auch, daß es traurig ist. Schuld daran sind politische und ökonomische Entwicklungen, sagt man, schuld ist der Staat, schuld ist der Militärismus, und so weiter. Denn irgend etwas muß ja doch schuld sein. Kein Volk hat “den Krieg gewollt”, ebenso wie kein Volk den Vierzehnstundentag, die Wohnungsnot und die Kindersterblichkeit “gewollt” hat.
Ehe wir wieder Weihnacht feiern und das Ewige und einzig Wichtige in uns mit einem verlogenen Ersatzartikel von Gefühl abspeisen, sollten wir uns lieber dieses ganzen Elendes recht bewußt werden, auch wenn es zur Verzweiflung führt. Schuld an unserem Elend, schuld an der Nichtigkeit und rohen Verödung unseres Lebens, schuld am Krieg, schuld am Hunger, schuld an allem Bösen und Traurigen ist keine Idee und kein Prinzip, schuld daran sind wir, wir selber. Und auch nur durch uns, durch unsere Erkenntnis, durch unsern Willen kann es anders werden.
Ob wir dann die Lehre Jesu wieder aufnehmen und uns neu zu eigen machen oder ob wir andere Formen suchen, das ist einerlei. Die Lehre Jesu und die Lehre Lao Tests, die Lehre der Reden und die Lehre Goethes ist in dem, worin sie das ewig Menschliche trifft, dieselbe. Es gibt nur e i n e Lehre. Es gibt nur e i n e Religion. Es gibt nur e i n Glück. Tausend Formen, tausend Verkünder, aber nur e i n e n Ruf, nur e i n e Stimme. Die Stimme Gottes kommt nicht vom Sinai und nicht aus der Bibel, das Wesen der Liebe, der Schönheit, der Heiligkeit liegt nicht im Christentum, nicht in der Antike, nicht bei Goethe, nicht bei Tolstoi—es liegt in dir, in dir und in mir, in jedem von uns. Dies ist die alte, einzige, immer in sich gleiche Lehre, unsere einzige ewig gültige Wahrheit. Es ist die Lehre vom “Himmelreich”, welches wir “inwendig in uns” tragen.
Zündet euren Kindern die Weihnachtsbäume an! Lasset sie Weihnachtslieder singen! Aber betrüget euch selber nicht, seid nicht immer und immer wieder zufrieden mit diesem ärmlichen, sentimentalen, schäbigen Gefühl, mit dem ihr eure Feste alle feiert! Verlangt mehr von euch! Denn auch die Liebe und Freude, das geheimnisvolle Ding, das wir “Glück” nennen, ist nicht da und nicht dort, sondern nur “inwendig in uns”.

Schlussbetrachtung

Ein zeitgenössischer Leser wird wahrscheinlich viele seiner eigenen Gedanken zur Weihnachtszeit wiedererkennen, wenn er diesen vor mehr als einem Jahrhundert geschriebenen Essay liest. Und mancher Leser könnte sogar meinen, Hesse stehe der religiösen oder säkularen Betrachtung des Weihnachtsfestes ablehnend oder gar ambivalent gegenüber. Eine genauere Betrachtung des Textes legt jedoch nahe, dass Hesse gar nicht gegen Weihnachten war, sondern vielmehr die Abschottung des Festes im größeren Kontext der modernen Gesellschaft beklagte.

Zwei wiederkehrende Themen in Hesses Werk werden in diesem Essay besonders deutlich: die Sentimentalität und die unendlichen Erscheinungsformen dessen, was viele als „Gott“ bezeichnen, in der Welt. Im Essay definiert Hesse Sentimentalität als sich mit Gefühlen trösten, „die man in Wirklichkeit nicht ernst genug nimmt, um ihnen irgendein Opfer zu bringen, um sie irgend je zur Tat zu machen“. Für Hesse war der Weltkrieg, der zur Zeit der Abfassung des Textes in seinen vierten Winter ging, eine alltägliche Erinnerung an Gefühle, für die nur wenige bereit waren, Opfer zu bringen – trotz der – vielleicht falschen – Opfer, die der Krieg gleichwohl gebracht hatte.

Die Erscheinung und Deutung Gottes in der Welt, unabhängig von der Religion, ist ein Thema, das in Hesses Werken immer wieder auftaucht, und Hesse benutzt dieses Thema in diesem Essay, um seine Leser zu ermutigen, die Gegenwart Gottes nicht in der Außenwelt zu suchen, wo sie überall beansprucht und ausgenutzt wird, sondern sie in sich selbst zu finden. Und darin, „Gott“ in sich selbst zu finden, an jedem Tag des Jahres und nicht nur in der Weihnachtszeit, hoffte Hesse, dass die Menschheit eine Rückkehr zur Erlösung finden könnte.

Wir sehen also, dass dieser hundert Jahre alte Essay so aktuell ist wie eh und je. Heute, inmitten einer schon viel zu lange andauernden Pandemie, in der viele Menschen in ihren Häusern und Grenzen eingeschlossen und isoliert sind, erinnert uns Hesse daran, dass es Dinge gibt, die uns näher zusammenbringen, als wir im Alltag vielleicht denken.

 

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Autor:in

Rich

hhesse.de's USA-Korrespondent und Mitglied seit der ersten Stunde. Wenn er nicht gerade hier ist, findet ihr ihn auf Facebook oder Instagram.

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