Hermann Hesse und Goethe

Unter allen deutschen Dichtern ist Goethe derjenige, dem ich am meisten verdanke, der mich am meisten beschäftigt, bedrängt, ermuntert, zu Nachfolge oder Widerspruch gezwungen hat. Er ist nicht etwa der Dichter, den ich am meisten geliebt und genossen, gegen den ich die kleinsten Widerstände gehabt habe, o nein, da kämen andere vorher: Eichendorff, Jean Paul, Hölderlin, Novalis, Mörike und noch manche. Aber keiner dieser geliebten Dichter ist mir je zum tiefen Problem und wichtigen sittlichen Anstoß geworden, mit keinem von ihnen bedurfte ich des Kampfes und der Auseinandersetzung, während ich mit Goethe immer wieder Gedankengespräche und Gedankenkämpfe habe führen müssen (eines von ihnen steht im „Steppenwolf“, eines von Hunderten).
[aus „Dank an Goethe“, WA (=Werkausgabe) 12 S.145]

Hesse liebte den Dichter Goethe, hatte aber seine Probleme mit dem Literaten Goethe. In seinem bemerkenswerten Aufsatz Dank an Goethe (1932) machte er den Widerspruch deutlich, der zwischen dem Denker, Weltmann und politischen Menschen einerseits und dem Dichter andererseits seiner Meinung nach herrschte.

Bei Goethe dem Dichter war viel zu genießen, aber nichts zu lernen. Was er konnte, war unerlernbar und einmalig. Darum wurde er mir nicht zum Vorbild oder zum Problem. Dagegen war der Literat, der Humanist und Ideologe Goethe mir sehr bald ein großes Problem geworden; kein anderer Schriftsteller außer Nietzsche hat mich je so beschäftigt, so angezogen und gepeinigt, so zur Auseinandersetzung gezwungen. Ein Stück weit schien dieser Literat Goethe mit dem Dichter Goethe ganz parallel zu gehen und beinah eins zu sein, plötzlich aber waren sie weit auseinander, widersprachen sich und taten einander Abbruch. War auch der Dichter sympathischer und brachte mehr Genuß, so war doch der Literat Goethe sehr wichtig zu nehmen und durfte nicht umgangen werden, das fühlte ich schon als Zwanzigjähriger, denn er war der großzügigste und scheinbar geglückteste Versuch, ein deutsches Leben auf den Geist zu begründen. Er war ferner ein ganz einmaliger Versuch zu einer Synthese der deutschen Genialität mit der Vernunft, zu einer Versöhnung des Weltmanns mit dem Himmelsstürmer, des Antonio mit dem Tasso, der unverantwortlichen, musikalisch-dionysischen Schwärmerei mit einem Glauben an Verantwortlichkeit und sittliche Verpflichtung.
[aus „Dank an Goethe“, WA 12 S.146]

Hesse sah in Goethe den Versuch, Natur und Geist zu vereinen, und er sah diesen Versuch doch als nicht geglückt.

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Es hing zuweilen die Vernunft und Tugend dem Dichter wie eine zu große Perücke um den Kopf, und es erstickte nicht selten seine naive Genialität in einer Steifheit, die aus dem Streben nach Bewußtheit und Bändigung entstanden war.
[aus „Dank an Goethe“, WA 12 S.147]

Diesen Kampf mit Goethe wegen der Unvereinbarkeit von platten Gemeinplätzen und genialer Dichtung beschreibt Hesse in seinem Aufsatz beispielhaft. Er beschreibt aber auch weiter, wie er im Laufe der Jahre noch etwas anderes an Goethe entdeckte: Weisheit. Eine Weisheit, die über den Aussagen zum Alltäglichen stand, die zeitlos ist.

Diese Weisheit Goethes, die er selbst oft verhüllt, die ihm selber oft wieder verlorengegangen schien, ist nicht mehr bürgerlich, ist nicht mehr Sturm und Drang oder Klassizismus oder gar Biedermeier, sie ist sogar kaum. mehr goethisch, sondern sie atmet gemeinsame Luft mit der Weisheit Indiens, Chinas, Griechenlands, sie ist nicht mehr Wille und nicht mehr Intellekt, sondern Frömmigkeit, Ehrfurcht, Dienenwollen: Tao. Jeder echte Dichter hat ja einen Funken von ihr, weder Kunst noch Religion sind ohne sie möglich, und gewiß atmet sie auch im kleinsten Gedicht von Eichendorff, aber sie hat bei Goethe ein paarmal sich zu so magischen Worten verdichtet, wie sie es nicht in jedem Volke und nicht in jedem Jahrhundert tut. Sie steht hoch über aller Literatur. Sie ist nichts als Anbetung, nichts als Ehrfurcht vor dem Leben, sie will nur dienen und kennt keine Ansprüche, keine Forderungen oder Rechte.
[aus „Dank an Goethe“, WA 12 S.152]

Diese Weisheit sieht er auch bei Goethe im östlichen Gewand:

Mir, der ich eine besondere Liebe zu den klassischen Autoren der Chinesen habe, scheint sie, auch bei Goethe, ein chinesisches Gesicht zu haben. Darum ist es mir eine kleine Freude zu wissen, daß in der Tat Goethe sich mehrmals mit Chinesischem befaßt hat, und daß ein kleiner, wunderbarer Gedichtkreis des ältesten Goethe (aus dem Jahre 1827) die Überschrift trägt: „Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten“. Wir haben in den neueren Literaturen nicht viele Äußerungen dieser Urweisheit. In Deutschland hat sie sich nur selten im Wort geäußert, Deutschland ist in seiner Musik frommer, reifer, weiser als in seinem Wort.
[aus „Dank an Goethe“, WA 12 S.153]

Anklänge an Goethe gibt es immer wieder in Hesses Werk. So knüpft die Welt Kastaliens im „Glasperlenspiel“ an die Gelehrtenrepublik im „Wilhelm Meister“ an; der Name Josef Knecht korrespondiert absichtlich mit Wilhelm Meister; vermutlich spielt auch der Titel der „Nürnberger Reise“ auf die „Italienische Reise“ Goethes an.
Am exponiertesten tritt Goethe im „Steppenwolf“ auf. Dort träumt Harry Haller von einer Audienz bei Goethe.

Da stand der alte Goethe, klein und sehr steif, und richtig hatte er einen dicken Ordensstern auf seiner Klassikerbrust. Immer noch schien er zu regieren, immer noch Audienzen zu empfangen, immer noch die Welt von seinem Weimarer Museum aus zu kontrollieren. Denn kaum hatte er mich erblickt, so nickte er ruckend mit dem Kopf wie ein alter Rabe und sprach feierlich: „Nun, ihr jungen Leute, ihr seid ja wohl mit uns und unseren Bemühungen recht wenig einverstanden?“
„Ganz richtig“, sagte ich, von seinem Ministerblick durchkältet. „Wir jungen Leute sind in der Tat nicht mit Ihnen einverstanden, alter Herr. Sie sind uns zu feierlich, Exzellenz, und zu eitel und wichtigtuerisch und zu wenig aufrichtig. Dies dürfte das Wesentliche sein: zu wenig aufrichtig.“

[aus „Steppenwolf“ WA 7 S.281]

Haller wirft Goethe vor, er habe seine Existenz nur dazu benutzt,
„um den Augenblick zu verewigen, den Sie doch nur mumifizieren konnten; um die Natur zu vergeistigen, die Sie doch nur als Maske stilisieren konnten.“

Daraufhin antwortet Goethe lächelnd:
„Mein Junge, du nimmst den alten Goethe viel zu ernst. Alte Leute, die schon gestorben sind, muß man nicht ernst nehmen, man tut ihnen sonst unrecht. Wir Unsterblichen lieben das Ernstnehmen nicht, wir lieben den Spaß. Der Ernst, mein Junge, ist eine Angelegenheit der Zeit; er entsteht, soviel will ich dir verraten, aus einer Überschätzung der Zeit. Auch ich habe den Wert der Zeit einst überschätzt, darum wollte ich hundert Jahre alt werden. In der Ewigkeit aber, siehst du, gibt es keine Zeit; die Ewigkeit ist bloß ein Augenblick, gerade lange genug für einen Spaß.“[aus „Steppenwolf“ WA 7 S.284]

 

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juergen

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