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Zarathustras Mitleid

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In meinem Traum traf ich am Bahnsteig auf einen Mann. Ich hörte schon von weitem die Schritte auf den kalten Beton klatschen, in einer vielsagend hohen Frequenz: Da hat es jemand eilig! Er rannte, wie von einer Einheit riesiger, sabbernder Kampf-Roboter-Insekten verfolgt, sprang die letzten Stufen der Treppe herunter, und fetzte weiter in meine Richtung. Nur er und ich waren hier unten, und die U-Bahn war drauf und dran abzufahren, die letzte für heute Abend. Er hatte einen verzweifelten Gesichtsausdruck, und doch funkelten mich seine Augen voll kämpferischer Hoffnung an. Das bedrohliche Zischen der ungeduldigen Bahn hinter mir. Vielleicht liegt seine Frau im Krankenhaus, vielleicht muss er einen Flug erwischen, vielleicht geht es um Liebe, Arbeit, sein Leben? Aber warum sucht er sich gerade die Tür hinter mir aus? Sein Gesicht hatte etwas Sympathisches, Nettes, wir hätten Freunde werden können, und doch schien er alles von dem Erreichen seines Termins abhängig zu machen. Die letzten Meter, er glaubt sein Ziel fast erreicht, und die Endorphine in seinem Körper zaubern den Glanz der Erleichterung auf sein Gesicht. Fast kann ich ihn schon riechen, seinen Schweiß der mir entgegenspritzen wird. Noch drei Schritte, zwei Schritte, ein Schritt...
Er liegt der Länge nach auf dem harten Boden, seine Knie aufgeschrammt auf Höhe der Sicherheitsabstandslinie, sein Kopf auf dem unbequemen Randstein. Das Blut seiner Nase ist im Gesicht verschmiert und tropft auf die Gleise. Ich habe ihm ein Bein gestellt. Ich hatte Mitleid. Abfahrt.

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