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Spritztour

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Dass es so einfach sein würde, hatte er nicht gedacht. Es war der dritte Tag seiner Fahrt, als er sie am Straßenrand gesehen hatte. Es hatte geregnet und sie war froh, dass jemand anhielt, um sie mitzunehmen. Ihr Name war Joy, aber wahrscheinlich war das nicht ihr richtiger Name.
„Und wie heißt du?“ hatte sie gefragt.
„Ich heiße Ed.“
Auch das war nicht wahr, aber sie schien es zu glauben.
Allmählich breitete sich der Tag mit seinem Licht über der Landschaft aus. Der graue Asphalt war noch nass vom Regen und ein paar zerstreute Wolken zogen über den blassblauen Himmel. Sie hatten nicht viel gesprochen, Joy hatte geschlafen und er hatte sich aufs Fahren konzentriert.
„Wie wär’s mit Frühstück?“ fragte er.
Sie gähnte herzhaft und war einverstanden. Er fuhr auf das Gelände einer Tankstelle, neben der ein Diner stand. Auf dem Parkplatz standen vornehmlich Lastwagen, aber es herrschte nicht viel Betrieb. Ed parkte den Wagen, Joy griff nach dem Kleineren ihrer beiden Rucksäcke und stieg aus. Er wartete und betrachtete sie, wie sie ausstieg. Eine rot gefärbte Strähne zog sich durch ihr hellbraunes Haar. Sie streckte sich auf dem Parkplatz und er musterte ihr Gesicht, ihre Brüste, die sich unter dem grauen T-Shirt abzeichneten, ihren Hintern in der engen, tief sitzenden Cordhose. Sie war jung und hübsch und es wunderte ihn, dass sie allein unterwegs war. Schließlich zog er den Schlüssel ab und stieg aus.
Im Diner gab es noch viele freie Tische so früh am Morgen. Sie setzten sich und bestellten ihr Frühstück. Er nahm einen großen Schluck Kaffee. Er war müde und hungrig. Bis die Bedienung das Frühstück brachte, hatten sie geschwiegen. Joy spielte mit einem aus Leder geflochtenen Armband.
„Du bist nicht von hier, oder?“ fragte sie
„Was meinst du? Nicht aus Montana?“
„Nein, ich meine, du kommst ursprünglich nicht aus den Staaten, oder?“
Er lächelte.
„Ursprünglich komme ich aus Ungarn, aber ich hab schon in mehreren Ländern gelebt.“
„Wow, Ungarn. Wie ist es da so?“
Er zuckte die Achsen.
„Na ja, ich war noch klein, als meine Eltern weggezogen sind.“
Die Wahrheit war, dass er noch nie in Ungarn gewesen war.
„Und wo kommst du her?“ fragte er nun, um von sich abzulenken.
„Portland“, sagte sie als falle es ihr schwer, das zuzugeben. „Vorher haben wir in New Jersey gewohnt, aber als meine Eltern sich haben scheiden lassen, bin ich mit meiner Mom nach Portland gezogen. Nach der Schule hab ich’s da einfach nicht mehr ausgehalten.“
Er nickte verständnisvoll.
„Jetzt will ich erstmal meinen Dad besuchen und dann, mal sehen… vielleicht aufs College gehen.“
„Und du bist ganz alleine unterwegs?“
Sie nickte beim Kauen.
„Findest du das nicht gefährlich?“
„Ach, was. Ich bin schließlich kein kleines Kind mehr. Außerdem weiß ich, wie man sich wehrt.“
Sie zog ein Messer aus dem Rucksack und ließ die Klinge herausspringen. Er zog die Augenbrauen hoch und sagte lachend:
„Pass bloß auf, dass du keinem damit wehtust.“
Sie steckte das Messer weg und sie beendeten ihr Frühstück. Er bot ihr eine Zigarette an, aber sie lehnte ab, also rauchte er allein, obwohl es verboten war.
„Und wie kommt es, dass du durch Montana fährst und Tramper mitnimmst?“
„Ich hatte einfach Glück; ich habe von einem entfernten Verwandten geerbt und meinen Job hingeschmissen. Jetzt will ich irgendwo bei den Great Lakes eine Pension aufmachen.“
Seine Geschichte war lückenlos, wie immer.
„Hört sich gut an“, meinte sie. „Ich will später mal mit Kunst mein Geld verdienen.“
„Ach ja? Interessant.“
Nein, nicht wirklich. Wie viele hatte er schon getroffen, die davon schwärmten, später berühmte Maler, Musiker oder Schauspieler zu sein. Er fand das lächerlich. Wenn die Naivität dieser Kinder sich bewahrheiten würde, gäbe es längst nicht genug Museen und Filmstudios für all diese „Talente“. Es langweilte ihn schlichtweg. Alle wollten Berühmtheiten werden und endeten später mit einem Job bei der Bank oder bei einer Versicherung. Armselig.
Trotzdem hörte er mit gespieltem Interesse zu und wenn sie eine Frage an ihn richtete, hatte er immer die passende Antwort parat.
„Ich zahle, ich lade dich ein“, sagte Ed, als sie die Raststätte verlassen wollten. Er sah ihr hinterher, als sie zum Ausgang ging, während er auf das Wechselgeld von der Bedienung wartete. Sie war die Richtige, da war er sich sicher. Außerdem war sie weit weg von zu Hause und es wusste wohl kaum jemand, wo sie sich aufhielt. Er konnte sich alle Zeit der Welt lassen und im Moment war er noch bereit abzuwarten.
Als sie wieder unterwegs waren, fragte er sie:
„Hast du dir eigentlich überlegt, wie du nach New Jersey kommen willst?“
„Na, per Anhalter wie bisher auch. Ansonsten kann ich auch mit `nem Greyhound fahren.“
„Brauchst du vielleicht Geld?“
Er sah kurz zu ihr herüber und schob schnell hinterher:
„So meinte ich das nicht. Ich könnte dir nur mit ein paar Dollar aushelfen, für eine Fahrkarte oder so. Ganz ohne Hintergedanken natürlich.“
Sie sah immer noch etwas skeptisch aus.
„Ich denke, ich komme schon klar, aber danke für das Angebot.“
Ausgezeichnet, dachte er. Er genoss es, zu spüren, wie sich alles zu seinen Gunsten entwickelte. Doch er durfte nicht zu viel Skepsis heraufbeschwören. Sie durfte nicht zu ängstlich werden und das Vertrauen verlieren. Aber er hatte an alles gedacht.
„Wenn ich mein Hotel in der Gegend aufmache, kann ich auch meinen Sohn öfter sehen. Er wohnt bei seiner Mutter in Chicago. Willst du mal sehen?“
Er fingerte nach seiner Brieftasche, zog ein Foto hervor und reichte es ihr. Auf dem Bild grinste ein elfjähriger Junge mit leicht zotteligen Haaren in das Gesicht des Betrachters.
„Er heißt Jason wie sein Großvater, mütterlicherseits. Er liebt Baseball. Wenn ich in öfter sehen kann, können wir zusammen üben, dann wird er vielleicht ein richtig guter Spieler auf der High School.“
Das zog immer. Zwar gab es solche, die keine Kinder mochten, aber einen liebenden Vater empfand keine von ihnen als bedrohlich. Er hatte bei Joy alles richtig gemacht. Wer der Junge auf dem Foto war, wusste er nicht, er hatte einfach das Bild einer Werbeanzeige eingescannt und auf Fotopapier ausgedruckt. Wenn er wollte, konnte er bis zu sieben Kinder haben.
„Scheidungen sind `ne schlimme Sache“, sagte Joy, „das weiß ich aus eigener Erfahrung.“
Ed nickte heftig.
„Ja, und bei Gott, ich hätte alles getan, damit es nicht so weit kommt, aber meine Frau, meine Ex-Frau… na ja.“
Sie gab ihm das Foto mit einem mitleidigen Blick zurück. Innerlich frohlockte Ed. Er hätte einen erstklassigen Schauspieler abgegeben, doch Hollywood musste auf ihn verzichten, seine Berufung war eine andere.
Joy betrachtete die Landschaft, die vor dem Fenster vorbei flog. Derweil dachte Ed darüber nach, wie es weitergehen sollte.
Mittags aßen sie an einer Raststätte und dann ruhten sie sich von der anstrengenden Fahrt aus. Ed hatte im Schatten geparkt, etwas abseits von den anderen Autos. Die von der Klimaanlage generierte Kühle war sehr angenehm und so schliefen beide nach wenigen Minuten ein.
Als Ed erwachte, schlief Joy noch immer auf dem Beifahrersitz. Ihr Atem ging ruhig, gleichmäßig hob und senkte sich ihre Brust. Er streckte seinen Finger nach ihr aus, doch er widerstand der Versuchung mit der Hand unter ihr T-Shirt zu fassen. Stattdessen verharrte seine Hand leicht zitternd über ihrer Hüfte, bis er sie schließlich wegzog. Leise stieg er aus und schloss die Türen ab.
An der Theke bestellte er einen Kaffee und setzte sich so, dass er den Wagen im Blick hatte.
„Na, wo wollen Sie denn hin, Mister?“ fragte ihn die Bedienung, als sie nachschenkte.
„Wir sind auf dem Weg zu einer Familienfeier in Denver; meine Mutter feiert ihren Achtzigsten, da kommen alle mal wieder zusammen.“
Die Bedienung lächelte.
„Möchte Ihre Tochter vielleicht auch etwas trinken?“
„Oh, sie ist meine Nichte, aber ich glaube, wir lassen sie besser noch etwas schlafen.“
Sie entfernte sich. Ein Beamter der Highway Patrol betrat das Lokal. Er setzte sich an die Theke und sah sich um, nachdem er Kaffee und ein Stück Kuchen geordert hatte. Ed war auf dem Weg zum Ausgang, als er Polizist ihn ansprach:
„Der weiße Ford auf dem Parkplatz, ist das Ihrer?“
Ed nickte.
„Er fiel mir auf, weil er ein Washingtoner Kennzeichen hat.“
„Es ist ein Leihwagen, ich habe ihn in Seattle gemietet.“
„Könnte ich die Papiere sehen?“ fragte der Polizist, ohne die Kuchengabel beiseite zu legen. Ed holte die Papiere hervor.
„Stimmt etwas nicht?“
„Nein, nein, wir sind nur sorgfältig. Keine Angst, es ist bloß eine Routineüberprüfung.“ Als er alles kontrolliert hatte fügte er hinzu: „Tja, dann gute Fahrt, Mr. Jefferson.“
Er reichte Ed die Unterlagen.
„Danke, Sir. Einen schönen Tag noch.“
Ed stieg wieder in den Wagen. Joy war mittlerweile aufgewacht.
„Wo warst du?“
„Nur kurz was trinken.“
„Weißt du, Ed, es war echt nett von dir, mich so weit mitzunehmen und mir das Essen auszugeben, aber ich glaube, es wäre unfair von mir, deine Hilfsbereitschaft noch weiter auszunutzen.“
„Ach, was. Das war doch nicht der Rede wert. Ich nehme dich auch gerne noch weiter mit, aber natürlich will ich dich nicht zwingen. Mir macht es nichts aus, ein bisschen Gesellschaft zu haben.“
„Er setzte sein freundlichstes Lächeln auf.
„Das ist echt nett von dir, aber ich weiß nicht…“
„Bis Chicago kann ich dich mitnehmen, da fahre ich sowieso hin. Ob nun einer oder zwei hier drinsitzen ist da auch egal.“
Es standen fast nur Trucks auf dem Parkplatz und die meisten Fahrer sahen nicht wie Bilderbuchreisegefährten aus. Joy wollte ihn wirklich nicht ausnutzen, aber wie sollte sie so schnell jemanden finden, der sie bis nach Chicago mitnahm?
„Also gut, wenn es dir nichts ausmacht, komme ich mit bis nach Chicago und ich gebe dir…“
Sie suchte in ihrem Rucksack.
„…fünfzig Dollar dafür. Ich weiß, das ist nicht viel, aber ich bin leider etwas knapp bei Kasse.“
Sie sah ihn an, als würde sie ihn um Verzeihung bitten. In seinem Inneren erklang ein dreckiges, diabolisches Lachen. Es war wirklich zu einfach. Nach außen hin lächelte er väterlich und lehnte das Geld ab.
„Du brauchst das sicher mehr als ich und außerdem wäre ich doch auch alleine nach Chicago gefahren.“
Joy freute sich, ohne Zweifel, aber das würde sich bald ändern. Er genoss es, den Verlauf der Geschehnisse ganz nach seinem Belieben zu verändern. Er war der Regisseur, der ihr sagte, was sie tun sollte – und sie tat es freiwillig. Er hatte sie nicht gezwungen, weiter mit ihm zu fahren. Sie hätte einfach gehen können. Er warf einen Blick auf sie, sie sah müde aus, aber bald war ihre Fahrt zu Ende. Bei dem Gedanken spürte er plötzlich etwas Neues. Etwas war anders dieses Mal. Mit einem Mal war er sich nicht mehr so sicher. Er versuchte, sich an die anderen zu erinnern, aber das war alles Vergangenheit. Er fühlte sich schmutzig, müde und alt.
„Scheiße, verdammt“, murmelte er.
„Alles okay?“ fragte Joy.
„Ja, alles bestens. Ich muss nur mal kurz anhalten.“
Er nahm die nächste Ausfahrt und verließ die asphaltierte Straße nach einer Weile und bog in einen Feldweg ein.
„Ich dachte, du wolltest anhalten?“
Er sah sich um. Keine Häuser in der Nähe, niemand war zu sehen. Er hielt an.
„Was ist los?“ fragte sie unruhig.
„Keine Angst, dir passiert nichts. Ich will dir nichts tun, klar?“
Genau das waren die Worte, die ihre Panik auslösten. Sie versuchte hektisch, auszusteigen, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie wühlte in ihrem Rucksack, Tränen liefen ihre Wangen herunter. Er versuchte, sie zu beruhigen:
„Hey, es ist alles in Ordnung. Das Messer kriegst du wieder. Du kannst gehen. Dir passiert nichts.
Sie schrie und schlug mit dem Rucksack auf ihn ein, Blut lief in sein rechtes Auge. Er zerrte an seinem Gurt, aber er bekam ihn nicht los. Joy robbte über ihn hinweg und fiel auf der Fahrerseite aus dem Wagen. Sie rannte in Todesangst den Feldweg entlang. Ed rannte hinter ihr her.
„Hör mir doch zu“, rief er, als er sie eingeholt hatte.
Sie schleuderte ihm den Rucksack entgegen und plötzlich riss ein starker Schmerz ihn von den Beinen. Joy warf das Kantholz zurück ins Gras, griff ihren Rucksack und floh.
Nach einer Weile, während der er wie betäubt auf dem Boden gelegen hatte, rappelte er sich auf. Er blutete aus einer Platzwunde am Kopf. Das Auto stand noch mit geöffneten Türen am Wegesrand, Joy war verschwunden. Nach ein paar Minuten der Orientierungslosigkeit hob er das blutige Kantholz auf und trabte zurück zum Auto, wobei er halblaut vor sich hin fluchte. Wie konnte ihm nur so etwas passieren? Und das alles nur, weil er sich hatte irritieren lassen von – ja, wovon eigentlich? Mitleid, Angst? Egal, alles war schief gelaufen, nachdem er beschlossen hatte, sie laufen zu lassen. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten?
Im Auto lag noch Joys größerer Reiserucksack, er legte das Kantholz dazu. Mit dem Erste Hilfe-Set verband er seine Wunden. Er musste diese Sachen loswerden und schleunigst verschwinden. Aber vor allem musste er sich eine neue Geschichte überlegen – so glaubhaft wie die letzte.

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Daydreaming

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