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„Die Sonne tönt nach alter Weise…“

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Skizze aus dem Nordschwarzwald über die Sonnenfinsternis 1999


Wie junge Frösche hüpfen sie auf dem genässten Spiegelschwarz des Asphalts, einer nach dem anderen, unzählbar viele, und jeder wirft beim Aufprall einen winzigen Silberkreis auf. Wird diese Invasion von Regentropfen noch weichen? Wird das dunkelblaugraue, niedrig dahinjagende, feuchtigskeitsschwangere Wolkengewühle noch aufreißen, noch den Blick freigeben, wenn die Sonnenscheibe vom Mondschatten verschluckt wird?

Feiner Dunst steigt aus den kühlgrünen Wäldern; eine gelbgrau gebauchte Wolke schleift eine Regenschleppe quer über die Goldstadt Pforzheim. Das Rot der Dächer leuchtet nicht; die weichen Höhenzüge des Kraichgaus verschwimmen in einem undefinierbaren Magermilchblau; mit lappig trägem Flügelschlag rudern vier Krähen durch das Regenstieben dem nahen Waldrand zu. Noch bleibt Zeit, eine halbe Stunde, bis jenes Ereignis eintritt, das Adalbert Stifter vor mehr als 150 Jahren so eindrucksvoll beschrieben hat.

Was hatten die Meteorologen, diese Hohepriester der gern geglaubten Verheißungen, für unsere Breiten versprochen? Der Blick in das dichte, in vielerlei Grautönen marmorierte Wolkengeschiebe am Himmel weckt die immer wieder besänftigten Zweifel, ob die Wetterkundler ernsthafte Wissenschaftler seien oder doch eben nur lahme Propheten.

Nichts hüpft mehr auf dem Asphalt, vorüber ist der Regenschauer, nur an den verblassten Rosen kullern noch etliche Tropfen ab. Hoffnung keimt auf, denn ein keulenförmiges Loch hat sich gebildet oben in den Wolkenwirbeln; das strahlende Blau eines Madonnenmantels blitzt herunter. Noch ist die Sonne verborgen hinter einem düstergrauen Wolkenpaket, das aufgeschichtet wie ein Blätterhaufen dem Licht wehrt. Erwartungsfroh aber hellen sich die Mienen der Menschen auf.

So rasch wie das Loch sich mit neuem, diesmal silbergrauem Gespinst gefüllt hat und nun deformiert wird von bleigrau aufspringenden Wolkenpferden, die aus dem Westen heranjagen, ebenso rasch verfinstern sich wieder die Mienen. Ach ja, die Meteorologen mit ihrem Geschwätz von gestern.

„Da ist sie“ – und wirklich ist durch ein winziges Stück Wolkenvorhang eine schmale Sichel mit bloßem Auge wahrzunehmen. „Ja, und wo ist jetzt die Sonne?“ wendet sich ein besorgt wirkender Lehrerinnentyp an mich, „das da ist ja der Mond“. Fast Unglauben schwingt in der Stimme der Frau mit, die nochmals mit einer Rückfrage sich versichert, dass es tatsächlich die fast schon verdeckte Sonne gewesen ist.

Denn schon wieder hat ein breites Wolkenbett sich vor das Gestirn geschoben, und immer geringer wird die Aussicht, Goethes Worte aus dem „Prolog im Himmel“ im „Faust“ einmal selbst zu erleben: „Es wechselt Paradieseshelle mit tiefer schauervoller Nacht.“ Von wegen Helle – Pforzheim ist fast ganz in einem diesigen Taubengrau verschwunden, bloß auf einem weißschimmernden, hoch aufgetürmten Wolkengebirge Richtung WeilderStadt liegen die Glanzlichter der Sonne.

Das Zirpen der Grasmücken ist verstummt, der Tauber ruckst nicht mehr, unheilvoll vertieft sich über den Zacken des Waldrands die Wolkenwand zu einem tiefen Violettblau. Da fliegt sie auch schon heran aus dem Nordwesten, die Finsternis, verhüllt die Landschaft, entbleicht die Farben, wischt mit einem Riesenfinger den Glanz vom fernen Wolkengebirge.

Nacht ist es geworden, Blitzlichter blinken auf (was die Leute wohl fotografieren mögen?), eine seltsame Stille hat sich der Menschenschar bemächtigt. Nichts ist zu sehen von der totalen Sonnenfinsternis – nichts. Keine magisch leuchtende Korona, keine pulsierenden Protuberanzen am Sonnenrand – nichts. Nur die eigenartige Verfärbung erinnert daran, dass im Augenblick der Mondschatten unseren Lebensstern ganz bedeckt hat.

„Ist das jetzt die Sonnenfinsternis?“, zerschneidet eine quengelige Kinderstimme die Stille. Und schon lichtet sich das nächtliche Dunkel; das Grün der Bäume schält sich heraus; das erstorbene Rot der Rosen bekommt seine sommerliche Blässe wieder zurück; die Weissagung des Nostradamus vom Weltuntergang erweist sich als Chimäre; laut, fast überlaut, als sei der Bann gebrochen, sprechen die Menschen miteinander. Wieder zieht ein gelbgrauer Wolkenbauch seine Regenschleppe über die Goldstadt; aus einem winzigen, dunstverschleierten, hell aufgleißenden Viereck herab leuchtet eine schmale Sichel, ein höhnischer Gruß aus dem Weltraum – die Sonne wird wieder entfinstert.

Aber schon treffen erste Tropfen die Haut, kaum Zeit bleibt, den Regenschirm aufzuspannen, und auf dem Spiegelschwarz des Asphalts scheinen wieder die jungen Frösche zu hüpfen. Das Jahrhundertereignis der Sonnenfinsternis war kurze Düsternis, eingezwängt zwischen zwei Regenschauern. Und doch gibt die wiederkehrende Helligkeit jene Gewissheit und Sicherheit des „Prologs im Himmel“: „Die Sonne tönt nach alter Weise...“ – Auch ohne Meterologen.


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Sebastian

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