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Jimmy

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Erst wenn es dunkel genug ist, kann man die Sterne sehen.
Vielleicht war es für Jimmy noch nicht dunkel genug. Vielleicht sollte er einfach noch warten. Und das tat er. Täglich, stündlich, jede Minute.
Er schlief abends ein und wusste, wie der morgige Tag sein würde. Er würde einen Tag erleben, der einfach nur ein Tag war. Ein Ding, das er betrachtete, aber nicht erlebte. Er würde den Tag sehen, doch er würde ihn nicht fühlen. So wie er alles sah, aber nicht fühlte.
Er war 17 als alles begann. Damals konnte er nicht wissen, dass seine Traurigkeit gefährlich sein würde. Er lebte sie und er lebte sie mit Fassung, hatte doch stets die hoffende Gewissheit, er würde Herr über sie werden. Es vergingen Tage und Wochen und die Trauer, all der Schmerz, der auf ihm lastete, wurden seine Vertrauten. Er hütete sie wie ein Schatz, den niemand jemals finden würde. Mit der Zeit wurden sie wahre Freunde für ihn, denn er wusste, dass sie ihn nicht allein lassen würden. Sie wuchsen mehr und mehr zusammen und schließlich kam der Tag, an dem Jimmy komplett eins war mit seiner Traurigkeit.
Es war im Juni und die Obstbäume im Garten seines Hauses gebaren einen wunderbaren Duft. Ein Sommerduft, der süße Gerüche in seine Nase pflanzte.
Die Bienen versammelten sich um die weißen Blüten, saugten sie aus, um davon zu leben. Und im Hundezwinger kläffte Trixie, seine Schäferhündin, die ihn auf einsamen Waldspaziergängen ein treuer Begleiter gewesen war. Fast als Jimmy so etwas wie Frieden empfand, legte sich ein dunkler Schatten über ihn. Er schien ihn vollkommen zu umfassen, ihn zu umschlingen und Jimmy wusste, dass er nicht schaffen würde, ihm zu entkommen. Viel zu lange hatte er den Schatten wachsen lassen, viel zu lange war er sein Freund gewesen, ein Wegbegleiter, der ihn vor sich selbst geschützt hat. Wäre der Schatten nicht gewesen, würde er heute vielleicht glücklich sein; glücklich, dumm und blind. Es war nicht klar warum, doch was Jimmy am meisten hasste, war die Dummheit. Sie begegnete ihm ständig, sie erzeugte in ihm ein Gefühl von hässlicher Demut und Unverständnis. So erstarrte er also gänzlich in dem Moment, als er eins mit dem Schatten wurde. Dieses Mal hatte er keine Gelegenheit, ihn zu seinem Freund zu machen. Es gab keine andere Möglichkeit. Der Schatten wurde Jimmy und Jimmy wurde der Schatten.
Hier würde die Geschichte enden. Jimmy und seine ihn ewig begleitende Passivität würden wohl irgendwann eine quaderförmige Holzkiste unter der Erde teilen. Würmer würden sich in seine stinkende, verfaulte Haut bohren, würden sein Fleisch zerfressen und nur sein Schatten würde überleben. Doch aus irgendeinem Grund sollte es nicht so sein, möglicherweise wäre es zu einfach gewesen.
Jahr um Jahr verging und Jimmy wuchs und mit ihm die Schwere seiner Last. Seine Augen hatten diesen sonderbaren Ausdruck angenommen und ein Freund von ihm sagte einmal, sie würden so schwach und haltlos aussehen, dass man Angst haben müsste, sie würden aus ihren Augenhöhlen fallen.
Und obwohl Jimmy nie jemand besonders Dominantes gewesen war, ging seine Persönlichkeit doch im Laufe der Jahre unter, ja man könnte sogar sagen, sie löste sich in Leere auf.
Irgendwann trat Katie in sein Leben. Sie lief ihm eines Morgens vor sein Fahrrad, plötzlich und ohne dass er sie gesehen hätte. Er hat sofort erkannt, dass sein Vorderreifen ihren Rücken verletzt hatte. Zusammengekrümmt lag sie auf dem Bürgersteig, und schnell lief er zu ihr, um sie zu retten.
„Ihre Katze wird sich schon wieder erholen!“, sagte die freundliche Stimme der Tierärztin, als Jimmy schon die Tür zum Gehen geöffnet hatte. „Danke“, sagte er, „Das hoffe ich auch.“ Er legte Katie in einen Korb, den er sonst für seine Einkäufe verwendete, zog sich seine Jacke aus und wickelte sie um ihren zarten Körper, dessen Fell noch immer ein wenig vom Blut verklebt war. Voll Vorsicht trat er in die Pedalen seines Fahrrads, lenkte es auf den richtigen Weg zu seinem Haus. Er würde Katie behalten. Es war schlimm genug, dass er sie verletzt hatte, sie hatte es nicht verdient. So etwas hatte kein Tier dieser Erde verdient. Waren es nicht sie, die uns immer wieder aufs Neue zeigten, dass sie viel bewusster lebten als wir? Beobachte man nur mal einen Spatz, der in einer erwärmten Sandpfütze badet und sein Vergnügen mit dem ausgelassensten Zwitschern zur Schau stellt.
Jimmy nahm die Katze bei sich auf, und obwohl sich sein Gemütszustand nicht sichtlich besserte, hatte Katie doch einen bedeutenden Platz in seinem Leben, wahrscheinlich bedeutender als Katzen es bei glücklicheren Menschen haben. Sie war mehr für ihn als nur ein Tier, sie war jemand, der ihn verstand, der ihm Liebe schenkte, und was ganz wichtig war: dem er Liebe schenken konnte. Umso schlimmer war es, als er sich wieder von ihr trennen musste.
Er war mit Katie im Garten, er düngte gerade die feuchte Erde seines Rosenbeetes, als aus ihrer Kehle ein einziger betörender Schrei klang. Wie ein zu Tode erschreckter Vater sprang er auf und entdeckte die Katze wenige Sekunden später im Wasser seines Teiches. Völlig kopflos und in blinder Verzweiflung sprang er hinein. Es gab ein hohles Geräusch, als sein Schädel auf einen im Wasser liegenden Stein prallte und ein lautes „Blubb“ als sein Körper nur einen Augenblick später an die Oberfläche tauchte. Die vollkommen verängstigte Katie nutzte ihre Chance, kletterte auf Jimmys bereits toten Körper und rettete sich schließlich selbst. Für Jimmy hätte es keinen schöneren Tod geben können.

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Madaldi

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