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Gedankenschaukel

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Matt und von der Sonne ausgebleicht steht das grün-rote Schaukelgestell im Schnee. Das Grün würde von seiner Mattheit her eher in Grenzgebiete und Kasernen passen und das rot wurde durch die Unbarmherzigkeit der Sonne und vieler Jahre des Regens zu einem blassen Rosa, das nicht einmal mehr den Anschein seiner früher strahlenden und bestechenden Leidenschaft trug. Die Seilschaukel war schon vor Jahren heruntergenommen worden. Durch das Gewicht etlicher Kinder hatten sich die Seile abgenutzt und waren nicht mehr dick und sicher genug, um noch Tragfähigkeit zu gewährleisten. Die Schaukel, die in jahrmarktsähnlicher Manier aus zwei Sitzen samt Lehnen bestand, in denen man einem zweiten gegenübersaß, war zerstört. Die Sitzflächen zerbrochen und die Aluminiumrohre, die alles tragen sollten verbogen, und aus ihrer Verankerung gerissen. Die dritte Schaukel, sie ähnelt zwei Sätteln, die gegenüber aufgehängt worden waren, scheint noch intakt zu sein, doch auf einen Versuch dies zu beweisen hatte sich auch schon lange niemand mehr eingelassen. Erinnerungen an meine Schaukel, im Garten meiner Großeltern schießen mir ins Gedächtnis, Bilder von damals ziehen wie Gespenster vor meinem geistigen Auge vorbei, treten kurz ins Bewusstsein und erinnern mich an die schlaflose Nacht, derer auch die Träume fernblieben.
Die Realität der Gegenwart besteht aus Schnee, Zigarettenrauch einer Selbstgedrehten, der durch die kalte Februarluft Richtung Stratosphäre zieht und melancholisch-destruktiven Wünschen und Gedanken, bedingt durch niedrigen Blutdruck, Kopfschmerzen und einer Nacht, die außer viel Selbstzerwürfnis nicht viel zu bieten hatte. Kaum jemand ist zu sehen und es scheint auch wenig Verkehr auf der Autobahn zu herrschen, obwohl gerade der Beginn der Arbeitszeit wäre und man Geschäftigkeit an allen Ecken und Enden sehen sollte. Aber der Schnee scheint eben jene Geschäftigkeit zu schlucken. Eine Geschäftigkeit, die ich bitter nötig hätte um mich auf andere Gedanken zu bringen. Aber so ist es wohl nicht, mir bleibt diese Möglichkeit aus dem Sumpf der durchwachten Nächte und anderer gesundheitsschädlichen Begebenheiten und Aktivitäten auszubrechen verwehrt, genauso wie die Schaukel keine Möglichkeit mehr hat es zu verhindern, diesen Sommer abgebaut zu werden und schließlich fein getrennt in Plastik und Altmetall in Recyclingtonnen zu landen, wobei man ihre Schrauben, jene, deren Galvanisierung bis zuletzt standhielt und die noch nicht dem braunen Biss des Rostes zum Opfer gefallen sind, wahrscheinlich für andere Zwecke aufheben wird, obwohl sie, dank ihrer speziellen Eigenschaften, angepasst an das Gestell, solcherlei andere Zwecke nicht so einfach zugeteilt bekommen. Sie sind die Spezialisten, die Lebenskünstler unter den Schrauben, zu nichts außer zu einer Sache fähig, aber dennoch haben sie einen Platz in der Werkzeugkiste, selbst noch Jahre nachdem ihr altes Gestell längst nutzlos auf Altstoffsammelstellen herumgelegen ist und vielleicht eingeschmolzen und zu einer Bierdose oder einem Flaschenverschluss gemacht wurde. Sie allerdings, bleiben immer sie selbst, bestimmt nur durch ihre Art, nicht alleine durch ihren Zweck, der ja ab dem Zeitpunkt an dem das Gestell aufhört zu funktionieren null und nichtig erscheint, doch weil sie Schrauben sind und noch nicht gerostet, könnte man sie doch noch gebrauchen.
Ich kämpfe mit der Müdigkeit, der Übelkeit und einem bedrängenden Gefühl im Brustkorb, während der Schmerz sich durch meinen Kopf frisst und immer wieder Erinnerungen hervorzuholen scheint, die jene gewohnte allmorgendliche Zigarette schmecken lassen, als sei sie was sie ist: Pflanzenreste mit etwas Papier drum herum. Die Kälte frisst sich durch meine Daunenjacke, durch mein Hemd, durch meine Haut, durch mein Fleisch, bohrt sich allerdings nicht in die Knochen, sondern lässt sich darauf nieder und erweckt in mir ein inneres Zittern und Schaudern, das mich aber wenigstens für einige Minuten wieder in die wache Existenz zurückholt. Doch dann spüre ich wieder den Schmerz, die Erinnerungen, die Müdigkeit. Ich werde mir ein Schmerzmittel nehmen, auch wenn ich sie nicht mag, ich sehe sie als Zeichen von Willensschwäche an. Schmerzen muss man durchstehen. Doch da mich der Schmerz müde macht und Schlaf zwar nicht das letzte wäre was ich brauche, aber sicherlich das letzte was ich will, muss ich die Müdigkeit ergo den Schmerz bekämpfen. Und heute fehlt mir die Willensstärke dies psychisch zu meistern.
Wieder Erinnerungen bedingt durch neuerliches Betrachten des Schaukelgestells. Stolze, kräftige und liebevolle Hände hatten es erbaut um es Jahre später wieder einzureißen, wenn ihnen nicht ein Zusammenspiel von Zeit, Physik und Chemie oder die Willkür ein paar übermotivierter und unverstandener Jugendlicher zuvorkommt. Purer Tatendrang, gemischt mit gewollter Revolte und schlichtem jugendlichen Übermut können der Arbeit von Generationen der Gar aus machen, sie reißen ein, ohne zu wissen warum, sie reißen ein und denken nicht daran, wie leidenschaftlich das Rot war, wie satt und hoffnungsvoll das Grün. Sie haben die Kinder, die darauf schaukelten nicht lachen gehört, nein, sie waren diese Kinder. Sie rechnen mit der Vergangenheit ab, indem sie das Gestell samt Schaukeln zerstören, die Trümmer ihrer Kindheit bleiben im Schnee zurück. Diese Schrauben sind unbrauchbar geworden, sie verschwinden unter der Schneedecke und tauchen im Sommer wieder auf, indem sie die Schnittblätter eines Rasenmähers demolieren und somit in ihrer letzten Aktion wider ihrer Natur handeln und zerreißen, wo sie doch dazu gedacht waren zusammenzuhalten. Nicht alle Schrauben enden glücklich im Werkzeugkasten, doch keine beschließt ihre Existenz unvollbrachter Dinge, bis auf wenige Ausnahmen, doch von diesen Ausnahmen finden wir in diesem Gestell keine. Das Gestell als Sinn verstehen, als Mikrokosmos in einem Mikrokosmos, der sich als Makrokosmos versteht und aufspielt. Oder aufgespielt wird.
Wieder drehe ich ein Blättchen Papier mit Gummierung durch meine Finger, nachdem ich sorgfältig etwas Tabak hineingelegt habe. Meine Zunge streift die Gummierung, dabei dringt sie durch die kalte Luft und es beginnt mich am ganzen Körper zu frieren. Die Zunge ist da um Geschmäcker festzustellen, diese Luft hat keinen Geschmack. Sie ist nur kalt. Im Sommer schmeckt sie nach Sommer, im Frühling nach Frühling, im Herbst nach Herbst, aber im Winter ist die Luft nur kalt. Ich spüre wie mehr Blut in meine Ohren gepumpt wird um sie etwas aufzuwärmen, wie lange stehe ich nun schon hier? Bevor ich mir diese Zigarette anzünde hole ich mir das Schmerzmittel aus der Hausapotheke, mit den nassen Schuhen durchs Wohnzimmer, Schublade auf, Tablette aus der Verpackung gedrückt, Schublade zu, Wasser geholt, zurück auf den Balkon, Schuhe: immer noch nass. Die Tablette will nicht hinunter, sie hat bereits begonnen sich in meiner Mundhöhle aufzulösen, dreimal wollte ich sie schlucken, dreimal habe ich sie wieder heraufgewürgt, doch der vierte Anlauf glückt.
Der Briefträger stapft durch den Schnee, an dem Schaukelgestell vorbei, würdigt es keines Blickes. Er hat die Zeit schon hinter sich, als er sich noch an seine Kindheit zurückerinnert, er erinnert sich eher an die Tage zurück, als er rauchend auf seinem Balkon stand und sich an seine Kindheit zurückerinnerte, angeregt durch den Anblick eines alten Schaukelgestells, ein solches wie er einst hatte. Damals als er jung war und ihm die Welt offen stand, er wurde Briefträger, hätte aber vieles anderes zusammenhalten können. Er ist keine Gestellschraube, er hatte Optionen, die eine Gestellschraube nie haben wird und wenn wird sie nie richtig passen und nur durch gezielte und rohe Gewalt einen anderen Zweck annehmen, etwas anderes halten, doch nur unter Ächzen und Knarren aller beteiligten Teile. Sie zeihen das Dasein im Werkzeugkasten vor, unberührt, unbeschwertes Herumliegen anstatt in eine Bohrung gedrängt zu werden die ihnen überhaupt nicht passt. Man kann keine Löcher für Gestellschrauben bohren, die wirklich passen, es sei denn man ist der Hersteller der dazugehörigen Gestelle.
Auch diese Zigarette neigt sich langsam ihrem Ende zu. Das Schmerzmittel beginnt zu wirken und wie vorausgesehen verschwindet mit den Schmerzen auch die Müdigkeit, wenn auch nicht zur Gänze. Auch die Erinnerungen werden immer blässer und das Zittern nimmt einen vorrangigen Platz ein. Ich nehme den Rest der glühenden Pflanzenreste mit Papier drum herum und schnippe sie in Richtung des alten Schaukelgestells, öffne die Türe und begebe mich zurück in die Wärme, die wohlige Wärme meines Werkzeugkastens.

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NaimED

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