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Frühherbstleben

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Unzufrieden mit meinem Tagwerk und von einer inneren Unruhe getrieben, entschloss ich mich zu einem Abendspaziergang. Einfach unterwegs sein, ohne bestimmtes Ziel, ohne vorgegebenen Weg, nur um wieder dorthin zu gelangen, von wo man hergekommen ist.

Ich ging los mit einem kleinen Büchlein in der Tasche und der einzigen Absicht, an einem geeigneten Ort, etwa einer Bank oder einem umgefallenen Baum, halt zu machen und einige Zeilen zu lesen. Die letzten goldenen Sonnenstrahlen des Herbstes begleiteten mich auf dem Weg hin zum fernen Waldesrand. Lange Schatten kündeten die nahende Dunkelheit an und die Häuser, Strassen und Gärten waren in ein verklärtes, stilles Licht getaucht. In die Sonne blinzelnd sah ich ein älteres Ehepaar in einem der Gärten im hohen, feuchten Gras stehen, sich bücken und scheinbar Früchte des Apfelbaumes auflesen. Nebenan grasten friedlich einige schwarze Schafe auf einer Weide, und der Wind trug Stimmen von Menschen herüber, die von der Arbeit nach Hause kamen. So erlebte ich Augenblicke, wie kleine, aneinander gereihte Bildchen, von Haus zu Haus, von Garten zu Garten, einige Bildchen vertraut, andere neu und fremd.
Nach einer Kurve ging ich auf einer steinigen Forststrasse den bewaldeten Hügel hoch. Zwischen den Bäumen herrschte eine dumpfe Stille, durchbrochen von gelegentlichem Rascheln des Laubes. Hier und dort drang wenig Licht durch die welkend gelben Blätter, die an den leicht wogenden Ästen zitterten und auf die bevorstehenden Herbststürme warteten.
Der Weg führte aus dem Wald und ich sah nun von einer Anhöhe über die Wohngegend, den Häusern und Gärten entgegen. In den letzten starken Sonnenstrahlen zeigte sich das Fell der Schafe in einem dunkeln Braun, das alte Ehepaar war verschwunden, nur zwei Körbe voller Äpfel standen im Gras.
Ich hielt inne und staunte, wie die Dinge trotz dem eigentümlichen Licht deutlicher zu sein schienen. Die Verklärung des Herbstes, welche zuvor schleierhaft über der Welt gelegen war, wurde lichter und es offenbarte sich mir ein letztes Bild der Umgebung, mit scharfen Konturen und schönem Schattenspiel gezeichnet. Alles darauf wartend, von der Dunkelheit verschluckt zu werden.
Beim Sinnen und Zurückschauen strauchelte ich und wäre fast gestürzt. Wie an einem unsichtbaren Zug wurde ich sofort in das Jetzt zurückgerissen, darauf hin gelenkt, genauer auf den steinigen Weg zu achten. Vor mir zur rechten, abfallenden Seite lagen wieder erste Häuser am Hang und der Waldweg ging in eine asphaltierte Strasse über, auf der ich festeren Tritt fassen konnte. Hier oben waren die Menschen reicher, die Häuser grösser und die Gärten üppiger - der goldene Schein der Sonne aber wich einem orange- roten, unruhig flirrenden Licht.
Ich ging schneller und kam an einem festen Vorplatz vorbei auf dem zwei Kinder spielten, die wohl gleich von ihrer Mutter ins warme Haus gerufen werden würden. Der Lärm der Kinder durchdrang die Stille, hallte kurz nach und liess in mir tief und versteckt wie eine Erinnerung oder Wehmut anklingen.
Getrieben von der anbrechenden Nacht wollte ich meinen Gang gerade weiter beschleunigen, als ich vor mir am Himmel das letzte zarte Blau und Orange-lila sah. In zerstäubten Wolken. Fein und zart gezeichnet. Zerbrechlich. Sogleich verblasst.

Die Dunkelheit legte sich nieder, nicht lastend, sondern auflösend, liess Grenzen verschwinden, umspannte mich und trug mich nach Hause. Kurz kam mir noch mein mitgetragenes Büchlein in den Sinn, aber kein Wort hätte mir noch was sagen können. In mir aber regte sich eine leise und heitere Gewissheit, soeben gelebt zu haben.

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glasperlenspieler

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