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Die Flucht

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Es war später Sommer, da erwachte ich in einer kleinen Zelle in einem Gefängnis. Zusammen mit einem Herrn Markus Haase und jemandem der mir fremd war. In der viel zu kleinen Vermauerung kauerten wir und sprachen kaum ein Wort. Es war unerträglich kalt und feucht. Ich hatte keine Ahnung warum ich und die anderen eingesperrt wurden. Es war dunkel und wir hungerten und hatten brennenden Durst. Aus den anderen Zellen wurden Gefangene geholt und woanders wurden wieder welche gebracht. An einen unbemerkten Ausbruch war nicht zu denken. Kurz vor Mittag kam einer im schwarzen Mantel zu unserer Zelle, neigte sich zu uns und meinte: “Ihr seid zu intelligent! Ihr wisst zu viel. Ich muss euch jetzt mitnehmen.“ Er fesselte Markus, den anderen und mich, zerrte uns aus der Zelle und führte uns an einen nahegelegenen Fluss. Dort bereitete er einige Giftinjektionen in Spritzen mit verschiedenen Farben vor. Zuerst wollte er Markus das Gift verabreichen und ließ sich erstaunlich viel Zeit damit. Mein Herz schlug wie wild, ich wollte nicht sterben. Ich war jung und musste fliehen. Über den Fluss, der etwa 120 meter breit war! Entschlossen stieß ich den Schwarzmänteligen um, sprang in den Fluss und erreichte das rettende Ufer. Nun waren noch zwei Zaunartige Begrenzungen zu überwinden, wovon die erste sehr niedrig und gut zu überspringen war. Die zweite bot kaum eine Möglichkeit, einfach darüber hinweg zu klettern oder zu springen. Mit viel Glück fand ich eine schadhafte Stelle, durch welche ich schnell hindurchschlüpfen konnte.
Die anderen Wächter, auch alle in schwarzen Mänteln waren natürlich längst alarmiert. Sie ritten zu Pferd über eine Brücke um mich zu erreichen, doch ich war schon im nächsten Waldhain verschwunden und habe mich auf einem Baum versteckt. Keiner hat mich gesehen. Nach langem warten, längst nachdem ich von den Reitern nichts mehr hören und sehen konnte, stieg ich mit steifen Glieder den Baum hinunter. „Markus!“ dachte ich bei mir. Was wohl mit ihm und dem anderen geschehen ist? Ich war jedenfalls frei, warf mich auf den Boden und sog den Duft der Freiheit und dem Moos und der Erde ein, ich war frei, musste noch nicht sterben. Tränen liefen über meine Wangen und lange lag ich so da mit geschlossenen Augen.
Im Schutz der Dämmerung machte ich mich leise und geduckt auf den Weg. Fort vom Gefängis und den schwarzen Mänteln. Die Gegend war mir völlig unbekannt, trotzdem versuchte ich die nächste Stadt oder das nächste Dorf zu erreichen, um etwas zu essen und mein großen Durst zu stillen.

In Spuk, einem größeren Dorf, traf ich in einer Spelunke auf Markus und den anderen, namentlich Hans. die Freude war groß. Sie konnten leicht fliehen, weil alle Wächter mit der Flucht des einzelnen Gefangenen, (das war wohl ich) beschäftigt waren. Glücklich über das Wiedersehen, berieten wir die ganze Nacht, wie wir aus diesem Land unerkannt entkommen könnten. Meine Idee war ganz einfach: „Wir fahren mit einem Boot den Fluss hinab, bis in ein anderes Land.“ Gesagt getan, zusammen mit ein paar anderen Flüchtlingen besorgten wir ein Boot. Ich bestimmte einen Kapitän und am nächsten Abend reisten wir mit einigen Laib Brot und etwas Wurst in anderes Land. Mit vielen Decken versehen konnten wir uns gut verstecken und größtenteils ungesehen fahren. Unser Kapitän war der einzige der den Kahn immer im Wind hielt. Flussabwärts kamen wir gut voran, machten hier und da Rast in einer Stadt. Oft doch waren aber wieder viele Mantelmänner scheinbar nach uns auf der Suche. Mir kam es so vor, als wüte eine unheilbare Krankheit in diesem Land, der Schwarzmanteltod.
Die größte Zeit verbrachten wir jedoch auf unserem Boot, aßen und schliefen auf dem Wasser. Es war eng, aber ich gewöhnte mich daran. Mit der Zeit wuchs der Fluss zu einem mächtigen Strom und nicht viel später zu einem riesigen See heran, welcher sich kaum überschauen ließt. Unser Kapitän wurde unruhig, als die Wellen immer bedrohlicher an unsere kleine Schale klatschten. Einige Male drohte uns das Wasser überzuschwappen.
Nach Zwei Tagen erreichten wir ein Ufer an dem eine alte Hafenstadt lag. Sonderbar standen hier die Häuser auf Stelzen über dem Wasser; man konnte zwischen ihnen hindurch fahren, zwischen manchen waren hölzerne Seilbrücken gespannt. In einer kleinen Bucht, umgeben von den vielen kleinen, schwebenden Häusern, erlöste uns ein feiner Anlegeplatz vom langen Suchen. Völlig durchfroren und vor Nässe immer noch triefend, kehrten wir in eine Raststätte mit einer Wohnmöglichkeit ein. Die Dame am Empfang, eine junge, schlanke Dame mit hellrosa Wangen, höchstens 25 Jahre alt, musterte uns langsam von oben nach unten und war sichtlich amüsiert über unser Auftreten. „Sowas! Das haben wir gleich“. Sie führte uns in einen Waschraum, stellte Seife und Handtücher bereit und verschwand mit den Worten: „Alles andere später, bis nachher bitte“. Der große schwarze Kessel enthielt genug warmes Wasser für uns und wir wuschen unsere kalte aufgedunsene Haut. Die nassen Sachen hängten wir vorerst auf eine Leine im Waschraum. Kaum waren wir alle fertig, so erschien die Empfangsdame mit einigen Morgenmänteln, die wir als Ersatz für die nassen Sachen tragen durften. Sie sagte: „Wir wollen jetzt alles übrige bereden“. Sie ahnte wohl, daß wir die Nacht gerne im warmen verbringen möchten. Mich überlief ein Schauer, weil ich genau wusste, daß wir nicht das nötige Geld hatten. Unser Kapitän wusste es genauso, er hat jedoch die Hübsche zu überreden vermocht, vorerst mit einer kleinen Anzahlung vorlieb zu nehmen.
Unser Kapitän war ein Mann von kluger strenger Art, der kaum ein Wort mit uns sprach, aber dennoch uns Flüchtlinge mit seinem Wesen zusammenhielt.
Im Gasthaus war kein Verkehr, darum setzten wir uns mehr oder weniger unbekümmert in die dämmrige Speisestube.
„Um diese Jahreszeit sind selten Gäste in unserem Haus, guten Tag die Herren, was solls denn sein?“
Ohne auf eine Antwort zu warten brachte uns eine ältere korpulente Wirtin jedem ein Glas Bier und ein Stück Brot mit Gänsefett.
„Für wahr, das Wetter draußen ist nicht nett, weshalb, wenn man fragen darf, sind die Herren denn unterwegs?“
Die dicke Wirtin schaute uns mit neugierigen Augen an.
Endlich sagte der Kapitän, nachdem er sein Glas mit einem Zuge leerte:
„Wir kommen von einem Dorf namens Spuck und sind entlang des Flusses ungefähr einhundert-und-fünfzig Kilometer gefahren. Das Wetter hier kannten wir vorher nicht. Bitte noch ein Glas Bier!“.
Die Wirtin fragte nicht weiter, brachte ihm ein neues Glas und blieb neugierig hinter ihrer Theke und belauschte unsere Gespräche.
Nachdem wir nun gesättigt waren, konnte keiner mehr die Müdigkeit verbergen die uns in Knochen stak. Die Frau vom Empfang brachte uns in einen Raum mit mehreren Matten und verschwand daraufhin, ohne mit uns Müden zu plaudern. Ich dachte noch an die Wirtin, ob sie die Ungewissheit, warum wir in dieser Jahreszeit auf dem Wasser sind weiter hegt und uns vielleicht anzeigt? Ach quatsch. Ich wieder mit meinen Hirngespinsten. Das muss man sich ja mal überlegen... anzeigen.

Ja, am nächsten morgen standen auch schon die Polizeier vor unserer Zimmertür, wieder im schwarzen Mantel, und ohne zu fragen nahmen sie uns fest. Jeder wurde geknebelt und auf ein Pferd gebunden. Wenig später erreichten wir ein Gefängnis, eine Festung, die man als Gefängnis umgebaut hatte. Man sperrte uns in verschiedene Teile der Gebäude um eine Kommunikation unmöglich zu machen.
Die Hinrichtung, so wurde mir gesagt, würde am nächsten Tage stattfinden und der Direktor wäre persönlich dabei. Ich versuchte mir einen Plan auszudenken, aber die Situation ließ keine klaren Gedanken mehr zu. Somit verbrachte ich die Nacht mit einem wenig erholsamen Halbschlummer. Mein Gewissen aber sprach immerzu:
„Morgen schon müsstest du einen Plan haben, sonst ist es aus mit dir!“ Mir fiel auch am frühen Morgen nichts Gescheites ein, aus dieser Festung konnte man einfach nicht fliehen. Als es draussen richtig hell wurde, begann auch das Treiben; man baute Galgen auf und schuf Tribünen für Zuschauer. Eine Giotine für Köpfe und Hände stand schon seit gestern bereit, man zog nun das Messer in die Höhe und zurrte das Seil an einem Galgenbalken fest.
Der Direktor, ein Mann in einem orangenen, edlen Mantel verteilte kurze Befehle und Anleitungen an die Aufbauenden und schritt danach zügig zu einem Eingang und verschwand. Quälende Stunden vergingen in denen ich in meiner Zelle auf und ab ging und versucht mit meinem kurzen Leben abzuschließen. Es müsste wohl ein Wunder geschehen, um hier lebendig herauszukommen. Schließlich wurden die Gefangenen nacheinander an einem gesonderten Platz etwas abseits der Zuschauertribünen versammelt. Einigen wurden Ketten umgelegt andere durften frei stehen. Nun war ich an der Reihe. Ein Schwarzbemantelter öffnete meine Zelltür und führte mich ohne Ketten durch einen Kellergang und eine Treppe hinauf zu den anderen Gefangenen. Ein kleiner Junge, er mochte zehn Jahre alt sein, sah mich an und in seinem Gesicht lag lauter kindliche Verzweiflung und Hoffnung. Ich nahm ihn zu mir und fragte, warum er denn hier gefangen sei.
„Man hat mich eingesperrt, weil ich geflucht und gestohlen habe. Nun, nun werden mir die Hände abgeschlagen.“
Er merkte mir wohl an, daß ich mich diesem Schicksal nicht einfach so fügen würde, wie alle hier.
„Wenn die Zuschauer über die Hauptbrücke in die Festung kommen, dann werden wir sehen, wie wir hier fortkommen!“ Sagte ich und nahm somit dem Jungen ersteinmal die gröbste Angst. „Wenn es irgendwie möglich ist, müssen wir uns unter die Zuschauer mischen und dann unbemerkt mit ihnen die Festung verlassen.“ Zu unserem Glück kamen so viele Leute, daß die Tribünen nur zur Hälfte ausreichten. Die Menschen drängten sich bis zu uns Gefangenen; sie bespuckten und warfen mit mitgebrachten Eiern nach uns, bis es einen der Wächter störte und er dazwischenging.
Der Direktor in orange betrat jetzt ein Podest auf dem Galgenplatz und eröffnete die Feier des Tages mit ein paar Worten. Währenddessen schauten die meisten Leute, auch die Wächter zum Direktor und wir, da wir ja nicht angekettet waren konnten uns unbemerkt hinter den Zuschauern unter eine Tribüne retten. Jetzt hieß es abwarten, bis sich ein geeigneter Moment zur Flucht darböte. Durch die vielen Beine der vielen Menschen konnten wir (zum Glück) nicht viel sehen. Ich glaube dem Jungen ist dabei viel erspart geblieben. Nachdem nun die meisten Gefangenen gehängt oder geköpft wurden, holten die Wächter noch einige andere Gefangene aus ihren Zellen. Darunter der Kapitän und Markus, weiter konnte ich keinen erkennen. Da spielten sich vor meinem inneren Auge die zwei Sturmtage auf dem großen See wieder ab und mir wurde ganz elend zumute, als ich meine Kameraden am Galgen wußte. Doch wir konnten nichts für sie tun. Tränen liefen mir beide Wangen herunter und nur der Junge war Trost in diesem verfluchten Land. Ich durfte gar nicht daran denken. Sonderbar, es war der Überlebenswille, der mich meine Freunde später hat vergessen lassen, oder war ich ein großer Egoist? Nein, ich musste mit dem Jungen hier raus, da war nichts mehr zu machen für sie.

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tommy

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