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Die Bestie

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Die Dunkelheit war voll von stöhnenden und wimmernden Lauten, vom Schaben der Leiber über den rauen Fußboden. Sie war auch voll vom Geruch von Schweiß, Fäule und Exkrementen – und schließlich Angst. Keiner der Anwesenden wusste genau, welches Grauen ihm noch bevorstand. Doch die Ahnung, die Geschichten, die sie gehört hatten – die sie womöglich einst als Märchengeschichten verlacht hatten – und die Vorstellung, die ihrer Fantasie entwuchs, reichten wohl nah an dieses Grauen heran. In der Dunkelheit war es schwer auszumachen, wie viele Menschen hier zusammengepfercht waren. Fest stand nur, dass die Frauen nicht hier untergebracht wurden. Ab und zu stritten körperlose Stimmen über Belangloses. Man versuchte, sich so gut es ging einen Platz zu verschaffen, der es erlaubte, sich in eine einigermaßen bequeme Haltung zu begeben, ohne jedoch dabei einen der Anderen so einzuschränken, dass zwangsläufig ein Streit begann. Die zu bewerkstelligen stellte sich als äußerst schwierig heraus, denn zum einen war man durch die schlechten Sichtverhältnisse in der Voraussicht seiner Handlungen eingeschränkt, zum anderen gab es einfach nicht genug Platz im Raum, dass jeder sich komfortabel hätte unterbringen können. Die Stärkeren verdrängten die Schwachen und nahmen sich den Platz, den sie für angemessen erachteten, während die Schwächeren sich in Haufen zusammenkauerten. Warum sollte es hier drin anders sein als sonst auf der Welt?
Zwischen dem leisen Gemurmel der Betenden, den Flüchen der Getretenen und dem Stöhnen der Geschundenen war von Zeit zu Zeit das Rascheln und Trippeln und Piepsen von Ratten zu vernehmen. Ich saß an die Wand gelehnt, die Beine angezogen und gekreuzt – so lange schon, dass sie ganz taub waren, neben mir hockte ein Junge, der flüsternd um sein Leben und das seiner Familie flehte. Zuerst hatte er auch geweint, doch seit ein paar Stunden – oder waren es Tage? – flüsterte er nur noch.
Ganz still waren alle, bis auf die Ratten, nur, wenn irgendwo im Trakt Schritte oder der Knall einer aufgerissenen Tür zu hören war. Dann war kurz nichts zu hören, dann folgte meist ein Schreien und Jammern, bevor die Tür wieder mit lautem Knall zuflog. Dann wieder Schritte und noch immer das Schreien und Jammern. Oft knallte eine Peitsche, was das Jammern kurz unterbrach, doch schwoll es danach noch zu ärgerem Geheul an. Einige Male kamen die Schritte auch an unserer Tür vorbei und es wurde so still, dass man das Pochen der Herzen wie Trommelschläge hören konnte. Nach einiger Zeit, in der sich die Schritte und das Wehklagen sich weiter entfernten, hörte man ein Knarren und Quietschen, wie wenn ein großes, schweres Tor geöffnet wird. Es folgte ein Knurren, das fernem Donnergrollen glich. Danach verstummte das Klagen, dafür waren dumpfe Aufschläge zu hören und manchmal ein lang gezogener, schriller Schrei. Darauf folgten schwere Schritte, jedoch wie von bloßen oder gepolsterten Füßen. Erneut das Quietschen und Knarren, Schritte, die sich entfernten und dann nichts mehr. Stille. Die Stille hielt noch lange an. Alle horchten gebannt, ob sich wieder Schritte näherten – ob sie gar direkt auf unsere Tür zukämen. Doch es blieb still, bis irgendwann die normale Geräuschkulisse der Zelle wieder einsetzte. Sie holten immer nur einen am Tag, aber ein Greis, der behauptete schon seit Jahren sein Dasein in diesem Kerkerloch zu fristen, hatte erzählt, die Bestie habe einmal nicht nur fünf Opfer an einem Tag bekommen, sondern diese Anzahl sogar gefordert. Obwohl keiner den Geschichten wirklich Glauben schenkte, wuchs doch die Unruhe in jedem von uns, immer wenn er davon anfing. Was für ein Ding die Bestie war, wusste auch er nicht. Keiner wusste es. Wer sie sah, lebte nicht lange genug, um von ihr zu berichten. Alles, was uns blieb, waren die Geräusche, die aus der Ferne durch die Gänge hallten und unsere Fantasie, die wohl am schlimmsten war. Was man nicht kennt, kann man nicht fürchten. Wovon man aber nur eine vage Ahnung hat, das fürchtet man noch mehr als das, was man kennt.
Seit ich in der Zelle saß, hatten sie noch keinen aus unserer Zelle geholt. Einige, die schon länger dort waren, erzählten, es sei schrecklich gewesen; die Wachen kamen ohne Ankündigung , rissen die Tür auf, schlugen, wen sie treffen konnten und griffen sich den Unglücklichen heraus, wegen dessen sie gekommen waren. Denn sie kamen nie ohne Grund und nahmen keinen willkürlich mit. Oft versuchte der Betroffene, sich mit der letzten verbliebenen Kraft zu wehren, schlug, trat und biss, krallte die Finger in den Boden und schrie um Hilfe. Doch es war alles vergebens. Die Wachen lachten nur, spukten auf ihn und schlugen solange zu, bis sie ihn wie einen Sack mitschleifen konnten.
Ich erinnere mich noch, wie einst an einem Tag, als ich noch ein freier Mann war, ein Herold auf dem Marktplatz verkündete, unser gnädiger Herrscher werde neue, wirkungsvollere Strafen einführen. Ein Gesandter aus einem fernen Land habe dem Fürsten von dem Gesetz in seiner Heimat erzählt, wodurch die Zahl der Verbrechen auf einen Bruchteil gesunken sei. Unser ohnehin kindhaft neugieriger und leicht zu begeisternder, aber schwer bei Laune zu haltender Herrscher hatte sich schließlich entschlossen, das Gesetz binnen weniger Tage zu ändern und nach dem Vorbild des Landes des Gesandten umzugestalten. Was genau die Änderungen waren blieb jedoch im Dunkeln und auch die Zahl der Verbrechen blieb unverändert. Doch der Fürst interessierte sich schon lange nicht mehr für die Rechtsangelegenheiten und so blieb alles, wie es war.
Damals hatte ich mir wenig Gedanken darüber gemacht und es hätte auch nichts geändert, hätte ich es getan. Verbrecher waren dem Tode geweiht und zur Strafe gehörte es, weder den Zeitpunkt noch die Art der Hinrichtung zu erfahren. Doch bald ging das Gerücht um, im Gefängnis hause eine menschenfressende Kreatur, die der Gesandte unserem Fürst zum Geschenk gemacht hatte, um sein Rechtssystem entsprechend zu verbessern. Doch niemand glaubte so recht an ein Monstrum, das im Kerker lebte und Verbrecher fraß. Schon allein deswegen, weil niemand zu sagen vermochte, wie diese Bestie aussah. Manche meinten, es handele sich um einen riesigen Löwen, andere sprachen von einem bösen Elefanten. Einer glaubte sogar, im Gefängnis lebe ein Adler, der so groß war wie drei Männer übereinander und einen solchen mit einem einzigen Biss zerteilen könne. Schnell wurde als die Bestie als Schauermärchen abgetan, trotzdem haftete der Angelegenheit etwas Mysteriöses an, da auch niemand die Geschichten widerlegen konnte. Selbst die Gefängniswachen nicht. Sie sagten, diejenigen, die für die Vollstreckung der Urteile zuständig waren, lebten permanent im Gefängnis und dürften allein mit den hohen Beamten und sonst niemandem sprechen.
Keiner von uns wusste also, was ihn erwarten würde, wenn er eines Tages an der Reihe sein sollte. Nur wie war ich an einen so grauenvollen Ort gelangt? Zuvor hatte ich als Bauer mit einem kleinen Stück Land ein bescheidenes Leben geführt. Die Kinder lebten in der Stadt und so war ich nach dem Tod meiner Frau allein in der kleinen Kate. Es einfaches Leben gewesen, geprägt von Arbeit. Nie hätte ich mir träumen lassen, einmal in diesem schaurigen Loch zu darben. Doch eines Tages kamen Reiter zu meinem Haus und verhafteten mich im Namen des Fürsten, wegen unrechtmäßiger Landbesetzung. Der Fürst hatte die Felder und Weiden außerhalb der Stadt, darunter auch mein Land, zu seinem Besitz erklärt. Ich war somit zu einem unrechtmäßigen Bewohner geworden. Ein Prozess stand mir nach dem geltenden Recht nicht zu, da der Fürst nicht in der Lage war, ein Vergehen zu verüben. Eine Verhandlung war also unnötig. So kam es, dass die Reiter mich direkt im Gefängnis ablieferten, wo ich seitdem auf die Vollstreckung meines ungesprochenen Urteils wartete. Wie lange? Das war schwer zu sagen, denn in der Zelle war ein Tag wie der andere. Zeit gab es nicht.
Wieder waren Schritte auf dem Gang, sie kamen näher, bedrohlich nahe. Bis es an der Tür rüttelte und diese unvermittelt aufgerissen wurde. Im kümmerlichen Schein einer einzigen Fackel zuckten zwei dünne Schlangen in die Zelle hinein. Wo sie aufs Fleisch trafen, schrieen die Gefangenen auf und drängten sich dichter an die übrigen, um so einem weiteren Peitschenhieb zu entgehen. Der Fackelträger leuchtete in den Raum und sah sich suchend um. Dann rief er einen Namen, den ich aber nicht verstand. Es wurde still und die Peitschen hingen schlaff von den Händen der Wächter herunter. In der gegenüberliegenden Ecke wimmerte Einer leise und ein Anderer redete flüsternd auf ihn ein. Im dämmrigen Schein gewahrte ich einen ausgestreckten Arm, der in meine Richtung wies. Der Anführer, dessen Gesicht vom flackernden Licht verzerrt war, schrie den Namen jetzt und grinste hämisch. Der Junge neben mir drückte sie dicht an mich und die Wand. Er betete nicht mehr, starrte nur mit weit aufgerissenen Augen, in denen der feurige Lichtschein schimmerte, auf den Wächter. Schnell griffen die beiden mit den Peitschen ihn an den Fußgelenken, denn er versuchte, sie mit Tritten zu wehren, und schleiften ihn über den Boden voller Unrat. Draußen krallte er sich mit den Fingern in das Holz der Tür. Die Wächter lachten nur höhnisch, traten ihn in die Seite und zerrten ihn fort. In der angespannten Stille, nachdem die Tür wieder verschlossen worden war, waren nur die Schritte und die gedämpften Stimme der Wächter zu hören. Der Junge gab keinen einzigen Laut von sich. In der Ferne öffnete sich das Tor und das Schnauben der Bestie drang an mein Ohr, gefolgt von einem unnatürlich schrillen Schrei des Jungen. Ich schloss die Augen vor Schmerz und sprach ein Gebet für ihn. Doch noch bevor sich alle wieder einigermaßen erholt hatten von dem Schrecken – es hätte jeden Treffen können – näherten sich erneut Schritte auf dem Gang. Die Tür flog krachend auf. Wieder standen die drei Wächter vor uns, die kurz zuvor unseren jungen Leidensgenossen geholt hatten. Der mit der Fackel trat in den Raum und sagte, ich weiß nicht zu wem:
„Du, Alter, steh auf!“
Nichts rührte sich.
„Was ist? Bist du taub? Müssen wir dich auch halb totschlagen, um dich mitzunehmen? Bei dir würde es nicht lange dauern.“
Diesmal war die Stimme ganz nah und stinkender, heißer Atem schlug mir ins Gesicht. Ich riss die Augen auf und vor meiner Nase hatte sich der Fackelträger zu mir heruntergebeugt. Alle anderen Zellengenossen drängten sich außerhalb des Lichtkreises der Fackel, als würde der bloße Schein sie verbrennen. Er war so dicht vor mir, dass die Schweißtropfen von seiner Stirn auf mein Gesicht fielen. Ich fühlte mich wie gelähmt, doch ohne einen Gedanken richtete ich mich auf und schritt vorsichtig, darauf bedacht, auf keinen am Boden zu treten, zur Tür. Die Wächter schubsten mich durch ein düsteres Labyrinth endloser Gänge, die sich ständig verzweigten, hinauf und hinab stiegen. Obwohl die Fackel ihr einziges Licht in vollkommener Dunkelheit war, fanden sie sich mühelos zurecht. Die Wände waren feucht und zum Teil bemoost. Ich strich mit den Fingern über die weichen Polster und spürte zum ersten Mal nach einer schieren Ewigkeit in der Verdammnis Leben in der Dunkelheit, doch in den Gängen roch es nach dem Tod.
Am Ende des Ganges war eine Öffnung, durch die helles Licht auf die Wände fiel. Es war keine Tür dort, nur ein kleiner Vorsprung, der in den von zahlreichen Fackeln schauerlich erleuchteten Raum ragte. Unter mir war ein kreisrunder Platz wie eine Arena und gegenüber vom Vorsprung, auf dem ich stand, war ein schweres Gittertor in die Wand eingelassen. Hinter mir fiel ein kleineres Gitter herab, sodass ich nicht mehr zurück in den dahinter liegenden Gang konnte. Die Wächter standen auf der anderen Seite des Gitters und warteten gebannt, was geschehen würde. Plötzlich hörte ich das vertraute Quietschen und Knarren, aber es hörte kurz darauf wieder auf und das große Tor blieb verschlossen. In der Schwärze dahinter konnte ich nichts ausmachen, doch etwas Großes schien sich dort zu regen. Einer der Wächter stach mir mit dem Peitschengriff in den Rücken.
„Dir wird eine ganz besondere Ehre zuteil. Der Fürst selbst ist zugegen, während das Urteil vollstreckt wird. Nicht viele haben das Glück, zu sterben, während er die Hinrichtungsstätte inspiziert, also verhalte die entsprechend ehrerbietig.“
Und tatsächlich, auf einem Balkon an der Seite, der höher gelegen war als mein kleiner Vorsprung, zeigte sich unser Herrscher und befahl mit einem Wink, man möge mit der Prozedur fortfahren. Sofort öffnete sich das Tor und heraus kam das schrecklichste Wesen, das ich in meinem Leben je sah. Es war ein riesiger Hund, hoch wie zwei Männer mit drei – ja wirklich drei – Häuptern, jedes mit einem rasiermesserscharfen Gebiss, groß genug, um eine ganze Kuh darin verschwinden zu lassen. Es fletschte alle seiner gelblich schimmernden Reißzähne, zwischen denen dickflüssiger Geifer hervortrat und auf den sandigen Boden tropfte. Der Hund, falls man es so nennen konnte, war so tief schwarz, dass der Feuerschein nicht auf seinem Fell schimmerte. Er schien alles Licht aufzusaugen und alles zu verdunkeln. Dort, wo seine Hälse zusammenliefen, knapp über dem Rumpf, trug er ein enormes eisernes, stachelbewehrtes Halsband, doch keine Kette war daran befestigt. Knurrend und schnaubend stand das mächtige Tier in der Mitte der Hinrichtungsstätte, sah mit dem einen Haupt hinauf zu seinem Meister auf dem Balkon und mit den weiteren zwei Augenpaaren, in denen es dunkel rötlich glühte, starrte er zu mir herüber. Sein Atem war so entsetzlich und so heiß, dass der Schweiß auf meiner Haut verdampfte. Aus dem Maul, das es dem Fürsten zugewandt hatte, drang etwas, das sich wie ein heiseres Bellen anhörte, nur von der durchdringenden Macht einer Gerölllawine. Eine Person, die hinter dem Fürsten stand, beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf dieser nickte. Mit feierlich richterlicher Miene sagte er:
„Der Gerechtigkeit soll nun genüge getan werden. Vollstreckt das Urteil.“
Die Wächter stießen mich vom Vorsprung herunter und ich fiel schmerzhaft auf den mit Sand bedeckten Boden. Mit getrübtem Blick schielte ich zum Balkon hinauf, um Gnade für mein Leben zu erbitten, doch der Balkon war leer. Stöhnend drehte ich mich auf die Seite, um nicht mit anzusehen, wie drei monströse Kieferpaare sich zu meinem zitternden Leib herabsenkten.

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Daydreaming

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