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Am sechsten Tag oder Adam – eine Tragödie

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1

Die Erde war wüst und leer. Ein aschegrauer Schuttball, der um einen verblassenden Stern kreiste, dessen Licht nur selten durch die Dreckwolken hindurch drang. Das Einzige, was noch trostloser als die unfruchtbaren Steinhalden war, waren die Meere voller Gift, verseucht von Abfällen und zersetztem Leben, das das Wasser trübte.
An einer flachen Stelle, wo beide abstoßenden Elemente aufeinander trafen, lag etwas Unförmiges, Klumpenhaftes in den säurehaltigen Wellen. Das nach Verwesung stinkende Wesen regte sich, hob den Kopf aus der Brühe, blickte um sich, suchte die Umgebung ab und brach in markerschütterndes Geschrei aus, als es mit seinem begrenzten Geist feststellte, dass hier nichts Lebenswertes war und dass es lieber an einem anderen Ort, an welchem auch immer wäre.
Schwerfällig erhob sich diese Kreatur, die, so schien es, vom Meeresboden ausgespieen und ans tote Ufer geschwemmt worden war. Krumm stand der Mensch auf seinen Hinterbeinen und beäugte, weniger mit Neugier denn mit Misstrauen und Geringschätzung die Szenerie, die von nun an sein Zuhause war. In seiner Unbeholfenheit stieß er röhrende, grunzende und kreischende Laute aus, wie sie seiner Natur angemessen waren. Im Schlamm zu seinen Füßen regte sich etwas. Mit der Fertigkeit des Hungrigen packte er beide Hände voll schmutzigem Schlamm, in dem sich undefinierbare Lebensformen wanden, gleichfalls in der Hoffnung, dass ihre Existenz an diesem Ort nur von kurzer Dauer sein mochte. Gierig und ohne Ekel betrachtete der Mensch seinen Fang und schlang ihn mitsamt der schlammigen Umgebung herunter, bevor noch mehr davon durch seine Finger rinnen konnte. Zur Bestätigung seines Genusses entfesselte er einen gewaltigen Magenwind, der ihn durch das Gefühl und den mit ihm verbundenen Laut erfreute. Der Mensch hatte soeben seine Fähigkeit entdeckt, Zuneigung zu empfinden. Zuneigung einzig für sich selbst, die im krassen Kontrast zur Abscheu vor seiner widerwärtigen Umwelt stand. Da er seine Bedürfnisse nun befriedigt hatte – oder andere auf dem Weg auf ähnlich achtlose Weise erfüllte – begab er sich auf eine Wanderung ins Ungewisse, um sein neues Reich in seiner Gesamtheit zu erkunden. Seine willkürlich gewählte und unbestimmte Route führte ihn vorbei an schwefligen Sümpfen, in denen die letzten Überreste kahler Bäume vermoderten. Instinktiv – denn er hatte ja keinen Vergleich – empfand der Mensch für alles, was sich seinen trüben Augen offenbarte als abscheulich und abstoßend. Stumpfsinn und Gleichgültigkeit vernebelten seinen primitiven Geist, gleichzeitig umschlossen Taubheit und andauernde Frustration sein Herz. Die scharfkantigen Splitter auf seinem Pfad rissen Wunden in seine Fußsohlen. Wenn er müde und durstig war, kniete er nieder und leckte an der rötlichen Spur, die er auf seinem Weg hinterlassen hatte. Sein Gang war stolpernd und ziellos, seine dürftige Körperbehaarung ließ ihn im Wind frieren, sein Gehirn war so sehr von der Verarbeitung der tristen Eindrücke in Anspruch genommen, dass eine Form von Gedanken allenfalls als instinktgesteuerte Regung vorhanden war. Einfältig und machtlos wanderte der Herrscher durch die Gefilde, die bestenfalls von Tod und Verwesung geprägt waren. Hungrig und erschöpft ließ er sich an einem pechschwarzen Gewässer inmitten einer Aschwüste nieder und trank gierig von der ätzenden Substanz. Sogleich revoltierte sein Verdauungsapparat, sodass er den geringen Mageninhalt, der ihm beschert war, am Ufer des Gestades erbrach. Kraftlos sackte er zusammen, röchelnd und blind vor Hunger und Durst.
Eine silbrig-weiße Hand legte sich auf die haarige Schulter und der Mensch öffnete ängstlich, aber schwerfällig die Augen. Neben ihm kniete eine androgyne Gestalt, die scheinbar halb durchsichtig war und in kühlem silbernem Licht schimmerte. Der Geist zog den Menschen auf die Beine, griff ihn unter der Schulter und zerrte ihn mit für seine zarte Gestalt erstaunlicher Kraft mit sich fort.
„Du hast doch nicht etwa von der öligen Suppe da hinten getrunken?“ fragte der Geist in spitzem und zugleich lapidarem Tonfall.
Verständnislos gaffte der Mensch in das ätherische Antlitz des Wesens.
„Mit der Sprache ist es bei dir wohl auch nicht weit her, was? Na gut, ich hab’ sowieso keine tief schürfenden Gespräche erwartet, also was soll’s. Ach, übrigens, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt“, er machte eine übertrieben theatralische Geste. „Ich bin der Geist der Menschheit. Jawohl, der Geist der gesamten Menschheit, du hast richtig gehört. –Du bist doch nicht taub, oder? Selbst geistreich genug mir einen vernünftigen Namen zu geben, waren deine Leute jedoch nicht. Achje, wenn ich dir alles erzählen würde… Wie dem auch sei, meine Aufgabe ist es, dir zur Seite zu stehen bei, äh, bei deinen Abenteuern und einen halbwegs anständigen Menschen zu machen. Ich sag dir aber gleich, zaubern kann ich nicht. Ich bin ja schließlich kein Engel oder ein Gott oder sonst ein Zaubermeister. Alles, was ich für dich tun kann, ist, dir mit Rat und manchmal, so wie jetzt gerade, auch mit Tat behilflich zu sein. Du siehst, wir werden zwangsläufig ein wenig Zeit miteinander verbringen. Wenn ich dich so ansehe, wohl etwas mehr Zeit. Wo bist du überhaupt hergekommen, du riechst, als wärst du aus ’ner Kloake gekrochen. Mann, oh, Mann, die Hoffnung der Menschheit riecht schlimmer als die Müllkippe in einem Elendsviertel – und sieht auch dementsprechend aus.“
Er suchte nach einem Anzeichen für Verständnis in den matten Augen, konnte aber nichts dergleichen entdecken.
„Ich wollte dich nicht beleidigen, auf keinen Fall, aber du musst zugeben, ein Prachtexemplar bist du nicht gerade. Es ist mir ohnehin ein Rätsel, dass eine von der Evolution so verkrüppelte Rasse wie deine in so einem stinkenden Loch überlebt hat.
Ohne auch nur eine Ahnung zu haben, was sie merkwürdigen Töne, die dieses Wesen von sich gab, zu bedeuten hatten, begriff der Mensch doch sehr schnell, dass es sich um ein Produkt der nähren Umgebung handeln musste, ähnlich niedrig einzustufen wie die Würmer, die er im Schluck gefunden hatte. Sein Maul verzerrte sich zu einem freudig-bösen Grinsen und mit aller verbliebenen Kraft packte er die Kehle des lästigen Dings und drückte sie zu.
„Idiot“, stieß der Geist nach Luft ringend hervor, nachdem er sich aus dem Würgegriff befreit und den Menschen weggeschubst hatte.
„Ich bin vielleicht kein Wesen aus Fleisch und Blut“, sagte er mit krächzender Stimme und fügte mit einem verächtlichen Blick hinzu, „so wie du es bist, aber das ist noch lange kein Grund, mich zu erwürgen. Ohne mich wärst du an dem Teersee elendig in deiner Kotze krepiert! Ohne mich bist du gar nichts, ein Käfer ist schon mehr wert als du!“
Als er sich langsam abgeregt hatte, liefert er seinem verdutzt dreinblickenden Schützling eine Erklärung, die dem Niveau seines Verstandes angemessen war und versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. Über die schmerzhafte Behandlung war der Mensch noch mehr verwundert und rieb sich den Nacken. Beherrscht, aber noch immer verärgert sagte der Geist, „Nun komm schon, wir haben Wichtigeres zu tun, als hier rumzualbern wie die Kinder.“
Gestützt auf den Geist setzte der Mensch seinen Marsch zur Eroberung der Welt fort.


2

Auf ihrem Weg zur Ergreifung der Herrschaft über den Erdball kam das ungleiche Paar nur mühsam voran, was die alleinige Schuld des Menschen war, der ständig müde und hungrig war. Außerdem war ihm sein Begleiter mit den unverständlichen Geräuschen, die er nahezu ununterbrochen von sich gab, unangenehm und lästig, dies beruhte jedoch auf Gegenseitigkeit. Wohl erkannte der Mensch, dass der Geist ihm nützlich war, indem er ihm Nahrung zwischen den kargen Felsen suchte und ihn zu Bächen führte, deren Wasser zwar brackig war und faulig roch, doch zumindest war es tatsächlich Wasser. Trotz allem wollte er dieses Geisterwesen so schnell wie möglich loswerden. Sein Fleisch schmeckte bestimmt köstlich.
Der Geist der Menschheit war gerade dabei, seinem beschränkten Schüler das Feuermachen beizubringen. Auf einem kleinen Geröllhügel mühte dieser sich damit ab, aus zwei Steinen Funken zu schlagen, um so ein Häufchen verdorrtes Gras zu entzünden. Seit Stunden saß er nun schon so, nur unterbrochen von Versuchen, dem Frust mit schnellen Schritten zu entfliehen, woran ihn der Geist jedoch jedes Mal hinderte. Bisher hatten seine Anstrengungen nicht einmal die Andeutung eines Flämmchens hervorgebracht. Er verstand auch nicht, wozu er so etwas Lächerliches tun sollte. Ohne Zweifel hätte er die Vorzüge des Feuers erst sehr viel später entdeckt ohne den Geist an seiner Seite. Fraglich war nur, ob er überhaupt jemals selbst diese Entdeckung gemacht hätte, ganz ohne Hilfe.
Der Geist frage sich allmählich, ob es sein konnte, dass dieses schlicht geistlose Wesen tatsächlich mit den zivilisierten Menschen, die irgendwann vor langer Zeit gelebt hatten, verwandt war. Wenn er diesem haarigen, stinkenden Dummkopf zusah, kamen ihm erhebliche Zweifel daran. Hatte die Evolution vielleicht einen oder gleich ein paar Schritte zurück gemacht? Hatte sich dieses beschränkte Exemplar vielleicht aus einem anderen Zweig des menschlichen Stammbaums entwickelt? Sollte die Hoffnung der verblichenen Menschheit tatsächlich auf diesem Halbaffen ruhen, der zu dämlich war, zwei Steine aufeinander zu schlagen? Dem Geist kam es vor wie ein bitterböser Scherz des Schicksals, ihm ausgerechnet eine so unterentwickelte und, einfach gesagt, dämliche Kreatur anzuvertrauen. Aber bei wem konnte er sich schon beschweren? Er konnte ja nicht einmal seinem Gegenüber verständlich machen, was er für eine Meinung von ihm hatte. Er seufzte und stützte sein Kinn auf seine Hand, während er weiter gelangweilt zusah, wie die Krönung der Schöpfung ihre Unfähigkeit unter Beweis stellte.
Bald tauchte ein neues Problem in den Gedanken des Geistes auf: Wenn dieser zottelige Hohlkopf der Begründer einer neuen Dynastie der Menschheit auf diesem gottverlassenen Felsbrocken sein sollte, musst er Nachkommen zeugen, um seine Herrschaft auch nach seinem Ableben zu sichern. Der Geist der Menschheit überragte mit seinem den einzigen Vertreter der penetranten Spezies um ein Vielfaches, aber er war nicht allwissend. Woher sollte er eine Gefährtin für seinen Schützling nehmen, die gemeinsam mit ihm das Königreich auf Erden errichten würde. –Wenn sie sich denn dazu herblassen würde, den dreckigen Schwachkopf zu ehelichen. Ein flaues Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Falls es ihm nicht gelang, den Fortbestand der menschlichen Spezies zu sichern und ein neues Zeitalter menschlicher Vorherrschaft einzuläuten, würde seine Existenz nicht mit der dieses Unglückseligen enden? Was, wenn er einfach keine Frau finden konnte – ihm war seit etlichen Jahren keine begegnet. Kurz wünschte er sich, der Geist einer Wurm- oder Bakterienart zu sein, die sich einfach durch Zellteilung vermehrte. Am Menschen war einfach alles unpraktisch und fehlerhaft, als wäre sein Organismus von einem ungeschickten Baumeister zusammengepfuscht worden. Voller Gram über sein ungerechtes Schicksal, das mit dieser verabscheuungswürdigen Kreatur untrennbar verbunden war, zeigte er ihm zum gefühlten hundertsten Mal, wie man Feuer machte. Die tanzenden Flammen übten jedes Mal eine starke Faszination auf Adam, so nannte der Geist den Menschen, da der sich selbst anscheinend keinen artikulierbaren Namen gegeben hatte, aus. Er griff mit seinen schmutzigen, stark behaarten Fingern danach – und verbrannte sich wie jedes Mal. Frustriert löschte der Geist das Feuer und schalt Adam für seine Unfähigkeit, zu lernen.
„Komm, Adam, wir müssen eine Eva für dich finden.“
Früher hatte er es leichter gehabt.




3

„Adam!“ schrie der Geist zum wiederholten Mal. Adam lag zusammengerollt im Staub und schnarchte. Ärgerlich versetzte der Geist ihm einen Fußtritt, worauf Adam die Augen öffnete und zunächst heftig gähnte, bevor er sich umdrehte, in der Absicht, nach der Störung weiter zu schlafen. Der Geist packte und schüttelte ihn, bis Adam ihn mit Verwirrung und Zorn ansah.
„Adam, das bist du, verstehst du? Ich Geist, du Adam.“
Mit Zeigen versuchte er, seine Erklärung noch einfacher zu gestalten, jedoch ohne sichtlichen Erfolg. Er bohrte Adam seinen Zeigefinger in die Brust und sagte:
„A-D-A-M, A-D-A-M. Verflucht noch mal, das ist dein Name du hirnloser Affe!“
Adam reagierte auf den Stich und die Beleidigung, obwohl er sie nicht verstand, mehr als verärgert; wütend fegte er den Finger beiseite und verpasste dem Geist einen Schlag mit seiner Pranke. Dieser taumelte stark benommen rückwärts, wo er in abwehrender Haltung seine Sinne ordnete.
„Nur ein Mensch kann so dämlich sein, seinen eigenen Geist zu verprügeln“, kreischte er zornig, ungeachtet der Tatsache, dass Adam wieder nichts begriff und sich stattdessen einfach wieder schlafen legte.
In diesem Verhältnis durchquerten sie Steppen und Geröllwüsten, überwanden schroffe Felsformationen und folgten dem Lauf säurehaltiger Flüsse. Unerbittlicher, oft tagelang andauernder Regen und heiße oder eisige Winde setzten ihnen zu. Doch all ihre Strapazen waren vergeblich, für den Geist der Menschheit, weil er keine Partnerin für seinen Begleiter und in dessen Wesen keinen Funken Intelligenz finden konnte, für Adam, weil er ohnehin nicht verstand, warum die bleiche Erscheinung, die ihm mit ihren gequälten Lauten den Nerv raubte, ihn mit sich schleifte. Dass ihre Weg ins Verderben führte, konnte Adam nicht wissen, aber er spürte ein Unwohlsein, das nicht auf die Ernährung von Eidechsen, Insekten und anderen gerade auffindbaren Dingen zurückzuführen war. Seit er dem Geist am Ölsee begegnet war, bellte er ihn ständig an, zerrte an seinen Haaren, störte ihn beim Schlafen und verbot ihm, seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Herumliegen, nachzugehen. Dieser Geist war eine wahre Plage. Einige Male hatte er versucht, ihm zu entkommen, aber der Geist war ihm stets zwei Schritte voraus. Auch ihn zu erschlagen oder zu erwürgen vermochte er nicht, obwohl es schien, als setze ihm diese Misshandlung trotz seiner Überlegenheit nicht unwesentlich zu. Adam fand Gefallen an der Quälerei und quittierte die Schmerzenslaute des Geistes mit einem an Gebrüll erinnernden Lachen.
Der Geist dagegen war enttäuscht von den dürftigen Leistungen des Menschen. In seinen Augen hatte er nichts gemein mit dieser schönen und stolzen Rasse, der er all sein Wissen verdankte. Ihr konnte er es nicht zu verdanken haben, dass er jetzt mit einem Barbaren auf einem endlosen vergifteten Trümmerfeld gefangen war. Seine Bemühungen, Adam das Sprechen oder wenigstens andere nützliche Fähigkeiten wie Feuermachen oder das Finden genießbarer Nahrung beizubringen waren bislang ohne Aussicht auf Erfolg geblieben. Aber ein Mensch gab nicht auf, also durfte man auch ihn nicht aufgeben, oder?
„Adam! He, Dummkopf“, rief der Geist und stieß den gedankenlos an seinem Finger Kauenden in die Rippen.
Träge drehte der sich um, ohne von seinem Finger abzulassen. Mit leerem Blick sah er seinen aufdringlichen Lehrmeister missmutig an, während ihm dicker Speichel über das Kinn lief und auf seine dicht mit Haaren bestandene Brust tropfte.
„Heute wirst du lernen, wie man ein Haus baut. Die Sesshaftigkeit ist das Fundament der menschlichen Zivilisation“, schwärmte der Geist, indem er seinen Rest verbliebener Zuversicht in seine Worte legte, obwohl er schon längst nicht mehr daran glaubte, dieser Primitivling könnte etwas über seine Hinterlassenschaften nach erfolgter Erleichterung Hinausgehendes zu Stande bringen. Mühsam bedeutete er dem ungeschickt vorgehenden Adam, was er zu tun hatte. Erschwerend kam zu Adams Mangel an Intelligenz der Mangel an brauchbarem Baumaterial hinzu. Aus morschem Holz in Pfützen rottender Bäume und Trümmerresten aus Beton und rostigem Metall sollte die Wiege der menschlichen Zivilisation entstehen. Der Geist erwartete auch kein zweites Versailles oder ein neues Pantheon, was der schwitzende Baumeister schließlich zu Wege brachte, lag allerdings weitab von seinen Vorstellungen.
„Das nennst du ein Haus“, schrie er mit einem verächtlichen Blick auf den bloßen Haufen. „Weißt du was? Du bist ein widerlicher, abstoßender, primitiver, dreckiger und einfach kreuzdämlicher …“, er suchte das richtige Wort, fand aber keins. Resigniert schloss er: „Ach egal, du verstehst mich ja sowieso nicht. Dabei solltest du derjenige sein, der Erkenntnisse erringt, große Taten vollbringt, nicht ich als dein Lehrer. Kann es denn sein, dass gar nichts in dir ist, was den Menschen so anbetungswürdig macht; Erfindungsgeist, Güte, Voraussicht und Liebe, das sind nicht einmal nur Worte für dich. Alles, was du von dir gibst, sind tierische Laute und bestialischer Gestank. Ein Mensch soll rein sein in Körper und Geist, aber du, du bist dreckig, jawohl und du stinkst, doch das stört dich nicht. Du kannst nicht sprechen, von Lesen und Schreiben ganz zu schweigen und deine Gedanken reichen nicht über deine ausgestreckten Krallen hinaus. Du kannst kein Mensch sein.“
Er hielt inne, näherte sich Adam und maß ihn mit einem prüfenden Blick, bevor er noch lauter fortfuhr:
„Du bist kein Mensch! Hörst du, du gehörst nicht zu dieser edlen Rasse, die wohl den Engeln näher steht als den Tieren. Selbst das Ungeziefer, das hier im Dreck lebt, würde sich deiner schämen, du widerwärtige Missgeburt. Ja, das bist du, eine Missgeburt, eine hässliche Laune dieser verachtenswerten Natur.“
Adam fühlte sich nicht berührt von dem Brüllen und Zischen, das aus dem Mund des Geistes kam. Er widmete sich der menschlichen Eigenschaft die er am besten – oder als einzige? – beherrschte, dem Hass. Er sammelte faustgroße, poröse Gesteinsbrocken und warf sie nach dem Geist der Menschheit. Der setzte sich, Adam den Rücken zugewandt, auf den steinigen Boden, verbarg das Gesicht in den Händen und weinte bitterlich.


4

Mühsam quälten die ersten Sonnenstrahlen sich durch die dichte Wolkendecke. Der Himmel änderte seine Farbe von grau zu grau mit einem leichten rosa Hauch. Viel Licht drang nicht durch die schwebende Decke, aber der Geist der Menschheit war eigentlich dankbar, nicht allzu viele Details der Elendslandschaft erkennen zu können. Er erinnerte sich noch an eine Zeit, als es noch grüne Wälder und mit Blüten übersäte Wiesen gegeben hatte oder romantische Parks, umgeben von kunstvoller Architektur. All das war verloren und existierte allein in seinem Geist.
Traurig blinzelte er in das trübe Licht, das mit der Zeit nur wenig stärker werden würde, und stellte verbittert fest, dass er immer noch in einer schwefligen Einöde festsaß. Müde richtete er sich auf und sah sich nach seinem menschlichen Gefährten um. Doch von dem war nichts zu sehen. Du Lump, dachte er und wusste nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Wenn Adam ohne seine Hilfe nach kurzer Zeit den widrigen Umständen unterlag, was würde aus ihm? Adam war augenscheinlich der letzte Mensch und sein Ende würde auch das des Geistes sein. Vielleicht war das aber gar nicht so schlecht. Mit dem Ende der Menschheit könnte er endlich Frieden finden und müsste diesen abscheulichen Ort nie wieder betreten.
Was, fragte er sich, wenn ich zurückkehren könnte in eine Zeit der Glanztage des Menschen? Ich könnte mich noch einmal ergötzen an den menschlichen Errungenschaften in Kunst, Technik und vor allem im Denken. In der Gegenwart war er das einzige intelligente Wesen auf dem gesamten Planeten. Hier musst er den Menschen unterrichten und mit seinem Wissen bereichern und nicht umgekehrt, wie es eigentlich sein sollte. Vielleicht konnte er seine Fähigkeiten noch anderen Wesen anbieten, jedoch wusste er nicht, welche das sein sollten, außer dem krabbelnden und schleimigen Ungeziefer gab es ja nichts. Adam war, aller Beschränktheit zum Trotz, immer noch das Beste, was es gab. Was für ein Armutszeugnis!
„Alles umsonst“, murmelte er vor sich hin, während er ziellos herumschlenderte und kleine Steine vor sich her schoss.
Der menschliche Genius war dazu verdammt, in einer Welt, die ein einziger Schutthaufen war, zugrunde zu gehen. Völlig resigniert stapfte er umher, sein Blick schweifte in die Ferne, glitt über dreckige Pfützen und schroffe Klumpen aus Gestein oder Beton. Doch mitten im Schritt hielt er inne, so dass er fast gestürzt wäre. Seinen Augen weiteten sich, sie waren gebannt vom Anblick einer Gestalt, die neben einem großen Betonklotz hockte. Ohne Zweifel war es eine Frau. Wer weiß wie lange es her war, als er zum letzten Mal eine gesehen hatte, aber er war sich absolut sicher. Vorsichtig näherte er sich ihr. Sie kniete neben einem Feuer, das sie mit trockenen Zweigen nährte. Ihre Haare waren schwarz und kunstvoll geflochten. Sie trug ein blütenweißes Gewand mit elegantem Faltenwurf und sah ganz wie eine griechische Priesterin der Antike aus. Jetzt wusste der Geist, warum er noch existierte. Er rannte auf sei zu, wollte sich ihr zu Füßen werfen und sie an sich drücken er kam ins Stolpern auf dem unebenen Grund und fiel der Länge nach hin. Schmerzhaft bohrten sich spitze Steine in seine Brust, aber er achtete nicht darauf und robbte weiter auf die Frau zu. Er konnte hören, wie sie leise ein Lied vor sich hin sang, während sie auf das Feuer Acht gab. Hingerissen von diesem Anblick und erfüllte von überschäumender Freue stimmte der Geist der Menschheit jede Lobes- und Triumphhymne zugleich an, die je aus der Feder eines Komponisten war, während er über den Boden kroch. Als er sie erreicht hatte, schloss er die Augen, umfasste sie, als wollte er sie zerdrücken und bedeckte sie über und über mit Küssen und Tränen der Freude. Jäh wich sein Glücksgefühl jedoch der Verwirrung, die er empfand, als er statt samtig weicher Haut Sand auf seinen Lippen spürte. Er riss die Augen auf und prallte unvermittelt von seiner personifizierten Hoffnung auf ein Überleben der Menschheit als kluge und schöne Rasse zurück. In seinen Armen hielt er tatsächlich keine Vertreterin des Menschengeschlechts, nur eine abgebrochene Säule aus Beton, an der ein verwitterter Plastikfetzen hing und sich im Wind bewegte. Der Gesang, den er zu hören geglaubt hatte, war nichts weiter als das Geräusch von Luft, die durch eine verrostete Blechdose strömte. Überwältigt von dieser bitteren Enttäuschung sank der Geist im Dreck in sich zusammen. Seine Hoffnung hatte sich als bloßer Abfall entpuppt, dem seine Vorstellung auf perfide Weise ein menschliches Antlitz gegeben hatte. Er war der Illusion seines eigenen Wunsches erlegen. Jetzt hoffte er gar nichts mehr.

Adam hingegen freute sich seines Lebens mehr denn je. Jetzt, da er seinen lästigen geisterhaften Begleiter los war, genoss er seine wiedergewonnene Freiheit in vollen Zügen. Ohne diesen ewig nörgelnden Quälgeist war er eindeutig besser dran. Er fing Tiere in Seen und Flüssen oder entdeckte sie unter Steinen. Er suhlte sich im Morast oder rieb sein Hinterteil an einem abgestorbenen Baumstamm. Wenn er Lust hatte, zu brüllen, brüllte er und wenn er Lust hatte, nichts zu tun, legte er sich an ein bequemes Plätzchen und gab sich seiner Lethargie hin. Er lebte glück ohne Wissen, ohne abstrakte Gedanken und vor allem ohne Geist. Warum sollte er sich mit solchen Dingen unnötig quälen, wenn er doch ohne sie ein eher angenehmes Leben führte? War er deshalb weniger Mensch oder war er es so sogar noch mehr als auf andere Weise?
Adam war sich seiner Einzigartigkeit nicht bewusst, auch hatte er nie Erfahrungen in Gesellschaft mit Gleichartigen gemacht – der Geist war in dieser Beziehung außen vor, was ihm wahrscheinlich auch recht so gewesen wäre – also kannte er auch keine Einsamkeit. Vielmehr genoss er das Gefühl der Überlegenheit über alle anderen Kreaturen, die selbst seiner Beschränktheit unterlegen waren, wenn auch nur aufgrund ihrer geringen Größe. Einen bedeutenden Vorteil hatten sie Adam gegenüber jedoch, sie paarten und vermehrten sich, ihre Art war nicht vom Aussterben bedroht. Doch diese Mechanismen durchschaute Adam nicht und er unternahm auch keinen Versuch in dieser Richtung. Solange er fressen und trinken konnte, war er zufrieden. Die kargen Trümmerhalden boten ihm alles an Komfort, was ihm bekannt war. Grund zur Klage bestand für ihn nicht im Geringsten. So verbrachte er viele Tage und Nächte, die Ebenen und niedrigen Gebirgsregionen durchstreifend, ohne zu wissen, warum. Er war sich selbst genug.
Es geschah jedoch etwas, das sein primitives Weltbild empfindlich störte. Er durchquerte gerade ein hügeliges Gebiet, das von schroffen Klippen und spärlichem Pflanzenwuchs gekennzeichnet war. Immerhin gab es kleine Säugetiere, die er mit wenig Mühe fangen und großen Genuss verspeisen konnte. Gerade war er dabei einen unterirdischen bau mit den Händen offen zu legen, als er einen Schatten bemerkte, der kein Tier sein konnte, da er dafür zu groß war und der auch kein Baum oder Felsen sein konnte, da er sich bewegte. Er kannte kein Lebewesen, das ihm in Größe und Kraft ebenbürtig, geschweige denn überlegen war, daher kannte er keine Furcht. Er war der unangefochtene Herrscher dieser Welt. Trotzdem huschte ein kleiner Schatten des Zweifels durch seinen Kopf. Vorsichtiger als sonst bei der Jagd schlich er als in die Richtung, wo er den Schatten zuletzt gesehen hatte. Auf der nächsten Hügelkuppe angelangt, duckte er sich hinter die verkrüppelte Vegetation. Unten am Hang sah er nun, was den Schatten geworfen hatte. Zu seinem größten Erstaunen erblickte Adam dort in der Talsohle ein Wesen, das so aussah wie er selbst. Es war genauso behaart, wenn auch nicht in dem Maße wie er, und ein wenig zierlicher von Gestalt. Adam hatte eine ungefähre Vorstellung von seinem eigenen Aussehen und so begriff er, dass dieses Tier dort unten ein Mensch sein musste so wie er. Diese Entdeckung löste zunächst Staunen aus. So etwas hatte er noch nie gesehen. Doch schnell schlug sein Staunen in Furcht um. Würde ein Geschöpf, das ihm so ähnlich war, ihm nicht seine Stellung als Herrscher über sein Weltreich streitig machen? Mit Schrecken sah er mit an, wie das fremde Wesen einige tote Nagetiere aus einem Loch in der Erde hervorholte und auf einen Haufen warf. Bei genauerer Betrachtung fiel Adam auf, dass dieser Mensch, wenn es denn einer war, doch verschieden von ihm war. Er sah an sich herunter und stellte fest, dass sie trotz gewisser Ähnlichkeiten wohl doch nicht zur selben Art gehörten. Vielmehr stellte er auf seine Weise fest, dass dieses Tier „anders“ war als er. Aus seiner Furcht wuchs Zorn. So ein hässliches Wesen würde ihm seinen Platz an der Spitze der Nahrungskette nicht streitig machen. –Aber es würde ihm reichlich Nahrung bieten. Rasend vor Wut stand er auf und stürmte den Hügel hinunter.


5

Wirr vor sich hin brabbelnd stolperte der Geist durch die trostlose Landschaft. Etwas sagte ihm, dass er Adam finden musste. Etwas Anderes sagte ihm, er solle sich nicht um diesen undankbaren Wilden kümmern. Wozu sollte er ihn auch suchen – selbst wenn er ihn fände, waren all seine Anstrengungen doch zum Scheitern verdammt. Sogar wenn er es schaffte, einen Menschen am untersten Rand des Ideals zu Wege zu bringen, war das Schicksal der Art besiegelt. Ohne Nachkommenschaft würde es keinen geben, dem er dienen konnte und somit stand auch sein eigenes Ende fest.
Hin und her gerissen zwischen Hoffnung und schierer Verzweiflung arbeitete er sich so auf seinem Weg durch das Niemandsland voran. Er suchte den Horizont nach Adams Silhouette ab. Er überlegte, wohin er gegangen sein konnte, aber es half ihm alles nichts, der Mensch war verschwunden. Ob seiner vergeblichen Suche drohte er, langsam den Verstand zu verlieren, denn obwohl er nur ein geistiges Wesen war, unterlag er doch den menschlichen Schwächen.
Immer wieder mischten sich traumhafte Visionen und Trugbilder in seine Wahrnehmung. Der Geist war so alt wie die Menschheit, mit der er untrennbar verbunden war. Er hatte Kriege, Hungersnöte, Wirtschaftskrisen und Naturkatastrophen erlebt, aber nie schien seine Lage so düster. Sollte er seiner schwersten Prüfung am Ende erliegen? Ein Problem war, dass sein Handlungsspielraum begrenzt war. Normalerweise waren es die Menschen, die handelten und deren Taten und Gedanken er in sich aufsog, doch bei seinem gesamten, Jahrhunderte alten Wissen vermochte er nur einen verschwindend geringen Einfluss auf die Menschen auszuüben. Er war weniger Patron als Günstling, aber in der Zeit mit Adam waren die Rollen vertauscht. War die ungewohnte Aufgabe der unmittelbaren Anleitung nicht schon kompliziert genug, war nun auch noch sein alleiniger Hoffnungsträger spurlos verschwunden, nachdem er sich ohnehin schon wenig empfänglich für das wahre Wesen der Menschen, abseits jeglichen tierischen Gebärdens gezeigt hatte.
Matt und erschöpft von seiner Unruhe ruhte der Geist sich auf einem großen Stein aus. Er versuchte, Klarheit in seine Gedanken zu bringen und als er alle verworrenen und verschwommenen Illusionen verbannt hatte, kam ihm ein neuer Einfall, der ihn in seiner Einfachheit erschütterte: Er hatte sich geirrt! Adam war nicht, nein, er konnte gar nicht der letzte Mensch auf Erden sein. Es war einfach unmöglich. Unfassbar, dachte er, wie konnte ich nur glauben, ausgerechnet ein abstoßendes Wesen wie Adam sollte der Letzte der größten und schönsten Art aller Zeiten sein. Die Erde ist ein so weitläufiger Ort, es muss irgendwo, vielleicht in einem ganz versteckten Winkel noch solche geben, die dem Namen Mensch um ein Vielfaches würdiger waren als diese unsägliche Gestalt, nach der er so verzweifelt gesucht hatte. Nachdem er schon alles verloren geglaubt hatte und dabei gewesen war, jegliche Hoffnung fahren zu lassen, ging er nun aufrecht voran mit großen, sicheren Schritten, auch wenn er noch immer nicht wusste, wohin er sich wenden sollte. Das Gefühl allein, doch noch etwas erreichen zu können beflügelte zuweilen mehr als die Verrichtung der nötigen Aufgaben, um ans Ziel zu gelangen.

Adam war kein besonders geschickter Jäger. Er hatte es nie nötig gehabt, Fallen zu stellen, seine Beute zu überraschen oder in die Enge zu treiben oder auch nur sich anzuschleichen. Alles, was er an Nahrung erbeutete, bot sich ihm mehr oder weniger offensichtlich und widerstandslos an. Aus irgendeinem Grund hielt er es bei seinem Angriff auf das fremdartige Wesen für notwendig und angebracht, seinen Überfall mit markerschütterndem Gebrüll zu untermalen.
Zu sagen, dass sein Unternehmen ein voller Erfolg war, wäre vielleicht übertrieben, aber schon wenig später, nachdem er sich zum Sturm entschlossen hatte, fühlte er, wie sich die Wärme des Triumphs in seiner Brust ausbreitete. Das hässliche ding war kampflos geschlagen und geflohen. So und nicht anders hat man sich eine Sternstunde der Menschheit vorzustellen; der Mensch braucht seine Überlegenheit, die tief in seinem Wesen verwurzelt ist, nur anzudeuten und schon liegt ihm die Welt zu Füßen. Adam war hoch zufrieden mit seiner Leistung. Er grunzte, während er genüsslich die zurückgelassene Beute zerpflückte und verschlang.
Es war dieses Bild, das sich dem Geist der Menschheit bot, als er gerade eine Hügelkuppe erklommen hatte und ins Land schaute: Am seicht auslaufenden Fuß des Hügels lag ein grauer, haariger, schmutziger Klumpen, beschmiert mit Blut und Innereien, die Überreste einiger kleiner Tierkadaver neben sich. Der Klumpen brummte und wälzte sich im Dreck, wie es nur einer konnte. Mit ohnmächtiger Bestürzung erkannte der Geist den Flüchtigen, den Aufgegebenen. Es war Adam. Mit kochendem Zorn stürmte nun der Geist seinerseits den Hügel hinab, um sich auf Adam zu stürzen. Er packte ihn an der Gurgel, biss ihm in die Wangen und zerkratzte seinen Oberkörper. Doch aufgrund seiner metaphysischen Präsenz blieb Adam von schlimmeren Schäden verschont. Er richtete sich auf und schüttelte den Geist ab wie das Pferd die Fliegen. Nun lag auch der Geist der Menschheit im Dreck der Welt und in seinem abklingenden Zorn mischte sich maßlose Enttäuschung, sodass er bittere Tränen vergoss.
Es war ein trübgrauer Tag wie jeder andere, aber er schien dem Geist schwärzer als je einer zuvor. Doch mit einem Mal veränderte sich die Szene. Der Geist saß weiter im Schmutz und heulte, Adam leckte die Reste seines Mahls von den Fingern der einen Hand und kratzte sich ausgiebig mit der anderen, ein leichter Windhauch strich über das halb verdorrte Gras, aber ganz ohne Vorzeichen oder Erklärung tat sich ein Spalt auf in der dichten, tief hängenden Wolkendecke und ein Strahl von klarem Sonnenlicht fiel hindurch, sodass sowohl der Geist als auch Adam geblendet waren. Als sein Augen sich kurz darauf an die ungewohnte Helligkeit gewöhnt hatten, erblickte der Geist das Unfassbare – im glänzenden Licht stand ein Engel, der scheu und ängstlich die beiden beobachtete. Mit einem Satz war der Geist auf den Beinen und flog zu dem himmlischen Wesen. Alle Enttäuschungen der vergangenen Zeit waren vergessen, diesmal konnte es keine Täuschung sein. Der Spalt in der Wolkendecke schloss sich so plötzlich, wie er entstanden war und im gewohnten Schummerlicht erkannte der Geist wenige Meter vorm Ziel, dass er sich geirrt und doch Recht hatte. Was da vor ihm stand war tatsächlich ein reales Wesen aus Fleisch und Blut, ein Engel war es jedoch keinesfalls.
Auch Adam hatte sein Pflegeprogramm unterbrochen und verfiel in einen wüsten Affentanz und kehliges Gebrüll, als er sah, dass sein Feind zurückgekehrt war. Er fletschte die gelblichen Zähne und machte Anstalten, den Widersacher erneut zu attackieren. Glücklicherweise gelang es dem Geist, ihn davon abzuhalten.
„Du Hohlkopf, was hast du denn vor? Das, was du da vor dir siehst, ist wonach wir die ganze Zeit gesucht haben. Das ist die Hoffnung der gesamten Menschheit. Dieses Wesen, Adam, ist eine Frau, eine Menschenfrau.“
Adam war das egal, er sah seine Alleinherrschaft bedroht und wollte sich auf die Frau stürzen, wovon ihn der Geist wieder nur mit Mühe abhalten konnte. Mit Hilfe von Handzeichen bemühte er sich, Adam zu verstehen zu geben, dass er dieses andere um jeden Preis unbeschadet lassen musste. Ob Adam wirklich verstanden hatte, war zweifelhaft, auf jeden Fall gab er seine Mordversuche auf und begnügte sich damit, in gutturales Knurren zu verfallen und die beiden anderen mit boshaften Blicken zu beäugen.
Der Geist der Menschheit hingegen schwankte auf der dünnen Grenze zwischen gesundem Verstand und Wahnsinn. Momentan verfiel er Letzterem und hüfte sabbernd und glucksend durch die Gegend wie ein tollwütiges Huhn. Die Ereignisse der letzten Zeit waren einfach zu viel für ihn. Um alles richtig verarbeiten zu können und sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen, war es notwendig, dass er sich wenigstens kurzzeitig im Verlust seiner geistigen Kräfte erging. Bald darauf hatte er sich schon wieder beruhigt und gebärdete sich mit der ihm eigenen Würde, die zwar durch die durchlebten Ereignisse etwas angekratzt war, ihm aber immer noch die Aura eines überirdischen Wesen verlieh. Das wurde nur außer von ihm selbst von niemandem erkannt. Er benötigte noch einen Moment, um sich wieder zu sammeln, dann wandte er sich mit den folgenden Worten and das einzige weibliche Menschenwesen:
„Es ist mir eine Ehre, Ihnen endlich zu begegnen, Madame. Ich bitte Sie, meinen kleinen Verlust der Zurechnungsfähigkeit zu entschuldigen – er war überdies nur von kurzer Dauer und wird sich nicht wiederholen. Um mich nun endlich vorzustellen bedarf es nicht vieler Worte; ich bin der Geist der Menschheit, Hüter des Wissens und Gedankenguts der Menschen, ebendieser edlen Geschöpfe, zu denen auch Sie sich zählen.“
Er machte eine Verbeugung gleich einem geübten Höfling und fuhr dann fort.
„Hier sehen Sie meinen Begleiter und bis vor kurzem einzigen Schüler. Leider haben meine Lektionen in der kurzen Zeit, die wir zusammen verbracht haben, weniger gefruchtet, als ich gehofft hatte. Sie werden daher nicht umhin kommen, eine gewisse Grobheit und fehlende Bildung in seinem Wesen festzustellen. Es kann zuweilen etwas unangenehm sein in seiner Gesellschaft, aber ich bin überzeugt, dass auch er unter Ihrer Anleitung zu einem annehmbaren Vertreter Ihrer Art wird, wobei ich Sie meiner vollsten Unterstützung versichere. Er heißt übrigens Adam, auch wenn er nicht, noch nicht, auf seinen Namen hört.“
Er machte eine kurze Pause und sah mit geröteten Wangen zwischen beiden Menschen hin und her.
„Würden Sie“, sagte er dann an die Frau gewandt, „sich nun Ihrerseits vorstellen, Gnädigste?“
Unsicher sah er die Frau an und der fiebrige Schleier löste sich von seinen Augen. Er wischte sich fahrig die Tränen seiner Erregung aus der Sicht und musterte nun zum ersten Mal die Frau mit prüfendem Blick. Ängstlich, mit eingezogenem Kopf und rastlosen Augen stand sie ein wenig gebeugt vor ihm. Sie wirkte wie ein scheues Tier, das im nächsten Augenblick die Flucht ergreifen würde.
„Bitte…“, murmelte der Geist. „Bitte, .. sag doch etwas.“
Zaghaft machte sie ein paar Schritte auf Adam zu und tatsächlich öffnete sie den Mund, aber heraus kam nur ein heiserer Grunzlaut.
„Nein, nein, nein“, schrie der Geist und packte die Frau grob an der Schulter.
„Wozu hat der Herrgott euch eigentlich Stimmen gegeben, wenn ihr grunzt wie die Schweine?“
Zur Antwort biss die Frau ihn in die Hand. Adam verfolgte argwöhnisch das Theater und entleerte seine Blase ohne Notiz davon zu nehmen.


6

Endlose, tief hängende Wolkenfelder und andauernde Stürme zogen über die einst so lebendige Erdoberfläche. Die Luft war voll von schwefligen Dämpfen und roch nach Verwesung. Zerklüftete Felsen und verdorrte Vegetation prägten das Landschaftsbild. Nichts erinnerte mehr an den „Blauen Planeten“. In ihrem Größenwahn hatte die Menschheit unermüdlich auf ihren kollektiven Selbstmord hingearbeitet.
Der Geist der Menschheit stand auf der Mauer, die die Weiße Stadt umgab. Zufrieden wanderte sein Blick über die vielen Dächer der weiß getünchten Häuser. In den schmalen Gassen spielten lachende und kreischende Kinder. Die Straßen waren belebt, alles strömte zu einem großartigen Markt auf einem Platz im Zentrum der Stadt. Man feierte den Jahrestag der Stadtgründung. Der ganze Ort war in Feststimmung und die Feierlichkeiten mit Musik, reichhaltigen Banketten, Theatervorstellungen und vielem mehr waren schon früh am Tag in vollem Gange.
Der Geist der Menschheit blickte in die andere Richtung, wo von den starken Mauern der strahlenden Feste von Genius und Ratio die Öde begann, die noch immer den Großteil des Planeten bedeckte, selbst nach vielen Generationen der zweiten Dynastie. Doch die Menschen hatten sich schon daran gemacht, das tote Land zu säubern und neu zu kultivieren. Zufrieden beobachtete der Geist wieder die Festivitäten in der Weißen Stadt und wendete sich ab von dem Ort, an dem einst alles von neuem begonnen hatte. Nachdem ihn schon alle Hoffnung verlassen hatte, war der Mensch wie der Phönix aus seinem kümmerlichen Häufchen Asche auferstanden, um wieder seinen Platz als Herrscher über alle Dinge einzunehmen. Sein fast aufgegebener Traum war doch noch Wirklichkeit geworden, der Mensch hatte zum zweiten Mal den Schritt vom Wilden zum Wissenden gemacht. Kunst und Wissenschaft florierten in der Weißen Stadt. Bald würde die Gemeinschaft der Menschen wieder im alten Glanz erstrahlen. Schon spürte der Geist seine Kräfte zurückkehren und nur selten plagten in Bilder aus der Erinnerung an Adam, diesen missratenen Stammvater, der beinah alle Chancen zunichte gemacht hätte.
Adam, dieser verfluchte Affenmensch! Kein Vergleich zu den anmutigen Wesen, die nun die Straßen füllten, nur dass sie alle ebenso behaart und grobschlächtig waren mit dem Ausdruck tumben Unverständnisses im Gesicht, ihren dreckigen Krallenpranken… Nein, sie sahen alle aus wie er, waren ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, selbst die Kinder. Plötzlich starrten die widerwärtigen Fratzen alle ihn an. Mit gierigen Blicken und schäumenden Geifer kamen sie näher, bis sie sich nicht länger zügeln konnten und losrannten wie eine Horde urzeitlicher Berserker. Sie trachteten nach seinem Blut und rissen sein wehrloses Fleisch in Stücke. Mit unbändigem Verlangen schlugen sie ihre gelben Zähne in seinen ohnmächtigen Körper.
Der Traum von einer neuen großartigen Zivilisation zerbröckelte mit den einstürzenden Mauern der Stadt. Alle Visionen wurden von einer neuen Schicht aus Trümmern und Staub begraben. Die Menschen kehrten zu ihrem wahren Wesen zurück, als sie ihren eigenen Geist zerrissen und ihre Seelen verwüsteten.

Zitternd wie ein welkes Blatt im Herbstwind wandte der Geist der Menschheit sich ab von der albtraumhaften Vision, die vor seinem geistigen Auge entstanden war. Furcht schnürte ihm die Brust ein, aber als er sich umsah, erblickte er weder eine rasende Horde noch die Überreste einer neueren Stadt. Er sah hinüber zu Adam und Eva, wie er das Paar der Einfachheit halber nannte. Die beiden affenähnlichen Gestalten waren damit beschäftigt, sich gegenseitig zu lausen oder sonst einem tierischen Zeitvertreib nachzugehen. Mit erstaunlicher Leichtigkeit und Schnelligkeit hatte sie ihre jeweiligen Aversionen überwunden und trotz ihrer Unterschiede ihre Wesenseinheit erkannt und so zueinander gefunden. Mit Bedauern hatte der Geist festgestellt, dass auch Eva den einfachsten menschlichen Lehren nur wenig zugänglich war. So lebten sie als ungleiche Dreierkonstellation in den Beginn einer neuen Ära hinein. Zärtlich streichelte Eva über ihren entblößten, sich wölbenden Bauch und zerquetschte eine Laus, die sie in Adams wild wuchernder Mähne gefunden hatte. Sie schienen, so weit man das beurteilen konnte, glücklich und zufrieden, woran auch die Anwesenheit des lästigen Lehrmeisters nichts änderte.
Der Geist allein war von Zweifeln geplagt. Sollte seine dystopische Vision sich als wahrheitsnahe Prophezeiung herausstellen, wenn er sie nur genügend nährte? War der Schlüssel zur Zerstörung gar in ihm selbst? Die Summe aller Menschen, als die er sich zwangsläufig sehen musste, offenbarte zugleich ihren innersten Kern, wies auf die ursprüngliche Wurzel des Daseins ihrer Art. Wenn er selbst der Fehler war, der sich wie eine ätzende Säure durch alle Tugenden fraß, dann musste er die Menschen verlassen. Vielleicht würden sie sich einen neuen Geist schaffen. Womöglich waren sie ohne einen noch am besten dran.
Alles, was ihn noch an diese letzen und ersten Menschen band, war sein eigenständiger Wille. Von ihrer Seite gab es nichts, was ihn aufhalten konnte.
Schweren Herzens schloss er die Augen nach einem letzten Blick auf die Erneuerer der Menschheit, denen er gerne so vieles mit auf den Weg gegeben hätte, obwohl er nun überzeugt war, dass sie es allein schaffen mussten, um nicht einer neuen finalen Katastrophe zu erliegen. Er löste das Band aus Hoffnung und Liebe und so trug der Wind ihn fort von den Menschen, ein silbern schimmernder Schleier, der sich allmählich in abertausende winzige Funken auflöste.

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Daydreaming

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