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Das Leben des Hermann B.

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Es war ein klarer Tag mit wenigen Wolken, und das blau des Himmels wurde vom dunkelblauen Wasser des Meeres reflektiert, was das Wasser noch dunkler erscheinen liess.
Er hatte hellbraunes noch volles Haar, das gerade lang genug war, dass sich der Wind darin verfing und mit ihm spielte. An einigen Stellen war das braun von einem leichten grau durchdrungen, und an den Schlaefen wurde es langsam duenner. Er war barfuss. Seine Haut hattte den Ton eines leichten brauns, nur im Nacken war es besonders dunkel. Seine Augen hatten das kraeftige grau eines Herbshimmels, und den durchdringenden Blick eines Menschen, der nicht sieht, was andere sehen, sondern weit ueber den Horizont hinaus blickt. Seine Arme und Beine waren sehnig, aber nicht zu duenn. Sie zeigten mehr die innere Kraft und Ausdauer als rohe Gewalt.
Etwas besonderes waren seine Haende, sie waren ebenfalls sehnig, aber trotzdem stark. Lange, schlanke Finger, die sowohl eine Feder als auch das Heft eines Messers halten konnten. Nun hielten diese Finger das Ruder eines Bootes. Es war kein schnelles Boot, keine Rennyacht, wie manche der reichen Urlauber sie hatten. Es war ein einfaches Segelboot aus gutem Eichenholz. In der Gegend wuchsen keine Eichen, das machte das Boot zu etwas besonderem.
Das Boot fing den leichten Wind mit seinem Segel und schnitt das tiefblaue Wasser des Atlantiks mit Leichtigkeit.
Unter all den dunkelaeugigen Menschen mit dunklem Haar und meist kurzer Gestalt fuehlte er sich mit seinen grauen Augen mit dem Blick eines ausgehungerten Wolfes oft unbequem. Nur niemand sah es ihm an. Es war schwer ihm ueberhaupt etwas anzusehen. Wenn er laechelte, dann nur kurz und gerade mit der noetigen Muskelbewegung um den Eindruck eines Laechelns zu erwecken. Auch wenn sein Mund diesen Eindruck machte, so laechelten seine Augen nur sehr selten.
Er haette sich auch unter seinesgleichen unwohl gefuehlt, aber hier auf dem blauen Wasser des Atlantiks kuemmerte es niemanden, auch ihn selbst nicht, wenn es ihn ueberhaupt kuemmerte.
Er steuerte das Boot allein. Er mochte es allein zu sein. Und er mochte es barfuss im Heck des Bootes zu stehen und die Leichte Seebrise auf seiner Haut zu spueren.
Von Zeit zu Zeit wuerde er mit einer Angel oder einer Leine fischen, doch heute fuehlte er nicht das Beduerfniss, Koeder zu praeparieren, und auf einen Fang zu warten.
Zu seiner Steuerbordseite lag die grosse Insel mit ihrer sanften Kueste. Alle paar Tage machte er die Fahrt zur Insel und legte im Hafen eines kleinen Fischerdorfes an.
Die Bewohner des Dorfes kannten ihn, und sie behandelten ihn freundlich, so wie er es tat, aber sie behandelten ihn nie wie einen Freund. Etwas an ihm war immer Teil eines Fremden. Wenn er ins Dorf kam, kaufte er Dinge, wie Verpflegung und Materialien, um sein Boot in Stand zu halten und manchmal kaufte er auch Fischerbedarf. Danach wuerde er in die Dorftaverne, die einzige, gehen und ein, zwei Glas Bier trinken, bevor er sich auf den Heimweg machte. Heim, das war eine kleine Insel von knapp zwei mal zwei einhalb Kilometern Groesse, die er ganz allein bewohnte und nur mit den Tieren teilte, die den kleinen Wald der Insel bewohnten.
Niemand im Dorf konnte sich erinnern, wann und warum er hierher gekommen war, aber sie all wussten zu erzaehlen, wie er die Insel kaufte, die kein anderer (mit genug Geld) zu kaufen vermochte. Er kaufte sie fuer einen laecherlichen Preis und mietete ein Boot, um hinaus zu fahren, zu der Insel, welche knapp zehn Seemeilen von der Bucht in der das Dorf lag entfernt war. Er hatte Material gekauft, um ein Haus zu bauen, und Material fuer ein Boot. Das Holz fuer das Boot kam mit einem Frachtschiff, und niemand wusste, wo er es geordert hatte, aber niemand fragte danach. Er sprach nur wenig, doch wenn er sprach, dann in einem freundlichen, ruhigen Ton und in einem Spanisch, das die Dorfbewohner ueberraschte. Er baute das Boot alleine auf der Werft von Miguel, dem Bootsbauer. Manchmal hlf Miguel ihm, und gab ihm Ratschlaege zur Verbesserung. Die Kenntnisse von Booten des Fremden ueberraschten ihn, und das solide und doch so weich scheinende Eichenholz faszinierte ihn. Nie hatte er solch eine Holz gesehen, so glatt und hart, und doch so angenehm in seiner Art. “Mi bella,” wie er zu sagen pflegte, wenn er ueber die glatte Oberflaeche des Holzes strich. Der Fremde wuerde nur zustimmend nicken, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.
Als sie das Boot endlich fertiggestellt hatten bezahlte der Fremde Miguel mehr als er eigentlich zahlen haette muessen, aber er weigerte sich, den Ueberschuss zurueckzunehmen.
Die Menschen nannten ihn Solitario, einsamer.
Er steuerte das Boot auf die Einfahrt des Hafens zu und holte das Segel ein. Den Bootsmotor hatte er in Havanna gekauft, auch diesen fuer einen guten Preis.
Manche sagten, er sei ein ehemaliger sowjetischer Regierungsfunktionaer, der auf Kuba seinen Ruhestand verbrachte. Manche sagten, er sei ein reicher Europaer, der sich von der mondaenen Welt des Geldes zurueckziehen wollte. Andere sagten, er sei ein Spion fuer die Kommunisten gewesen, dem die Regierung mit der Insel als Geschenk fuer seine Dienste dankte. Doch niemand wusste es genau, und er selbst erzaehlte nie, woher er kam und was sein Beruf gewesen war.
Pedro, der Besitzer der Dorfbar, konnte sich erinnern, dass vor ein paar Jahren ein Franzose ins Dorf gekommen war, um den Fremden zu treffen. Der Franzose war sehr freundlich und unterhielt sich mit dem Barbesitzer ueber den Fremden. Er sagte, sein Name sei Becker, und sie haetten als Journalisten zusammen gearbeitet. Seien in allen Teilen der Welt gewesen, sagte er. Der Franzose mit dem Namen Jacques war nach Kuba gekommen, um seinen alten Freund und Kollegen wiederzusehen. Sie gingen gemeinsam Fischen und unternahmen einige Fahrten in den Golf.
Der Franzose sagte, er muesse zurueck nach Frankreich, seine Zeitung wolle ihn nach Vietnam schicken. Er wusste nicht, wie der Fremde zu der Insel und dem Holz gekommen war, aber als Pedro meinte, er sei ein Spion lachte er nur laut.
Nachdem der Franzose wieder verschwunden war, glaubten immer noch viele der Dorfbewohner an ihre eigenen Theorien, so weit sie sich ueberhaupt kuemmerten.
Langsam kroch das Boot durch den kleinen Hafen. Becker stand im Heck am Ruder und sah ueber den knapp neun Meter entfernten Bug hinaus.
Es wirkte als koenne nichts seinen Blick von dem wegbewegen, was er fixierte. Und doch vermochte es keiner der Fischer, die ihre Netze bestellten, zu sagen, wass er denn sah.
Er trug einen verknitterten Strohhut mit Krempe, um die Sonne aus den steingrauen Augen zu halten. Dazu trug er ein dreckigweisses Hemd, das auf dem Reucken einen grossen Schweissfleck zeigte, und khakifarbene Hosen, die knapp bis ueber die Knie reichten. An den Knien waren die Hosenbeine durchgescheuert und die gebraeunte Haut war durch den duennen Stoff zu sehen.
Er loeste seine Augen von einem Punkt auf der anderen Seite der Erde und schob den Hut in den Nacken, als er sich den Fischern auf dem Kai zu wandte. Einige der Fischer nickten, oder murmelten eine Begruessung.
Pablo, ein Fischer mit einem der groessten Boote im Dorf zeigte kein Zeichen des Willkommenheissens. Er schob die kalte Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen und folgte dem Boot mit seinem kleinen dunklen Augen.
Er mochte das Boot. Es war in einem klaren, kraeftigen gruen gestrichen mit einem weissen Streifen unterhalb des Decks. Es war von ordentlicher Laenge, um sich als taugliches Boot fuer den Verkehr im Golf zu zeigen, und von den gemieteten Segelbooten der Touristen abzuheben.
Auch war es keine sportliche Yacht, sondern eher ein ruhiges, stabiles Boot, das genug Platz auf einem Deck von bleichen, zollbreiten Planken zum Sonnen bot. Es hatte eine Leiter im Heck, denn der Bug des Schiffes lag zu hoch ueber dem Wasser, als dass man es haette erklimmen koennen – ohne jede Hilfestellung.
Pablo strich sich ueber den kahlwerdenden Kopf, auf dem der Schweiss stand, der sich mit dem Fett seiner Glatze verband. Er sah auf sein eigenes Boot, einen Kutter, von dem die Farbe abblaetterte. Kein Segel, ein kastenfoermiges Ruderhaus, Rost an allen metallischen Teilen des Bootes, und doch war es eines der besten Boote im Hafen.
Er mochte Becker nicht, obwohl er keinem der Geruechte und auch dem Geschwaetz des Franzosen keine Bedeutung beimass.
Fuer Pablo war Becker ein Sonderling, ein Fremder noch dazu. Er schien keine Sorgen zu haben, anders als Pablo selbst.
Er sah zu, wie Becker das Boot festmachte, und sich auf die Bar Pedros zubewegte. Das La Azul war nicht viel mehr als eine kleine, lecht dreckige Dorfkneipe, aber es war die einzige im Dorf ohnehin, und fuer die Fischer war es nach einem harten Tag auf See gut genug.
Becker trat ein und setzte sich an die Bar. Er nickte Pedro zu, der mit seiner Frau, Ana Maria, ausschenkte, dann bestellte er ein Bier.
Ein Mann in einem schwarzen Anzug trat an ihn heran, sein Bierglass mit sich bringend. Er war mittleren Alters, trug einen dunklen Hut, dessen genaue Farbe im daemmeriegen Licht der Bar schwer auszumachen war, dazu trug er eine einfache, dunkle Krawatte, und eine grosse Brille mit schwarzem Rahmen. Er nahm den Hut ab, und sein Haar war ebenfalls dunkel.
Er stellte sein Bierglas neben Beckers und hielt ihm seine Hand entgegen. “Edward Green,” sagte er. Becker sah auf die ihm dargebotene Hand und in Edward Greens Gesicht. Nach einigen Augenblicken nahm er die Hand und schuettelte sie, wobei seine grauen Augen sich in die von Edward Green bohrten.
Edward Green hatte die braunen Augen eines jungen Rehkitz, und nun sahen diese Augen auf den Pakt, den beide Haende geschlossen hatten, und keiner zu loesen vermochte. Schliesslich lockerte Becker den Griff, und hob sein Glas. “Herman Becker,” sagte er.

*
“Sie sind der Reporter, ja?” fragte Becker.
“Ja. Edward Green von der Philadelphia Courier.”
“Gut.” Becker nahm einen Schlug von seinem Bier, und stellte es auf den Tresen.
“Nun, wollen wir gleich hier beginnen? Ich habe mein Notizbuch dabei, aber wenn es Ihnen lieber ist, koennen wir auch warten…”
“Wenn’s recht ist, wuerde ich das ganze spaeter angehen. Wie lange bleiben sie hier?”
“Ich habe ein Zimmer hier in der Bar fuer eine Woche, mein Blatt hat mich allerdings fuer etwa drei Wochen frei gestellt, und ich koennte die Arbeit auch mit Urlaub verbinden. Ich weiss nur nicht, was die Behoerden sagen, wenn ich so lange bleibe.”
“Sie werden Sie nicht belaestigen, machen Sie sich keine Sorgen.” Er nahm einen weiteren Schluck.
Green nickte, doch er verstand nicht. Becker legte Geld fuer das Bier auf den Tresen, und stand ohne ein weiteres Wort auf und verliess die Bar. Green bezahlte ebenfalls, er warf einen verwirrten Blick auf das alte Radio, das Musik in schlechter Qualitaet in den bruetenden Raum sandte, und eilte hinter Becker her nach draussen.
Draussen, war es noch waermer, und die Sonne blendete ihn, doch es kam eine kuehle Brise von der See. Green lockerte seine Krawatte, und faechelte mit seinem Hut. Er begutachtete Becker nun. Leichte, sommerliche, und doch aermliche Kleidung. Er warf einen Blick auf die Fischer, die immer noch am Kai sassen und ihre Netze kontrollierten. Von Zeit zu Zeit fanden sie Stellen, an denen die Maschen gerissen waren und flickten diese. Das Wasser im Hafen reflektierte das Sonnenlicht und Green musste die Augen zusammenkneifen. Er nutzte seinen Hut, um seine Augen zu beschatten. Er ging ueber das Pflaster, mit jedem Schritt klebte der Schweiss den Stoff der Anzughose an sein Bein. Die Augen der Fischer folgten ihm, auf dem Weg zu Beckers Boot. Er fuehlte sich fehl am Platz mit seinem Anzug, der Krawatte, den guten Schuhen. Er war angezogen, um in seinem Buero in Philadelphia zu sitzen und Artikel fuer die naechste Ausgabe zu schreiben, doch nicht, um einen Segeltoern in den Tropen zu machen.
Ueberhaupt fuehlte er sich deplaziert. Die Hitze machte ihm zu schaffen, und der Kragen seines weissen Hemdes faerbte sich schmutzig braun vom Schweiss. Green trug sein Jacket in der einen Hand, in der anderen hielt er immer noch den Hut.
Er war an einem gruenen Boot angekommen, auf dessen Deck Hermann Becker stand.
“Nettes Boot,” sagte er.
“Hm. Kommen Sie an Bord.”
“Wo wollen Sie denn hin?”
“Ich dachte eine kleine Tour vor der Kueste wuerde Ihnen gefallen.”
“Sicher.” Er zuckte die Achseln und kam umstaendlich an Bord.
“Wenn Sie sich ablegen wollen,” Becker wies auf die kleine Tuer, die unter Deck fuehrte. Green verschwand im Dunklen. Unter Deck gab es nur eine einzige Kajuete, mit einer Koje, einem kleinen Tisch, auf dem offensichtlich auch gekocht wurde, und einen Schrank. Es war sehr aufgeraeumt, doch in der Koje lag nur eine einfache Matratze, nicht mal ein Kissen.
“Wie lange bleiben Sie damit draussen?” fragte Green, als er wieder auf dem sonnenbeschienen Deck stand.
“Kommt darauf an, wie lange ich draussen bleiben will. In letzter Zeit habe ich sie nur fuer Tagesfahrten benutzt.”
“Aha. Sie?”
“Das Boot.”
“Ah, ich verstehe.” Edward Green verstand nichts, und Becker sah es ihm an. Er hielt Edward Green fuer einen Stadtmenschen, der versuchte, seine Unwissenheit in Neugier zu verpacken. Er hatte nicht das Gefuehl ihn nicht zu moegen, vielmehr hatte er einfach kein Interesse an ihm. Doch wer konnte schon sagen, woran dieser eigenartige Eigenbroetler Interesse hatte?
Fuer Edward Green war die Angelegenheit ein Job, der sich unter Umstaenden mit Urlaub verbinden liess. Wenn er allerdings seinen Artikel so weit hatte, dass er ihn nur noch in die Endfassung bringen musste, wuerde er lieber aus dem kleinen, oeden Fischerdorf herauskommen, und sich den fuer Touristen attraktiveren Zielen zuwenden.
Der Motor des Bootes lief im Leerlauf, und Becker machte die Leinen los. Einige der Fischer sahen zu, wie er das Boot auf die Hafenausfahrt zusteuerte und die Fender an den Seiten an Bord brachte.
Inzwischen war es Nachmittag und die Sonne begann in den Westen zu wandern. Einige Moewen erhoben sich von ihren Ruheplaetzen auf den Postitionslichtern an beiden Seiten der ins Meer zeigenden Hafenmolen und umkreisten das Boot, in der Hoffnung auf eine einfach verdiente Mahlzeit. Doch weder Becker noch Green schenkten ihnen Aufmerksamkeit.
“Wirklich ein schoener Flecken Erde hier. Wann sind Sie hierher gekommen?” fragte Green.
“Das war vor knapp sieben Jahren.”
“Was war der Anlass fuer Sie, hier zu leben?”
“Ich wollte einfach meine Ruhe haben,” sagte Becker. Er sah in den Himmel, Wolken waren aufgezogen. “Koennte etwas unruhig werden, wenn wir zurueckkommen.”
Green hielt im Notizenschreiben inne und sah von seinem Block auf. “Ein grosser Sturm?”
“Kein aussergewoehnlich starker Sturm, aber trotzdem sollten wir uns vorsehen.” Er deutete auf eine Gruppe Seevoegel, die das Boot passierten. “Die Voegel fliegen landwaerts.”
“Ja, und?”
“Das bedeutet, dass ein Sturm aufzieht.” Becker musterte ihn mit seinen bohrenden, grauen Augen, als ob er ihn zum ersten Mal gesehen haette.
Ed Green fuehlte keine Praesenz irgendeines Unheils, Seevoegel, die zum Land flogen, und duenne Wolken am Himmel bedeuteten nichts fuer ihn. Es war immer noch ein heisser Augusttag. Bei dem Gedanken schien eine Welle neuen Schweisses seinen Ruecken herunterzulaufen.
“Ich spuere keine Brise mehr,” sagte Green.
“Dann werden Sie den Sturm um so mehr spueren.” Becker beachtete Green nicht weiter, und konzentrierte sich darauf, das Boot mit Hilfe der Stroemung und dem verbleibenden Antrieb zurueck zum Hafen zu bringen.
Becker und Green erreichten den Hafen bevor der Sturm seine Wut entfaltet hatte. Becker beschloss nicht zu seiner Insel zurueckzusegeln, und nahm ein Zimmer ueber der Bar. Alle der fuenf kleinen Zimmer, die Pedro und seine Frau vermieteten waren leer, bis auf das eine, in dem Green sich eingerichtete hatte.
“Nummer fuenf?” fragte Pedro, als Becker ihm mitteilte, er wuerde ein Zimmer fuer die Nacht brauchen. Er schlief immer in Nummer fuenf, wenn ein Sturm oder sein uebermaessiger Durst zwangen, die Rueckkehr am naechsten Morgen anzutreten.
Becker kam barfuss, die kuehlen Stufen herunter, und betrat die dunkle, muffige Bar, die nach verhangenem Zigarettenrauch roch. Pedro stand mit einem Zigarrenstummel hinter dem Tresen und spuelte Glaeser. An der Bar sass Green vor einem Glas mexikanischen Bieres. Sein Notizblock lag auf dem Bartresen.
“Noch auf?” fragte Becker, und setzte sich auf den Stuhl neben Green.
“Ja, wie Sie sehen.” Er nahm einen Schluck von seinem Glas und brachte einen Fueller aus seiner Hemdtasche zum Vorschein.
“Nun, Sie sind vor fuenf Jahren hier her gekommen, ist das richtig?”
“Ja, das war 1960.”
“Und sie sind gebuertiger Deutscher.”
Er nickte. Pedro setzte eine Flasche mexikanischen Bieres und ein Glas vor Becker.
“Nun, ich bin nicht hier, um ein Interview ueber ein bestimmtes Thema zu fuehren. Wie waere es, wenn Sie mir einfach etwas von Ihrem Leben erzaehlen, und ich von Zeit zu Zeit Fragen stelle?”
Fuer einen Moment sah Becker nicht von seinem Bierglass auf, als ob er darauf wartete, dass eine Kreatur antiker Mythen sich aus dem goldgelben Getraenk erheben wuerde, bereit ihm mit ihrem blossen Antlitz die Schauer einer laengst vergessenen Geschichte durch jeden einzelenen Wirbel zu schicken.
“Mein Leben war nichts Besonderes, nicht fuer mich. Es war vom Anfang meines Bewusstseins von einer gewissen Schwermuetigkeit gepraegt, und doch lag diese Schwermuetigkeit zu tief, um taeglich offensichtlich zu sein. Meine Schullaufbahn verging ohne herausragende Ereignisse, bis ich an meinem Gymnasium das erste Mal verstand, was es bedeutet zu sterben. Paul Klemens war ein einzigartiger Schueler, er hatte die besten Noten in der ganzen Schule, war beliebt und ein hevorragender Athlet. Er war der Schueler, den sich jede Schule immer wuenscht. In Mathematik sass ich zwei Reihen hinter ihm, doch war dies der engste Kontakt, den ich je mit ihm hatte. Nach der Schule trainierte Paul, um eines Tages in die deutsche Olympiamannschaft aufgenommen zu werden. Ein Sprinter war er, glaube ich. Wie auch immer, Paul Klemens war der, der alles haben konnte. Die besten Noten, die besten Maedchen, die besten Freunde, den besten Urlaub, das beste Auto. Seine Eltern hatten eine Firma, die Maschinenteile herstellte. Er war ein brillanter, junger Mann, den jeder mochte, und der keinem etwas Boeses wollte.”
Becker sah sich in der Bar um. Es hatte begonnen zu regnen, und graue Wolken tuermten sich am Himmel, als sei die Sonne beschaemt sich zu zeigen in einem schmerzhaft intimen Augenblick.
“Nun, eines Tages starb sein Vater an Krebs. Es war kein Verwandter in der Lage, die Firma weiterzufuehren, also beschloss die verwitwete Mutte, die Fabrik zu verkaufen. Beim Verkauf wurde sie betrogen und am Ende stand die Familie Klemens mit leeren Taschen vor einem luxurioesen Haus, dessen Heizkosten sie nicht mehr bezahlen konnte. Sie verkauften das Haus, die Autos, entliessen das Personal, Paul nahm eine Stelle in einer Metallfabrik an, waehrend seine Mutter Sekretaerin eines Buchhalters wurde. Dieser ging schnell bankrott, nachdem er des Betrugs angezeigt wurde. Mit seinem Beruf hatte Paul Klemens wenig Zeit, fuer seine Schullaufbahn zu arbeiten, und auch das Sprinten musste er aufgeben, da er zu wenig Zeit hatte, und die Beitraege nicht bezahlen konnte. Schnell war Paul Klemens ein unterdurschnittlicher Schueler, der oft fehlte. Seine Freunde hielten zu ihm, auch wenn sie keine grossen Anstalten machten, ihm zu helfen. Paul Klemens hielt aus. Bis am Weihnachten vor dem Abitur seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam, und die Fabrik in der er arbeitete ihn entlassen musste.”
Becker senkte seinen Kopf und fuhr sich mit der linken Hand durchs Haar. Green hatte gespannt zugehoert, auch wenn er nicht wusste, in welche Richtung die Geschichte gehen sollte.
Endlich fuhr Becker mit seiner Erzaehlung fort. “Sie fanden ihn am Heiligen Abend. Aufgehaengt in seiner Wohnung. Paul Klemens war der Mann, der alles konnte, alles haben konnte, und alles hatte. Er war der, den alle mochten, der der alle mochte. Es regnete, als sie ihn beerdigten. Zwei Onkel und drei Tanten waren gekommen – sonst niemand. Ich sprach ihnen mein Beileid aus, und eine seiner Tanten sagte unter Traenen, sie koenne es nicht verstehen. Warum sollte Gott einen solch unschuldigen, freundlichen jungen, so frueh zu sich rufen? ‘Manche Ungerechtigkeit wird nie begradigt, oder begruendet.’ Ich akzeptierte den Tod meines Mitschuelers Paul Klemens, weil es fuer mich mehr war, als der simple Wille eines Gottes, der vom Mensch sein so viel verstand, wie die Kuh vom Fliegen. Dies waren natuerlich nicht die Worte, die ich der traunden Verwandschaft geben wollte.”
Wieder hielt er inne. Donner rollte ueber das Fischerdorf hinweg, waehrend er Himmel weinte. Green endete seine letzte Notiz und sah auf. Becker trank den Rest seines Bieres, dann sagter er, “Es wird spaet, und es wird keine einfache Ueberfahrt morgen. Pedro wird sie wecken.”
“Gut. Gute Nacht,” sagte Green.
Becker nickte und ging die Treppe hinauf.

*
Er schlief unruhig in der Nacht. Als er durchschwitzt aufwachte, war es noch dunkel, und der Wind heulte vor den Fenstern. Er hoerte das Summen der Muecken, die im Haus Schutz gesucht hatten. Vor dem Fenster lagen Heerschaaren von Insekten, leblos, in einer grotesken Anordnung, wie es vielleicht ein Kuenstler des Abstrakten arrangiert haette. Behaarte Beine zur Zimmerdecke hingestreckt, von Wetterleuchten erhellt, Blitze ohne Regen, Tod ohne offensichtlichen Grund. Es war das Bild, das Hermann Becker kannte. Es war das Bild, das in seine Erinnenrung eingebrannt war, wie die Narbe einer Schusswunde in der Haut.
Fuer einen Moment erinnerte er sich zurueck, an die Zeit, als die Insekten noch am Leben waren, wie sie seine Freunde waren. Seine Augen sehnten sich nach Traenen, die nie kamen. Stattdessen kam der Schlaf.

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Autor:in

Daydreaming

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