← Zurück zur Übersicht

Das Formular

Share
Sie saßen da und starrten in ihre halbvollen Whiskeygläser. Sie hatten schon oft beieinandergesessen, hatten sich angesehen und alles war immer so, wie es hätte besser nicht sein können. Heute war es anders - heute starrten sie in ihre Gläser.
Er hatte ES vergessen.
Ganz einfach v-e-r-g-e-s-s-e-n! So wie man Regenschirme in der Bahn stehen ließ oder es verpasste, den Wasserhahn abzudrehen.
Nun waren sie alle sehr still - schreiende Lautlosigkeit, die weh tat. Es war die Art Stille, die sich wie eine Faust auf den Kehlkopf presst und Stimmen zum Versagen bringt.
Viele saßen so beieinander, viele schwiegen und nicht minder viele starrten dabei in ihre Gläser, ähnlich wie sie es jetzt taten. Nirgends jedoch war es so leer und so hoffnungslos wie hier.

Man konnte im Grunde viel vergessen und man konnte verdammt viel falsch machen (selbst in Zeiten wie diesen), aber DAS FORMULAR durfte man nicht vergessen.

Kleinen Kindern wurde es gesagt, noch bevor sie das Essen mit Messer und Gabel beherrschten, in jedem Lehrplan stand es ganz oben an und wenn es wieder soweit war, sah man überall im Land die rot blinkenden Neonlettern, die daran erinnerten, es auszufüllen - die davor warnten, es womöglich zu vergessen. DAS FORMULAR ging jedem in Fleisch und Blut über. Man dachte daran, wann immer es nötig wurde und seine Allgegenwart war ständiger Wegbegleiter. DAS FORMULAR war immer da, so wie das Blinzeln der Augen und das Verengen der Pupillen bei Sonnenschein.

Die Welt hatte sich im Lauf der Jahre verändert. Alles sollte schneller und einfacher gehen, alles musste perfekter sein und anfangs schien es das auch zu werden. Alles wurde belegbarer und kontrollierbarer. Alles wurde registriert und konserviert und der nach Vollkommenheit strebende menschliche Verstand hatte Hochkonjunktur............und ebenso die Papierindustrie.
Für alles gab es Belege.
Später dann gab es Belege für die Belege und noch viel später wurde der Beleg von Nöten, welcher die Belegbarkeit des Beleges für den „Urbeleg“ gewährleisten sollte.
Dann kam die Zeit der geistigen Rezession.

Sie wurde überwunden!

Im Mai vergangenen Jahres wurde - an göttliche Perfektion grenzend - DAS FORMULAR geschaffen.
Der Mensch hatte es erreicht, etwas zu zeugen, was ihn selbst überbot, ihn zu seinem eigenen Sklaven machte.
Geistige Sadomanie.

Die Drei saßen noch immer da, und ihre Gläser waren halbvoll. Auf dem Boden lagen Belege. Belege für den Wasserverbrauch, das Brot, für die Butter, den Strom und die geatmete Luft.
Dazwischen lag DAS FORMULAR, unausgefüllt und unregistriert. Er hatte es vergessen abzugeben.
Seine Hinrichtung würde in drei Stunden vollstreckt sein. Bis dahin hatte er Zeit Abschied zu nehmen und sich darüber klar zu werden, warum er es vergessen hatte: ...............

...............das „FORMULAR ZUM WEITERLEBEN“.



Autorentreff-Newsletter

Lass dich per E-Mail über neue Beiträge informieren.

Loading

Autor:in

Bordeaux

Bordeaux

Ehemaliges hhesse.de Mitglied

Du schreibst selbst Gedichte?
Veröffentliche dein Gedicht im Autorentreff von hhesse.de.

Kommentare

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments