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Des Pförtners Feierabend – oder – von Geistern und schlafenden Igeln

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Tag ein Tag aus saß er da also hinter seiner Glasscheibe, auf seinem Stuhl, an seinem Schreibtisch und tat die Dinge, die ein Pförtner eben so zu tun hatte. So war es und so würde es bleiben; dies zumindest hatte er immer geglaubt. Doch manchmal geschehen Dinge, die den Glauben lügen strafen.
Manchmal geschehen Dinge, die selbst einen Pförtner nachdenklich stimmen.
Und so stand er nun am Fenster und blickte hinaus zu den ersten kalten Dezemberschneeflocken, die aus einem trüben Dezemberhimmel auf das alte Laub eines abgelebten Jahres fielen. Irgendwo dort, im kleinen Park gegenüber; irgendwo dort, wo sich das alte Laub sammelte und wo der Schnee liegen blieb, da hielten die Igel ihren Winterschlaf.
Der Pförtner stand am Fenster und dachte an die Igel. An die Igel und an die Geister, die er nun kennengelernt hatte.
Es war ein Tag wie jeder andere gewesen. Mit all dem, was das Leben eines Pförtners so ausmachte. Er sah die Kollegen kommen, sah sie hin und sah sie her gehen, in den Gängen
des Amtes, sah sie machen und sah sie schaffen, diskutieren und analysieren, auswerten und entscheiden. Dann irgendwann, wenn die Zeiger der Uhr dem Nachmittag entgegen geschlichen waren, sah er sie auch wieder gehen. Doch waren es die selben? Irgendetwas schien mit ihnen zu geschehen - in der Zeit zwischen Beginn und Feierabend. Und manchmal glaubte der Pförtner, er wäre der Einzige, der diese merkwürdige Metamorphose tatsächlich bemerkte.
Wenn er die Menschen auf der Straße beobachtete, dann lächelten sie, klopften sich gegenseitig die Schultern oder sie gingen Hand in Hand, doch wenn sie das Amt betraten und aus den Menschen Kollege, Amts- oder Sachgebietsleiter, Sach- oder Mitarbeiter geworden war, dann schien das Lächeln, Schulterklopfen und Händehalten zumeist vergessen.
Es war, als würden sie es draußen vor der Tür abschütteln, wie den Schnee und altes Laub auf dem Fußabstreicher. Dann trat der Ernst an die Stelle des Lachens, in die Gänge und hinter die Türen, wo Formulare raschelten, Drucker druckten und Kugelschreiberminen emsig über Papiere glitten.
Überhaupt schien sich alles zu verwandeln, sobald es das Haus betrat. Aus Herrn X und Frau Y wurden „die Bürger“, aus Schicksalen wurden Aktenzeichen und viel zu oft wandelte sich Harmonie zu Diskrepanz.
Auch die Sprache verwandelte sich und während „die Bürger“ meist schimpften, weil das Bußgeld wieder einmal viel zu hoch und die Bürokraten viel zu bürokratisch und die gelben Säcke wieder einmal viel zu schnell alle waren, schienen „die Kollegen“ immer öfter darüber nachdenken zu müssen, was sie wem und wem sie und ob sie überhaupt noch irgendwem irgendetwas offen sagen konnten.
Das alles war dem Pförtner nie ganz klar geworden und hatte er sich auch noch so oft gefragt, warum es denn so war, so fand er keine Antworten.
Dies jedoch hatte sich heute geändert.
Die Zeiger der Uhr waren wieder dem Feierabend entgegengeschlichen und nach und nach waren alle gegangen. Draußen war es dunkel geworden und gegen 17 Uhr fielen die ersten Schneeflocken vom Himmel. Stille sank auf die Gänge und Zimmer des Amtes, genau wie Schnee auf altes Laub.
Das Haus atmete die Betriebsamkeit des Tages mit einem letzten Seufzer aus, als der Pförtner die Schatten bemerkte. Zuerst glaubte er, es wären tatsächlich Schatten, doch dann formten sie sich zu Konturen. Schemenhafte Gestalten huschten nun durch die Gänge, wehten wie Herbstwind um verwaiste Schreibtische. Um Formulare, die nicht mehr raschelten und Drucker die nicht mehr druckten. Kugelschreiber lagen still in Schubladen, während die Gestalten durch die Ritzen verschlossener Bürotüren krochen. Akten und Vorgänge ruhten, in der Zeit, wo Schattengestalten grinsend durch ihr Revier tanzten.
Wurde jetzt, wo Feierabend war, die wahre Belegschaft des Amtes sichtbar? Waren diese dunklen Gestalten, die Antworten auf die Fragen des Pförtners?
Und wie mochten sie wohl heißen, dachte sich der Pförtner, als ihm eine Schattengrimasse fröhlich aus einem Schattenauge heraus zuzwinkerte und wie Nebel um die Stechuhr spülte piep, piep, piep.
Vielleicht waren ihre Namen: Streß, Hektik, Anspannung, Konkurrenzkampf und Existenzangst. Vielleicht lauerten sie jeden Tag hinter dem Haupteingang, so wie Parasiten auf ihren Wirt. Vielleicht... .

Der Pförtner stand noch immer am Fenster und blickte in den Dezemberschnee, der auf das Laub eines abgelebten Jahres fiel.
Er dachte an die Igel, die tief unter dem Laub ihren Winterschlaf hielten.
Er sah den Dezemberschnee und wünschte sich, die Geister, die er nun kennengelernt hatte, täten es, zumindest jetzt, wo es Weihnachten wurde, den Igeln gleich.

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Bordeaux

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