← Zurück zur Übersicht

Kinderkind

Share
Kinderkind

Meine Augen stehen in Tränen. Die Tage sind zu lang und ich weiss nicht mehr wo ich hindenken soll, wie ich den nächsten Augenblick überstehen kann, ohne ganz abzurutschen. Wir hatten Gesprächsstoff für eine Viertelstunde, dann war auch das vorbei und ich bat dich zu gehen. Meine Einsamkeit geht niemanden an. Ich möchte sie nicht mit dir teilen. Ich habe wohl den Glauben an die Sprache verloren, an Kommunikation sowieso. Zumindest ablenken konnte sie mich doch hin wieder. Und manchmal mich sogar ganz vergessen lassen; in der Intensität eines Gesprächs. Das ist jetzt vorbei. Die Automation und Selbstverständlichkeit meines bisherigen Lebens ist ganz empfindlich gestört. Ich zerpflücke und vergewaltige Situationen. Oft mit hämischer Schadenfreude und Genugtuung meinem Gegenüber seine wertvolle Lebenszeit zu stehlen und ihn auf meinen Charme auflaufen zu lassen. Die Mechaniken des Lebens sind mein Ziel. Sand für das Getriebe, Irrwege für deine Venen.

Jetzt, wo du doch schon lange gegangen bist, versuche ich mich angestrengt am freien Atmen. Aber die Luft schmeckt nicht. Sie ist leer und verbraucht. Ich hasse Sauerstoff, ich will damit nichts zu tun haben. Wenn die Bäume und Pflanzen wüssten, was sie jeden Tag an nährreichen Gasen produzieren und damit die trübsten Gedanken und Taten antreiben. Sie würden vielleicht eingreifen und gleich einer grünen Horde unbeweglicher Märtyrer ihr Chlorophyll verschlucken und ihr gefährliches Treiben einstellen. Aber damit ist nicht zu rechnen, die Flora ist da gnadenlos. Ich habe mehrmals versucht die Sache für mich abzuschließen. Auf dem einzigen Wege, der einem Neugeborenen zu Gesicht steht. Das ist eine komplizierte geistige Übung. Von jetzt auf dann die Atmung zu unterlassen und der lieben Welt den Rücken zu kehren ist wahre Kunst und das schon früh erklärte Ziel meines Daseins. Mein Dasein, diese Katastrophe. Dieser nicht enden wollende Schreck. Doch, es wird enden. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann und wie ich erfuhr, dass ich sterblich bin, aber es muss mich hart getroffen, die Katastrophe gesteigert haben. Als ich noch ein Kind war, konnte mich der Tod trotzdem nicht wirklich schrecken. Denn ich würde ihn verweigern, die Augen nicht schließen und weiter mit traurigem Trotz meine Katastrophe beäugen. Nein! Ich würde niemals sterben, konnte gar nicht fassen, dass so viele es trotzdem versuchten und taten. An jedem Tag taten sie es. Im Fernsehen, im Radio, draußen starben sie dahin wie die Fliegen und ich wusste nicht warum. Insgeheim war ich natürlich mit der Sache vertraut. Du bist jetzt sieben Jahre alt und deine Erinnerung reicht zurück in vergangene Ewigkeiten. Die Leute werden grau und uralt. Ja, so ein Leben ist quasi unendlich. Schon ein einziges Jahr ist ja kaum aufzubrauchen. Geschnitten, mein Freund. Die Zeit beschleunigt. Du kreiselst hoffnungslos auf das Zentrum des Strudels zu. Und was wird dann sein? Was bedeutet es, „nicht mehr am Leben zu sein“? In meinen frühen Geistesübungen und Todesvorstellungen war zwar das Licht erloschen, die Sinne nur noch Erinnerung und die Fähigkeit zur Bewegung abhanden gekommen, aber das Bewusstsein war noch da. Das war mein damaliger Tod. Heute muss ich das alles nüchterner betrachten, meine optimistische Vision korrigieren. Heute bin ich auch im gewöhnlichen Alltag schon deutlich toter, als in meinen damaligen Fantasien. Heute tröstet mich der Tod, ist mir der einzige Verbündete und Lebensziel. Ich bin nicht depressiv oder gemütskrank. Keine volkstümliche Ermattung könnte bei mir bestehen. Ich weiss, wie ich dem Körper die so wichtigen Botenstoffe, Enzyme und Hormone abgewinnen kann. Ich weiss, wie man glücklich wird. Es ist ganz leicht. Doch es ist nicht mein Ziel. Ich nehme das Glück mit mir, wenn ich mich eines Tages selbst beende und meine gemarterte Seele sich schließt.

Freitag:

Ich kam von der Arbeit nach Hause und wusste, heute müsse noch etwas geschehen. Etwas ganz Unglaubliches und Einmaliges, sonst würde die Zeit stehen bleiben und der Nachmittag mir zum ewigen Arrest werden. Guter Dinge verstaute ich also die eingekauften Sachen in den Schränken und Regalen, setzte mir einen Kaffee an und drehte das Radio auf. Musik ist Freund und Feind. Ist Magier und Langweiler und kommt grundsätzlich nicht aus Lautsprechern, sondern nur aus den Abgründen und herab von den Gipfeln deiner selbst. Erstaunlich wie sich die bekannten Platten im Laufe der Zeit verschoben und entwickelt haben. Heute höre ich das selbe Stück ganz anders, als ich es noch vor zwei Jahren hörte oder in zwei Jahren hören werde. Ich neige dazu mich in eine neue Platte zu verlieben, sie rauf und runter und tot zu spielen, bis ich meine, sie allseitig zu kennen und nichts neues darin finden zu können. Und da liegt der Trugschluss. Musik wird genau wie Literatur als unfertiges Produkt gekauft und durch Momente, ob golden oder eher blechern ist der Kunst ganz gleich, zur Vollendung gebracht. Der Konsument macht die entscheidende Arbeit selbst. Die Musik in meinem Besitz, ist also nicht nur Unikat, da sie ja ein jeder anders hört. Nein, sie ist ein Phantom. Ein Chamäleon, genau wie ihr Eigentümer. Mit flinken, schlauen Fingern durchforste ich meine Plattensamlung und dann, hoppla, weiss der Geier, wie das funktioniert, werde ich fündig. Ich stoße auf die einzige CD, nach der die Situation verlangt und übergebe sie dem komplizierten Gerät, welches die eingebrannten Harmonien und Dissonanzen in diesen Raum schleudern und ihn ganz damit ausfüllen wird. Der Opener ist ein schnelles Stück von schwungvollem Rhythmus. Es ist gut und richtig so, die Grundierung ist aufgetragen und mittlerweile ist auch der Kaffee soweit. Das Leben funktioniert.
Als ob es schon immer so gewesen wäre. All die groben Patzer, die Enttäuschungen und Peinlichkeiten liegen noch gut sichtbar hinter mir, aber abgeschlossen. Sie sind erlebt, sie haben ihre Schwere verloren. Notwendig erscheinen sie mir jetzt. Und notwendig werden auch die Fehler der Zukunft sein. Ich muss mich nicht vermeiden, ein herrliches Gefühl. Am schweren Esstisch sitzend überflog ich die Tagespresse. Wie immer ist sie randvoll mit allerlei merkwürdigen Gemeinheiten, die sich Menschen gegenseitig aus verzweifelten Antrieben heraus antuen. Ein junger Mann ist gestern kastriert und ermordet aufgefunden worden. In einer Stadt nicht weit von hier. Ich denke an ihn. Was er wohl getan hat, was er als Kind erlebt haben könnte und wie ist er in eine so missliche Lage geraten? Und ich denke an vorige Woche. Mehr noch als die aktuellen Opfer interessieren mich die künftigen. Ich hatte vor einer Woche schon an ihn gedacht. Als er oder sie noch lebte und mit den selben Zaubern und Nöten wie ein jeder sein Leben bestritt.
Ich dachte: „Mensch, vielleicht schon morgen werde ich von deinem Ende in der Zeitung Bericht finden. Heut bist du noch Leser, wie ich und wir anderen und morgen ist nur noch eine Spur von dir, gedruckt als Überschrift und sachlich kurzer Text, auffindbar.“

Wie geht man damit um? Verdrängung. Was sonst? Das Leben geht weiter, wenn auch deines zu Ende ist, mein Gott. Diese Kälte. Ich würde mich nicht als Opfer des Informationszeitalters sehen, eher als Betroffener. Ich nehme mir gerne die Zeit, ein wenig den Toten nachzusinnen, auch wenn ich sie nicht kannte und meine Vorstellungen reine Fantasiegebilde sind. Das spielt gar keine Rolle. Ich nehme sie auf und gliedere sie in meinen eigenen Schmerz ein um damit nicht so allein dazustehen.
Zum Glück findet sich ja auch allerlei Erheiterndes in meiner Zeitung. Auch daran nehme ich gerne unbemerkt teil. Ein Rentnerpäarchen streckt gütig und schon ein wenig überreif lächelnd einen riesigen Kürbis in das Bild. Eine lokale Rekordfrucht, warum nicht? Ich lese von einer Gewerkschaftsdemonstration. Die zu diesem Ereignis aus verschiedenen Städten herbeizitierten Polizeikräfte kamen sich offenbar aus irgendeiner nicht geregelten Kompetenzfrage in die Haare. Die Lage eskalierte und die Ordnungshüter beschimpften einander aufs Übelste und versuchten sogar sich gegenseitig zu verhaften. Erst dazwischengehende Demonstranten konnten die Lage ein wenig entspannen. Ich mag solche Geschichten und wäre gerne öfter selbst darin verwickelt.
Ich wollte leben, ich wollte heute noch so richtig leben. Ich schob das Blatt beiseite und schlurfte am Kaffee. Aber was? Was fällt dir ein? Nur unnütze Gedanken meldeten sich an. Herrgott, darf hier denn jeder rein? Komm schon, du hast nicht ewig Zeit, streng dich an. Es kam nichts, je mehr ich suchte und je mehr ich es wollte, desto unklarer wurde mir der Tag und mein Leben darin. Ich kam zu der Erkenntnis, dass ich auf diesem Wege nicht fündig werden könne und beschloss, es einfach so hinzunehmen und nach draußen zu gehen. Im Treppenhaus roch es nach Hausputz und die Stufen waren noch mit nassen Flecken bedeckt. Nicht berühren! Ich nahm drei Stufen auf einmal, dann einen ganzen Absatz, wo ich mir ein wenig die Handfläche am Geländer verbrannte, welches eigentlich meinem Sprung als Führung dienen sollte, stolperte durch die Tür und nach draußen auf die Straße. Es ist eine kleine Stadt und an manchen erhöhten Stellen kann man von einem Ortsrand bis zum anderen blicken. Dazwischen liegt diese mir so vertraute Struktur aus Straßen, Gebäuden, Parks und Grünflächen. Vielgesichtig ist dieser Ort. Manchmal erscheint er mir noch als das Paradies meiner Kinderzeit, sonnig und mit Kondensstreifen ziehenden Fliegern am blauen Himmel. Und wenn das Echo lachender Kinder zwischen den Wohnblöcken hin und her geworfen wird, dann ist es wie früher. Dann ist es, als ob auch mein Lachen noch zwischen den Häuserzeilen stehen würde. Hell und ehrlich, zutiefst beglückt. Es weht dann der alte Wind noch einmal, der die tiefe Verwurzelung meiner jungen Jahre in dieser, meiner Welt nur sanft berührt und pflegend streift. Anders schaute mich die Stadt in manchen Nächten an. Wenn ich frierend und berauscht durch die verregneten Gassen schlich. Dann sah ich hier die finsterste Seite des Mittelalters, vermutete an jeder Ecke ein Attentat und roch schon mein Blut.
Heute war es schön, die frühe Abendsonne stand hinter den entfernten Hügeln und tränkte die Straße in ein bezauberndes Gold. Ich liebe dieses Licht, es zeigt die Welt von ihrer schönsten Seite und jede solche Minute ist unendlich kostbar, durch massives Gold nicht aufzuwiegen. Ich schlenderte über den Friedhof, nahm ein paar Umwege und genoss die klare, warme Luft. Vertraute Menschen begegneten mir unterwegs und man nickte einander zu oder wechselte ein kurzes Wort. Andere, obwohl seit Jahren bekannte Gesichter werden wohl nie zu mir sprechen. Ein Großteil des Menschenpools in Städten solcher Größe kennt sich durch jahrelanges Sichbegegnen zumindest optisch recht gut. Man verfolgt die Entwicklungen, sieht die Gesichter über die Jahre altern, sieht sie lachend, sieht sie staunend oder hilflos dahinblickend immer und immer wieder. In diesem lose gesponnenen Netz der Bekanntschaften spielen Namen, Berufe, Ansichten und Einstellungen keine Rolle, denn man weiss nichts darüber. Man denkt auch nicht groß an diese Leute. Nur wenn man sich mal wieder trifft, auf der Straße oder beim Einkauf, rücken die kurzen Momente, die man mit diesen Leuten teilte, zusammen und werden stumm ergänzt. Einige sieht man gar nicht mehr. Es gab in unserer Stadt einen Obdachlosen, welcher in braunem Mantel und mit schneeweißem Haar einen Winter nach dem anderen überstand. Er hatte durch sein Raucherbein einen eigentümlichen Gang und ein gewisses heruntergekommenes, versoffenes und verlottertes Charisma. Trotz seines eher kargen Lebens merkte man ihn nie fluchen oder auch nur ärgerlich dreinschauen. Er war immer in Bewegung, ich sah ihn nie sitzen und ruhen. Er zog immerzu seinen verkrüppelten Fuß durch die Stadt, einen Beutel voller Schnaps bei der Hand. Dann irgendwann entdeckte ich ihn lange nicht mehr, dachte ab und zu an den armen Penner, aber blicken lies er sich nicht mehr. Er muss wohl gestorben sein.
Ob er hier ein Grab hat? Welchen Namen haben ihm seine Eltern gegeben? Ich lasse mich treiben, von fernen Grabsteinen anziehen und wieder abstossen. Maria Weber, 1988-2001, vom Erdboden verschluckt. Heinrich und Annegret Probst, im Tod geschieden. Hübsch angerichtete Familiengräber stehen würdevoll unter den Kiefern. Die Botanik an diesem Ort ist überhaupt sehr reizvoll, ein märchenhaftes Mahnmal des Lebens, bestückt mit jenen, die solche Köstlichkeiten hinter sich gelassen haben und nun in stiller Einheit andere Aufgaben erfüllen. Vereinzelte Lebendige bewegen sich dazwischen, suchen die Ruhestätten ihrer Liebsten auf und entzünden geduldig die Teelichter aufs Neue. Man sieht alte Frauen an den Gräbern ihrer verstorbenen Gatten Blumen ablegen, kurz innehalten und sich dann langsam auf den einsamen Heimweg machen. Um dem Schnitter nicht zu schnell in die Arme zu laufen oder ihm ein leichtes Ziel zu bieten, bleibt ungewiss. Ich bin eigentlich gerne an diesem Ort, eben weil er visuell und atmosphärisch sehr angenehm ist. Aber hin und wieder, wenn mir ein Trauernder eine besonders schwere Last zu tragen scheint, fühle ich mich verlogen und fehlplatziert. Ich habe hier kein Grab, an das ich gehen und einer lieben Seele gedenken kann. Ich bin wegen allen hier und vielleicht sollte ich das nicht sein. Freilich spricht mich niemand darauf an, was den Vorwurf aber weiter ungewiss in mir bestehen lässt. Ich bemühe mich, niemanden zu stören, gehe nicht in die Nähe eines mit Grabpflege beschäftigten Trauergastes und entferne mich unaufdringlich, wenn ein solcher eine Grube neben der Bank, auf der ich sitze, aufsucht. Um die durch die Zeit getrennten Freunde und Liebenden miteinander allein zu lassen.
Ich erinnere mich, wie wir früher als halbgare, der Kindheit entlaufene, aber noch nicht ganz jugendliche Kameraden zwischen den Büschen standen und heimlich rauchten. Das heisst, meine Freunde rauchten, damals hatte mich der trügerische Reiz dieses Lasters noch nicht betören können. In manchen Spielpausen beim Fußball kam eine feierliche Atmosphäre auf und dann gingen sie schnell nach drinnen, kramten aus sorgfältig gewählten Verstecken die teuren Zigaretten hervor und wir machten uns auf den Weg zum Friedhof, in unsere von Büschen abgeschlossene und vor ungewünschten Blicken sichere Ecke, um dem Mythos zu fröhnen.
Es war eine gute Zeit, und weil sie längst vergangen und überlebt ist, finde ich sie geheimnisvoll verklärt in meiner Erinnerung. Das verlorene Paradies, das sorgenfreie Forschen in einer jungen und von Geheimnissen umschlossenen Existenz.
Als ich mich auf den Weg zur Friedhofspforte machte, kam mir ein kleines Mädchen entgegen. Sie hatte einen Heliumballon an einer kurzen Schnüre um ihr Handgelenk gewickelt und schien sichtlich vergnügt. Sie tappste eifrig auf mich zu und als wir auf gleicher Höhe waren, da blickte sie mich ernst an und sagte: „Hallo du!“.
Dazu hob sie flappsig den Arm und ihr Ballon zerplatzte an einem tief überhängenden Nadelgehölz. Sie war ganz erschrocken und schaute mich mit großen Augen an.
„Was machst du hier?“ brachte ich hervor.
„Ich habe gespielt.“ erwiederte sie traurig und schaute dabei auf die Fetzen, die jetzt an der Schnüre baumelten. Sie tat mir leid und ich wollte sie trösten.
„Soll ich dir einen Neuen kaufen?“
Nun kicherte sie plötzlich und schaute mich überlegen an. „Warum?“
„Na, damit du weiterspielen kannst.“
Sie tat ganz erstaunt und musterte mich mit verkniffenen Augen.
„Keine Zeit!“ rief sie plötzlich und rannte davon. Ich schaute ihr lächelnd nach und beobachtete, wie sie sich noch einmal nach mir umdrehte, kurz lachte und dann um die Ecke verschwand. Braves, kluges Mädchen, deine Eltern können stolz auf dich sein. Ich freute mich daran, sie getroffen zu haben und wünschte ihr innerlich ein langes und erfülltes Leben.
Dann ging ich heim.

Samstag:

Am Wochenende lasse ich es mir nicht nehmen ganz auszuschlafen und oft liege ich noch stundenlang zwischen Schlaf und Wachtraum in den Kissen. Ich umklammere die Bettdecke mit beiden Beinen und spanne alle Muskeln an, lasse sie wieder erschlafen, betrinke mich an meiner Körperlichkeit. In diesen Momenten lasse ich die Endorphine ganz gewollt und gewollt unkontrolliert in mir aufzucken. Ein Lächeln erobert mein Gesicht und wird hörbar und zum Lachen, wenn ich es will. An manchen Tagen lässt sich die ganze Zeit über von einem so geglückten Start zehren. Meistens aber kehrt schnell Normalität und Alltag ein, und manchmal, da schlägt die Stimmung ohne scheinbaren Grund um. So wie jetzt.
Mit grauer Vorahnung schob ich mich aus dem Bett. Ich spürte nichts als Unlust und Übersättigung. Das Kreuz tat mir weh und stach begierig von hinten auf mich ein. Nicht noch ein Tag! Nicht noch ein Tag! Im Badezimmerspiegel erblickte ich eine Fratze, gebranntmarkt von unzähligen durchwachten Nächten, von ziellosen Saufereien gezeichnet. Als ich mir behäbig und launisch die Zähne putzte, schmerzten sie und ich wartete nur darauf, dass Blut floss. Ich biss in die Zahnbürste bevor ich ausspuckte und war ganz angeekelt von mir, dem Affen, und dem Leben, dem trostlosen. Was mache ich jetzt nur? Du hast viel zu viel Zeit. Bin ich doch meist froh neben meiner Arbeit keine großartigen Verpflichtungen zu haben, überkam mich jetzt eine tiefe Sehnsucht nach Realitäten, Verantwortung und einem lieben Menschen an meiner Seite. Sei kein Idiot! Mit dir ist nicht gut Kirschen essen! Keine hat es verdient an meiner Seite leben zu müssen. Zu vertraut ist mir die schöne Bedingungslosigkeit des Lebens. Zu heilig die perfekten Voraussetzungen, die ich hier vorfand und welche sich immer wieder aufs Neue bestätigen. Vielleicht kann keine Frau an das heranreichen, was sich mir ungestört und unerschöpflich jeden Tag an Möglichkeit bietet. Du hast Lust auf Depression, auf einsam euphorisches Versacken in Erinnerung und Melancholie? Selbst wenn sie es wöllte, und wenn sie vernünftig ist, will sie es nicht. Selbst dann wäre sie nicht in der Lage mir diesen Weg zu folgen und ihn artig rebellierend zu begehen. Nein, da kommt wohl außer mir keiner hin. Und darauf verzichten werde ich nie können. Ich musste kurz seufzen. Wer würde mich schon verstehen? Die Lächerlichkeit, die über mir in diesem Raum stand, war mir nur allzu bewusst und machte die Sache auch nicht besser. Im Spiegel sah ich mein Gesicht stumm und hilflos meinen Blicken ausgeliefert. Sah seine Form, den schmalen Mund, die schönen Wangen. Eine Strähne hing mir quer über Auge und Nase. Die Rasur lasse ich heute aus, so wie gestern. Langsam und planlos ging ich aus dem Badezimmer.
Das Leben macht mir überhaupt keine Freude, wenn ich es mir stark genug einrede. Jetzt könnte kommen, was will. Ich würde, wenn ich in meiner Verpuppung überhaupt etwas mitbekäme, alles als widerlich öde und fad empfinden. Der Tag stellt nichts in Aussicht und auf morgen könnten wir, wenn es nach mir ginge auch gleich verzichten. Warum ich mir das antue? Ich weiss es nicht, ich muss.
Ich griff nach den Zigaretten, fischte eine heraus und steckte sie mir an. Meine Lunge reagierte mit einem kurzen, schwarzen Stich und ich erklärte ihr zum wiederholten Male feierlich den Krieg. Wenn mir schon der idiotische Mumm fehlt, einen Mundschuss anzusetzen, so will ich doch wenigstens sicher gehen nicht übermäßig lang diesen lästigen Quälereien ausgesetzt zu sein, die mir meine Gedanken bereiten. Du bist ein dummer Mensch, sag ich mir. Ein dummer Mensch. Ach was, man kann nicht an jedem Tag auf der guten Seite stehen. Ich überlegte, ob ich diese Erkenntnis betrinken sollte. Ein dummer Mensch. Der blaue Rauch wird geräuschvoll von mir eingesogen, kurz innegehalten und verlässt meine subtil angewiderte Mimik auf dem gleichen Wege, kleine Karzinome hinterlassend. Ich habe Allen Carr gelesen, ich habe ganze Nächte damit verbracht einen Infarkt zu vermeiden, es hat nichts genützt, ich will sterben. Bemerkenswert an der Sucht ist, dass sie funktioniert. Der Süchtige sucht nicht, nein, er weiss, was er will. Sorge für einen ausreichenden Vorrat an Suchtmitteln und das Spiel geht weiter. Für den Süchtigen problematisch wird die Sucht doch meist erst, wenn die Suchtmittel schwinden und schließlich ganz aufgebraucht sind. Sucht scheint mir wie Selbstbefriedigung, nur effektiver, auch effektvoller, wenn ich an bewusstseinsstimulierende Substanzen denke, und nicht zuletzt weit weniger gesund. Trübe Erinnerungen an die ersten Joints kommen mir wieder. Das große Staunen und die zunächst nur körperliche Ermattung. Fliegende Gedanken und der berühmte, oft zitierte Film. Warum der Mensch zur Droge greift? Das unbedingte Verlangen nach Intensität, das scheinbare Ausloten, Anreissen und Wegbrechen von nicht minder scheinbaren Grenzen. Das Wort „Subjektivität“ leuchtet grell und fürchterlich in den Köpfen der Konsumenten. Oh ja, ich verzichte auf euch, auf mich und den Rest. Seht ihr, wie ich mich plätten und verfalten kann? Ich hatte die Kifferei aufgegeben, probierte psychedelische Sachen, lies auch das hinter mir und kam zu dem Schluss das Alkohol, das „Edelste“ so die Übersetzung, mir vollkommen genügte um einen Samstagabend in einem anderen, weltfremden und erstaunlich klaren Licht zu sehen. Warum ich ausgerechnet bei der gefährlichsten dieser Substanzen hängen geblieben bin, kann ich leicht erklären. Der Konsum von Hasch und Marihuhana legte mich, je nach erworbener Menge, gleich immer für Tage oder Wochen lahm. Die Arbeit blieb zwar davon weitestgehend unberührt, doch hatte ich es nicht unter Kontrolle. Kam ich nach Hause, musste ich kiffen, bis spät in die Nacht hinein. Ich verlies kaum das Haus und sah meine sozialen Kompetenzen durch einen Nebel aus Lethargie und psychotischen Schüben den Bach runter gehen. Marihuana ist die Droge, die dafür sorgt, dass ein einsamer Mensch auch einsam bleibt. Irgendwann hing mir das zum Hals heraus. Psychedelische Drogen haben ihren ganz eigenen Dreh und ich kam schnell dahinter, dass ich es hier nicht mit einer Alltagsdroge wie Gras zu tun habe. Ich hatte ein paar Trips, erlebte allerhand Erstaunliches dabei und fühlte mich zuletzt schrecklich allein. Ich möchte nicht ausschließen, dass es mich eines Tages noch einmal in diese Welt hineinzieht, aber für die nächste Zeit schien mir mein Bedarf gedeckt. Lasst uns noch kurz auf den Alkohol zu sprechen kommen, bevor wir dieses leidige Thema hinter uns lassen. Neben der Wirkung faszinierte mich hier vor allem das Ritual des Trinkens, welches sich auf Grund seiner Natur über einen längeren Zeitraum erstreckt, als das schnelle Durchrauchen eines Kopfes oder Joints, oder auch das Verzehren psychoaktiver Pilze oder ähnlichem. Weil es mir ganz generell an Beschäftigung mangelt, was freilich mein eigenes Unvermögen ist, kam mir das sehr gelegen. Die Droge ist gesellschaftlich akzeptiert und leicht zu besorgen. Ein weiterer Vorteil ist der schnelle Abbau inklusive restloser Vertilgung gar zu erschütternder Erlebnisse im Endstadium eines Vollrausches. Ich trank nicht viel, denn das vertrug ich gar nicht. Nur wenn ich einmal anfing, zog ich es durch bis ein anständiger Level erreicht war. Ich trank mit Freunden, Fremden, mit mir versöhnten Feinden, schönen Frauen und ich trank allein. Würde ich all die im Rausch erlebten, erlittenen und geliebten Geschichten unversehrt in meiner Erinnerung vorfinden, ich könnte mich weiss Gott nicht eines langweiligen Lebens beklagen. Hier und da meldet sich der Körper und dann höre ich genau hin, verbanne das geistige Getränk für Wochen und Monate aus meinem Leben und genieße andere Wege. Ich bin ein Effekttrinker, meist etwas klammtrocken, ein erlesener Alkoholist.
Sollte es denn heute Abend wieder so weit sein? Tat es wirklich Not wieder dehydriert aufzuwachen, mit einem Gefühl, als wäre ich irgendwann im Laufe der Nacht aus dem Kopf gefallen? Ich wollte mir darauf noch keine Antwort geben. Draußen fing es plötzlich heftig an zu regnen und die Tropfen prasselten taktlos gegen das Dachfenster. In der Ferne vernahm ich das anschwellende Grollen eines heraufziehenden Gewitters und ich sah mich einmal mehr dem Schutz meiner Behausung ausgeliefert. Aber das ist schon in Ordnung so. Auf einem Nachttischchen stand ein primitives Schachbrett auf dem der Verlauf einer fortgeschrittenen Partie festgehalten war. Fernschach, seit Tagen warte ich auf die E-Mail, ich bin nicht am Zug. Der Regen fällt. Von meiner Mutter habe ich eine wohlige Freude am Wetter, dem unbeeinflussbaren, vererbt bekommen. Ich beugte mich über das karierte Schlachtfeld, durchdachte die Möglichkeiten meines Kontrahenten, entwickelte und verwarf Varianten der Reaktion auf verschiedene Inhalte der zu erwartenden Elektropost. Ich bin wahrlich nicht sonderlich talentiert in diesem Spiel, aber man hat ja Zeit und nichts besseres zu tun. Springer, Läufer, was auch immer, ich war schließlich gewappnet und es sah ganz gut für mich aus. Eine Schachpartie mit einer Gegnerschaft auf ähnlichem Niveau ist eine sehr reizvolle Sache, ein geistiger Schlagabtausch, der mitunter äußerst inspirierend wirken kann. Wie im wirklichen Leben erfordert der Erfolg seinen Tribut. Wer nicht bereit ist zu opfern und loszulassen wird am Ende alles verloren haben. Dazu gefällt mir die Symbolik recht gut. Die unverzichtbare Basis der Bauern, die mächtige Dame und der etwas behäbige, fatal verletzbare König an ihrer Seite. Wie sehr die Krone doch der Narrenkappe ähnelt!
In diesem Moment erinnerte ich mich an ein Telefonat, dass ich vor ein paar Tagen mit Lilith führte. Lilith ist die große, platonische Liebe meines Lebens und ich hoffe für mich, dass sie es bis zum Schluss bleibt. Wir hatten getratscht und festgestellt, dass es an der Zeit wäre sich wiederzusehen. Sie würde heute Abend in der Stadt auf mich warten. Ich wollte sie nicht schon wieder enttäuschen, also beschloss ich, nicht abzusagen und sie nachher zu treffen.
Diese Aussicht besserte meine Laune ein wenig und ich riskierte einen Blick in das Fernsehprogramm. Es war Mittagszeit und meine Erwartungshaltung entsprechend niedrig. Das Erste sendete irgendeine Schnulze, die ich schnell übersprang. Mit dem Zweiten sieht man besser, nicht heute. Jetzt kamen die Privaten, Gerichtsshows, Talkshowwiederholungen, Anime auf RTL II, Promiklatsch auf Pro7, Promiklatsch auf VIVA, N-TV fesselte mich kurz mit seinem Live-Cam-Rundblick. Danach lief eine Börsensendung, die mich nicht interessierte. Also schaltete ich weiter, aggresive Klingeltonwerbung, gleich zweimal auf benachbarten Programmplätzen, auch die Dritten hatten leider nichts Spannendes im Angebot. Des Nachts trifft man hier auf wirklich interessante Leute. Harald Lesch und Thomas Schwarz. Bob Ross – The Joy of Painting. Ich habe es oft genossen, ihm dabei zuzusehen, wie er in einer halben Stunde eine tolle Landschaft zu Papier bringt. Von seiner beruhigenden Stimme eingelullt, saß ich vor dem TV-Gerät und beobachtete den faszinierenden Entstehungsprozess eines solchen Bildes. Viel zu schnell war die Sendezeit verflogen, das Gemälde fertig und Bob winkte in die Kamera: „God bless, my friend.“

Ernüchtert schaltete ich den Fernseher wieder ab und schlurfte in die Küche, um etwas Essbares zu suchen. Vielleicht ist es meine eigene Schuld und Unfähigkeit, dass ich mit all den Sachen nichts anfangen kann. Vielleicht geht es mir einfach zu langsam vorwärts, oder zu schnell. Aber wahrscheinlicher ist mir, dass es mich in der Tat anwidert, vom „Vogelgrippesong“ umworben zu werden. Für wen wird denn das gemacht? Bin ich wirklich so schnell aus der Mode gekommen? Es ist besser, diese Dinge nicht zu nah an mich heranzulassen und ich habe mittlerweile gelernt, zu leben, mit parallel laufender Idiotenhetze im uns alle angehenden Mediendschungel. Soll sich doch ein jeder selbst davor retten!
Und eigentlich steht es mir gar nicht zu, die Gesellschaft zu kritisieren. Denn, wenn ich ehrlich bin, positioniere ich mich aus purer Selbstgefälligkeit weit außerhalb davon und bin entsprechend inkompetent. Aber genug davon!
Meine Fähigkeiten im Zubereiten von Nahrung beschränken sich darauf, kochendes Wasser über den Inhalt einer Suppentüte zu kippen oder eine Pizza in den Elektroherd zu schieben. Erfreulicher Weise liegt auch mein Anspruch nicht höher und so komme ich bestens mit einem bunten Arsenal benutzerfreundlicher Fertiggerichte über die Runden. Meine Gesundheit interessiert mich eigentlich nur, wenn sie akut bedroht ist und selbst dann ist gute Laune die Voraussetzung dazu. Ich bin kein weitsichtiger Mensch, wahrlich nicht.
Ich durchstöberte den Küchenschrank und fand ein simples Nudelgericht, Zubereitungszeit 10 Minuten, genau das Richtige für mich. Bei geöffnetem Fenster machte ich mich an mein dilletantisches Werk und hörte die Kinder draußen in der Mittagssonne spielen, welche sich mittlerweile hatte blicken lassen, um die nassen Straßen zu trocknen. Schläfrig blinzelnd rührte ich gedankenverloren mein Essen fertig und wollte mich gerade hinsetzen, als es an der Tür klingelte.
Überrascht lief ich hin und öffnete. Es war Lilith, und an ihrer Seite erblickte ich zu meinem Erstaunen das kleine Mädchen vom Friedhof.
„Hey Nils!“ grüßte sie mich, während die Kleine mich bloß anstarrte.
Ich gab den beiden die Hand und führte sie in meine Wohnung.
„Ich wollte gerade essen. Wollt ihr auch etwas?“
„Ich nicht.“ antwortete das Mädchen knapp.
„Lilith?“
„Hab schon, danke.“ Sie setzten sich mit an den Tisch, Lilith rechts, das Mädchen links von mir.
„Ich habe sie auf dem Friedhof gefunden, Nils.“ Besorgt schaute ich der Kleinen ins Gesicht, sie wich meinem Blick aus und starrte etwas ängstlich nach unten.
„Sie saß ganz still neben der alten Gruft, du weißt schon..“ Sie schaute kurz, ob ich ihr folgen könne. Ich konnte.
„Ist das wahr?“ fragte ich, dem Mädchen zugewandt. Sie nickte kurz. Lilith sprach weiter: „Sie sagt, sie hat keine Eltern.“ Die Kleine ergriff schnell das Wort.
„Aber das ist nicht schlimm. Wirklich!“ sie schaute mich, um mein Verständnis ringend, an. Ich fühlte mich überfordert.
„Nicht schlimm?“ fragte ich sie leise.
„Nein, kein bisschen.“ sie lächelte. Lilith dagegen schaute mich ernst über den Tisch an. Sie erwartete eine Reaktion.
„Ich kenne sie. Wir sind uns gestern begegnet, stimmts?“
Das Mädchen nickte und sagte etwas übertrieben artig: „Jaha.“
„Wie heisst du eigentlich?“
„Ich heisse Annabell. Aber ich habe Tante Lilli schon gesagt, dass sie mich Anna nennen darf. Willst du mich auch Anna nennen?“ Lilith starrte zum Fenster.
„Annabell, du hast keine Eltern, sagst du?“ Sie schüttelte den Kopf. „Warum? Was ist passiert?“
„Ich weiss nicht.“ Sie rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum.
„Und was machst du? Wo wohnst du denn?“
„Ich weiss nicht. Ich spiele.“
„Anna,“ ich schaute ihr fest ins Gesicht „irgendjemand muss doch für dich sorgen?“
„Für mich sorgen?“ lachte sie.
„Ja, für dich sorgen. Du bist doch noch klein.“
„Na und!“ sie schien etwas enttäuscht von mir.
„Wo hast du denn heute Nacht geschlafen?“ Sie sprang auf, lief zum Fenster und zog sich mit beiden Armen am Fensterbrett hoch. Noch ehe ich etwas sagen konnte, kniete sie schon darauf und zeigte nach draußen in Richtung Friedhofsgelände.
„Da unten!“
Lilith warf mir einen Blick zu, der alle Zweifel an ihrer Aussage auslöschte.
„Da unten?“ fragte ich zögernd.
„Jaha.“
„Warst du allein?“ Sie hüpfte vom Fenster und kam zurück zum Tisch gewackelt.
„Allein?“
„Ja, allein. War dort sonst noch jemand außer dir?“ Sie schaute mich an und ich fühlte mein Blut auskühlen, fühlte etwas Kaltes nach mir greifen.
„Nur die Toten.“
„Die Toten?“ ich musste schlucken.
„Jaha.“
Langsam stand Lilli auf, ging zum Fenster und blickte zum Friedhof.
„Sie sagt, sie kennt die Toten.“ Das kleine Mädchen schaute mich unergründlich an.
„Du kennst die Toten, sagst du?“
„Ja, alle! Naja, fast alle. Aber sie sind ja tot.“ Sie zuckte mit den Schultern.
„Woher kennst du denn die Toten?“
„Ich habe mit ihnen geredet, so wie mit euch.“ sagte sie traurig.
„Aber sie sind doch tot, wie kannst du mit ihnen gesprochen haben?“
„Sie haben ja noch gelebt, genau wie ihr.“ Sie funkelte mich aus ihren grünen Augen an.
„Nils, sie sagt die Wahrheit.“ Lilith kam vom Fenster und setzte sich wieder zu uns. „Sie hat mir von meinem Vater erzählt, sie hat mir haarklein von meinen Großeltern erzählt. Und ich kenne sie, ich kenne sie schon lange. Sie ist früher meine Freundin gewesen. Als ich..“ sie schaute die kleine Anna an. „Als ich noch so klein war, wie sie.“
Lilith schaute mich ratlos an.
„Das ist doch nicht dein Ernst, Lilli?“ ich schnappte nach Luft, versuchte aufzuwachen, dachte ich würde gerade völlig durchdrehen. Das Mädchen beobachtete mich dabei und fuhr schließlich fort: „Du kannst ihr glauben, Nils.“
Sie schenkte mir einen langen Blick. „Weißt du, bitte verrate mich nicht. Du solltest etwas über mich wissen. Man sieht es mir nicht an, aber ich bin kein gewöhnliches Kind. Ich bin schon sehr lange hier. Deine Erde, dein Planet ist mir vertrauter, als irgendjemand anderem. Ich bin schon über tausend Jahre alt.“
Das darf nicht wahr sein! Ich gab mir Mühe, es einzuordnen, irgendwie hinzunehmen. Sie ist tausend Jahre alt. Ich hatte doch selbst schon einiges schier Unfassbares erlebt. Akzeptiere es! Begreife es! Sie ist tausend Jahre alt. Tausend Jahre alt. Ja, sie ist eintausend Jahre alt.
„Polizei! Wir müssen zu den Bullen!“ ich verlor jegliche Kontrolle.
Lilith sah mich ernst an und stellte sich still zwischen mich und das Telefon. Annabell blieb ganz ruhig.
„Niemals.“ Sie verschränkte die Arme. „Wenn du das tust, bringe ich dich um. Und glaube nicht, du wärst der Erste.“
Das war der Tag, an dem ich Anna kennenlernte.

Sonntag:

Der nächste Morgen trat ganz langsam an mich heran. Vogelgezwitscher und das Rauschen der Bäume umspielten mein Ohr zunächst zurückhaltend, während ich mich noch einmal im Bett umdrehte. Dann allmählich verflog die Ruhe und Geräusche von der Straße kamen hinzu. Ich hatte von meiner Mutter geträumt. Wie sie mich an einem dunklen Wintermorgen über den Platz vor der Schule zum Kindergarten brachte. Ich empfand es damals wie heute als grausam kalt. Nicht von meiner Mutter, ich wusste ja, dass sie zu tun hatte und nicht anders konnte. Das Leben war noch fremd. Und mir schienen die anderen Kinder viel besser damit zurecht zu kommen. Die Laternen beleuchteten den frisch gefallenen Schnee mit ihren gelben Fingern und ich fror entsetzlich in meinem kleinen Jäckchen, in dessen Ärmel die Handschuhe festgenäht waren, damit ich kleiner Träumer sie nicht verlieren konnte. Ich hatte eine Bommelmütze auf dem Kopf und eine dicke Hose an. Meine Mutter hielt mich an der Hand und erklärte mir im Gehen die Welt. Ich habe sie dafür geliebt, abgöttisch geliebt. Wärmespenderin, oh du einzige! Wir stiegen die breite Treppe zur Straße herab, gemeinsam. Ich brauchte mehrere Schritte pro Stufe und meine Mutter lies sich Zeit mit mir. Im Kindergarten angekommen, stieg die Temperatur. Aber nicht für mich. Ich wusste, was jetzt kam. Meine Mutter läutete an der Tür. Sie schaute mich an, nahm mir vielleicht die Mütze ab oder wärmte mir mit ihren Händen die kalten Pausbäckchen. Dann öffnete sich die Tür, die Erzieherin begrüßte zunächst die Mutter, dann mich und ich musste eintreten. Sie lächelte mir ein letztes Mal zu und ging, lies mich zurück mit der finstren Erzieherin und den anderen Kindern, die schon drinnen spielten. Da stand ich nun, abgenabelt, blickte mich um, sah die Türe sich hinter meiner Mutter verschließen. Ich war allein. Oft musste ich ob dieses Gefühls spontan weinen. Später gewöhnte ich mich mehr schlecht als recht daran. Ich war das einzige Kind der Gruppe, bei dem dieses Verhalten zu beobachten war und das wusste ich auch. Ich wusste es wohl besser, als alle anderen. War die erste Stunde überstanden, wurde es weniger schlimm. Ich spielte mit meinen Kameraden und lenkte mich ab, bis die Mutter zurückkam, mich abholte und ich ihr in die Arme fallen konnte.
Ich schob den Traum wehmütig beiseite und hiefte mich aus dem Bett. Die Hausschuhe standen bereit und schon im Laufen schlüpfte ich in sie hinein, ging ins Badezimmer und machte mich kurz frisch. Heute wirkte ich kleiner, etwas zarter und lieblicher, als sonst. Die Welt hatte mir einen grandiosen Streich gespielt. Als ich fertig war, ging ich ins Wohnzimmer und da saßen die beiden. Lilith und sie, die Tausendjährige. Sie hatten Frühstück gemacht und lachten vergnügt, als ich den Raum betrat.
„Guten Morgen!“ schallten sie mir entgegen und ich konnte mir ein Grinzen nicht verkneifen. Die ganze Stube war von Sonne durchflutet und es war, wie das erste Licht, ganz hell und weiß. Wie das Erwachen aus einem brutalen Alptraum, wie die Geburt in eine, in die, endlich in die eine Welt. Ich setzte mich zu ihnen und Anna blickte mich freundlich an. Erst jetzt fiel mir auf, wie herrlich dieses Kind duftete. Eine Aura aus Vanille war dicht um sie verschlossen und umgab sie vollständig. Die reifere, frauliche und auch schönere Lilith schien fast zu verblassen neben ihr. Ich war schon jetzt in ihren Bann geschlagen, mein Gesicht strahlte ob ihres Zaubers.
„Wir haben schon angefangen.“ entschuldigte sich Lilith und ich quittierte es ihr mit einem Lächeln. Es roch nach frisch gekochten Eiern, aufgebackenen Brötchen und Kaffee. Seit meiner Kindheit hatte ich einen solchen Morgenzauber nicht mehr erlebt. Stets war das Gegenteil der Fall gewesen. Immer erschien mir das Verlassenmüssen der Schlaf- und Traumwelt als Verlust, als Einkehr in die unlustige Wirklichkeit, wo Menschen von der Stange mir kalt und leblos ihre Anliegen vortrugen, denen ich Folge zu leisten hatte. An diesem Sonntag war das alles weg. Sicher, das gemeine Leben pochte und pulsierte draußen weiter, die Leute gingen in die Kirchen, machten sich sonntagsfest, setzten ihre schönsten Masken auf. Aber mich ging das alles nichts an, denn hier, an meinem Esstisch, saß ein uraltes Kind und schmierte sich Butter auf die warme Semmel, freute sich an ihrem Dahinschmelzen und war bereit ein Stück seiner so friedlich und langsam verstreichenden Zeit mit mir und einer guten Freundin zu teilen. Eine ganze Weile schwiegen wir einfach, genossen es, ein jeder für sich, dass es uns so schnell gelungen war, trotz der Welten, die uns trennten, miteinander die selbe, alle Manifestationen und Ideologien belächelnde Realität zu atmen und zu beleben. Ich war die halbe Nacht wachgelegen, hatte gegrübelt, was das wohl war, das ihr schleppendes Altern ermöglichte und wie sie es schaffte, als Kind, als kleines Mädchen, die Kriege und Verfolgungen, die Seuchen und Ausrottungen, kurz all die Jahrhunderte zu überstehen. Und ich brannte darauf, zu erfahren, ob sie, die trotz ihres biblischen Alters, sowohl vom Körper als auch vom Geist noch ein Kind zu sein schien, darüber etwas zu berichten wusste.
„Annabell, du..“
Sie unterbrach mich sofort: „Nicht jetzt, wir werden später noch genug Zeit dafür haben.“ Also gut, nicht jetzt. Ich langte quer über den Tisch nach der Kaffeekanne und goss mir einen guten Teil in die Tasse. Lilith reichte mir Kondensmilch, Anna den Zucker, und so saßen wir beisammen, redeten über das Essen, das Wetter, all die Sonntagsthemen und wurden nicht müde daran. Man müsse reden, sagte Anna, um gesund zu bleiben. Und man müsse zuhören, um reden zu können. Das schien mir logisch, doch als einsamkeitserprobter Mensch, wusste ich, was es bedeutete lange Zeit zu schweigen und trotzdem zufrieden zu sein. Das sagte ich ihr und sie verstand sofort. Statt darüber nachzugrübeln, fragte sie mich gleich, ob ich Selbstgespräche oder dergleichen an mir beobachtet hätte. Ich verneinte es ihr, gab jedoch zu, sprachfremde Laute und Grunzer von mir zugeben, wenn mir danach war. Auch das verstand sie und sagte mir darin läge kein Unterschied. Wichtig ist nur, von Zeit zu Zeit den Mund zu öffnen, um das Gesammelte und im Inneren Gepresste nach außen und frei zu lassen. Schon ein tiefes Ausatmen würde genügen, krank wird nur der, der selbst darauf verzichtet. Die Grundpfeiler der Kommunikation seien in jeder Sprache gleich, oder zumindest ähnlich. Das Mitteilen einer Emotion bedarf nicht eines einzigen Wortes, so sprach sie. Im Gegenteil, der Versuch ein Gefühl in Worten zu vermitteln, sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt, so als würde man versuchen Feuer zu konservieren. Manchmal, ja sogar oft, könne es so wirken, als ob es tatsächlich funktioniert. Dies bleibt aber ein Trugschluss, nur eine Erinnerung an ein Gefühl, welches der Empfänger und Zuhörer schon mit sich trägt. Die Übertragung einer Emotion, das Verschenken, geschieht nur unabsichtlich durch ein adäquates Lautbild, einen Seufzer oder ein vergnügtes Fiepen zum Beispiel. Annabell erwähnte, wie sie im Laufe der Zeit die Entwicklung und zunehmende Komplexität der Sprache beobachtet hatte. Neue Worte waren entstanden, manche scheinbar ohne tieferen Sinn, andere weil neue Begriffe und Dinge die Grundlage waren. Viele Worte seien ausgestorben, im Sprachgebrauch ausgedünnt bis sie ein letztes Mal erwähnt waren. Der gedankliche Austausch, so Anna, blieb davon jedoch weitestgehend unberührt und auf einem niedrigen Niveau. Das Missverständnis ist der Normalfall, die selbe Wellenlänge meist nur eine schöne Illusion. Auch das schien mir logisch und deckte sich mit meinen eigenen Erfahrungen. Aber Anna hatte dafür eine Erklärung parat, die frei von jeder Tragik war. Nur deswegen, sagte sie, sind wir Individuen. Nur deswegen fühlen wir die wohligen Brände der Sehnsucht und nur deswegen sind wir in der Lage etwas wie Liebe und Zuneigung für einen Anderen zu empfinden. Wäre dies nicht gegeben, würden wir alsbald das Interesse am Mitmenschen verlieren und zuletzt auch an uns selbst.
Sie sagte, sie habe in der ganzen, langen Zeit nicht einen Menschen getroffen, der bei genauerer Betrachtung einem Anderen auch nur hätte ähnlich sein können. Sicher gab es äußere Gemeinsamkeiten. So stieß sie des öfteren auf Leute, die sie stark an frühere Bekanntschaften erinnerten. Und ein halbes Jahrhundert später kam jemand daher, der sie wiederum an den „Vorgänger“ erinnerte. Aber ihr Innenleben, selbst ihre Gestik und Mimik war absolut einmalig und nie wieder gesehen. Vielen Menschen war es gar nicht bewusst, welchen Schatz sie da mit sich herumtrugen. Doch konnte man ihnen deswegen keinen Vorwurf machen. Mit dem Bewusstsein ist es so eine Sache. Selbst die Gebildetesten, die Leute, die ihr Leben dem Geist vermachten und mit Eifer den Geheimnissen und den wissenswerten Dingen des Lebens nachjagten, selbst jene hätten den Großteil ihrer Zeit weit unter der Oberfläche verbracht. Und auch Annabell selbst musste eingestehen in Automation zu leben, dem Unterbewussten das Kommando zu überlassen. Sie konnte die Momente des Auftauchens an einer Hand abzählen, mir traute sie nicht einen einzigen zu.
„Du weißt dich nicht.“ sagte sie.
„Ich weiß mich nicht?“ fragte ich halb belustigt.
„Jaha.“

Eine Möglichkeit mehr über sich in Erfahrung zu bringen, sei es knapp dem Tod zu entkommen. Annabell sah sich ihm schon oft gegenüber, wurde geübt darin, ihm zu entwischen. Kein gewöhnlicher Mensch könne sie töten, prahlte sie mit Stolz. Etwa zehn Jahre lang hatte sie daran geglaubt tot zu sein. Es war die Zeit ihres Wahnsinns, eine Zeit tiefer Übersättigung und Frustration. Sie überstand sie, sah sich wiedergeboren, entdeckte die Freude aufs Neue und ging gestärkt daraus hervor.
„Lilith? Möchtest du mit mir spazieren gehen?“ fragte sie schließlich. Wir räumten gemeinsam ab, machten den Aufwasch und hatten jede Menge Spaß dabei. Dann gingen die beiden nach draußen um das schöne Wetter zu genießen. Ich werde das Bild wohl nie vergessen, wie sie sich nebeneinander die Schuhe zubanden, sich gleichzeitig erhoben und liebevoll von mir verabschiedeten, um Hand in Hand die Treppe nach unten zu steigen.
Ich lief in meiner Wohnung umher, in diesen Räumen trüber Geschichte, wo mir vor kurzer Zeit noch alles unmöglich erschien. Ein Kind hatte diese Welt betreten, eine alte Frau und doch ein Kind. Hatte mir wieder einmal und beeindruckender denn je gezeigt, wie wenig ich doch bisher gelebt, wie engstirnig und selbstmitleidig ich die ganze Zeit über aus meiner Suppe löffelte. Wie weit das jetzt alles schien. Und doch fürchtete ich schon Gewöhnung. Tausend Jahre! Bei Gott nein! Ich musste laut lachen. So schnell wird dir dies Kind nicht fad werden. Die gute Lilith war jetzt mit ihr unterwegs, erfuhr durch sie vielleicht gerade von den unglaublichsten Dingen. Annabell selber war ja eines davon, ein wahrhaft unglaubliches Ding. Zweifeln konnte ich an ihr und ihrer Geschichte nicht mehr. Zu seltsam war das kleine Mädchen. Kein normal alterndes Kind könnte eine solche geistige Tiefe veräußern. Innerlich fühlen und denken gewiss, ich will mich hüten, die kleinen Menschen zu unterschätzen. Aber die Fähigkeit dies haarklein mitzuteilen, ihre Abgebrühtheit und ihr über Jahrhunderte verfeinerter Charme unterschieden sie doch merklich von den anderen. Wieviele Leute wird sie im Laufe der Zeit in ihr Geheimnis eingeweiht haben? An wievielen Tischen das Frühstück genommen haben? Und sprach sie die Wahrheit, als sie mir mit dem Tode drohte? Warum öffnete sich das kleine Wunderkind uns gegenüber? Es gab so viel über sie in Erfahrung zu bringen, dass ein gewöhnlich langes Leben wie meines niemals ausreichen würde. Wie groß war mittlerweile ihr Vorsprung? Spielte es überhaupt eine Rolle, dass sie von ihrer Biologie und Hirnchemie noch ein Kind war? Hatte sie Einfluss in der Welt? Hatte sie Absichten von denen niemand ahnte? Ich nahm mir fest vor, was auch immer geschehen würde, stets auf der Hut zu bleiben, ein gesundes Misstrauen beizubehalten. So trieb ich in die Mittagsstunde und bedauerte es ein wenig, dass meine Kochkünste so kümmerlich entwickelt waren. Gern hätte ich den beiden Frauen nach ihrer Rückkehr ein vorzügliches Gericht präsentieren können. Ob die Kleine meine Tütensuppen mag? Den Versuch war es wert und als Alternative kam mir nur ein Restaurantbesuch in den Sinn. Das schien mir jedoch noch zu überstürzt, ich wollte sie erst besser kennenlernen, bevor ich mich auf derlei Abenteuer mit ihr einlies. Dass Lilli meinen spartanischen Gaumen kannte und mit mir teilte, wusste ich ja. Es würde ihr nichts ausmachen eine Scheibe Butterbrot zu Mittag zu essen, sie war mir da sehr ähnlich. Lilith war überhaupt mein weiblicher Gegenentwurf. Recht klein gewachsen und von zierlicher Gestalt. Ihr Haar war tief schwarz und fiel ihr in langen Strähnen ins Gesicht. Sie hatte etwas von asiatischer Ästhetik in ihrer Frisur, nur war ihr Haar dicker und ziemlich wild. Sie liebte es, den Männern den Kopf zu verdrehen und es gelang ihr oft. Unzählige sehnsüchtige Blicke spiegelten sich in ihren Augen wieder, viele Seelenfragmente schauten versunken daraus hervor. Ihre Natur war jedoch schüchtern und zurückhaltend dem anderen Geschlecht gegenüber. Sie lies sich gern umgarnen, baute geschickt Hoffnungen auf, riss sie wieder ein und konstruierte aufs Neue den Glauben an die Möglichkeit, sie haben zu können. Als ich sie kennenlernte, verspürte ich an ihr jenen fast beziehungsunfähigen Zug, der auch mein Liebesleben ausmachte. Ich hatte nicht die Absicht sie zu verführen und sie geizte mir gegenüber mit ihren Reizen. So kamen wir schnell in ein Gespräch, das einem Balztanz nicht hätte unähnlicher sein können. Die Möglichkeit einer Liebesbeziehung stand nicht im Raum, nicht eine Sekunde lang. Stattdessen konnten wir stundenlang reden, ohne das uns die Gesprächsthemen ausgingen oder Verlegenheit aufkam, und wenn doch, so wurde diese mit Humor hinweggefegt. Mit Lilith zu lachen war besser als jede Therapie, war ein Kitzeln am Weltschmerz, ein beruhigendes Gegenargument wider dem Ernst des Lebens. Über die Jahre war sie mir lieb und teuer geworden. Ein Fixstern in meinem Leben, eine Zuflucht wenn wieder alles um mich zusammenzubrechen drohte. Und ich trug die Gewissheit in mir, dass ich für sie die selbe Rolle spielen durfte. Ich war nicht unbedingt harmloser als all die Scheisskerle in ihrem Leben, aber es lag mir fern, ihr etwas vorzumachen. An manchen Abenden trafen wir uns auch einfach so und wechselten kaum ein Wort. Saßen still beisammen und lauschten der Musik oder den Vögeln im Garten. Ein jeder in sich selbst versunken, den treuen Helfer in der Nähe wissend. Schon ihre Anwesendheit genügte mir, mich selbst vor dunklen Gedanken und Launen zu schützen. Lilith rauchte nicht, sie trank nicht und sie achtete allgemein sehr auf eine gesunde Lebensweise. Mir, der ich doch schwer abhängig von der Zufuhr verschiedenartiger Stimulanzien bin, imponierte das schon immer. Sie verachtete die Süchte, die ich mit mir trug. Aber sie verstand mein Verlangen danach, meine Gier nach simpler Zufriedenstellung. Und so oft sie es konnte, versuchte sie mit vielerlei Tricks, meinen nächsten Griff nach der Zigarette hinauszuzögern. Sie sah es immer als eine kleine persönliche Niederlage, wenn die Dichte eines Gesprächs nachlies und ich nach Ersatz forschte, obwohl sie freilich die geringste Schuld dabei trug. Aber so war sie, stets hellwach und immer beschäftigt. Langeweile war ihr fremd und ich bin sicher, dass sie ein klein wenig neidisch auf Annabell und ihr langlebiges Los gewesen ist.
Auch am frühen Nachmittag blieben die beiden noch aus und mich zog es zurück in mein Bett. Der Mittagsschlaf war zwar verpasst, aber die kleine Müdigkeit, welche mich um diese Zeit oft befiel, noch nicht abgeschüttelt. Leidlich zufrieden lies ich mich nieder, verschanzte mich in gesammelter Ruhe. Die schöne Mittagssonne trieb ihr farbenfrohes Spiel in der Landschaft der Bettdecke, welche sich zu Füßen meines Gesichts erstreckte. Langgezogene Hügelkämme, Bettfaltenschluchten und schattige Täler formten die Subwelt und ich studierte sie lange aus unproportional großen Augen, bis diese sattgesehen und des Schließens endgültig bedürftig, Platz und Freiraum für innere Bilder und Träumereien schufen. Abermals verschlug es mich in meine frühen Lebensjahre. Ich träumte davon, wie ich langsam im Schlafsaal des Kindergartens erwachte. Es war die Weihnachtszeit gerade angebrochen und um mich herum schlummerten die anderen Kinder selig in ihren Pritschen. Das große Zimmer war notdürftig verdunkelt und ich sah draußen die Flocken an den dünnen Lichtspalten vorbeifliegen. In der Mitte des Raumes hing ein großer, fahl leuchtender Christnachtstern. Ich spähte vorsichtig nach einer Erzieherin und als ich keine sah, erhob ich mich still und ging mit leisen, von dicken Strümpfen gedämpften, Schritten zur Tür hinüber. Der Duft einer Räucherkerze lag noch erinnerungsvoll im Raum, ein schwerer, berauschender Geruch. Ich ging also zur Tür und wie ich sie geöffnet hatte, da schaute ich mich nocheinmal um und sah die dicht nebeneinander gestellten Liegebetten plötzlich leer stehen. Wo vor Sekunden noch eine Gruppe Kinder gelegen hatte, war mit einem Mal alles Leben verschwunden. Einige Betten waren fein säuberlich zurecht gemacht, andere standen ganz durchwühlt, als wäre ihnen gerade ein hastiges Kind entsprungen. Besorgt, aber von einer mächtigen Kraft gezogen, verlies ich den Saal und schloss still die Türe hinter mir. Im Flur hingen die Winterjacken, Schals und Mützen meiner Kameraden in der Garderobe. Ihre gefütterten Stiefelchen standen zu Füßen davon. Eine nasse Spur führte von dort weg und zur Ausgangstür. Schnell zog ich mein Jäckchen an, das ich zwischen der Kleidung der anderen fand, schlüpfte in meine Schuhe und verlies den Hort. Dichter Schneefall verhüllte die Welt, durch die ich nun lief. Und durch all die weißen Flocken hindurch vernahm ich in der Ferne ein Lied, gesungen von den hellen Stimmen eines Kinderchores:

Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n
Röslein auf der Heiden
War so jung und war so schön
Lief er schnell es nah zu seh’n
Sah’s mit vielen Freuden
Röslein, Röslein, Röslein rot
Röslein auf der Heiden

Ich lief in die entgegengesetzte Richtung, doch wurde der Gesang lauter und lauter, schien mich schon fast zu umgeben und ich beschleunigte meinen Gang. Es war anstrengend, der Schnee sehr tief und wo die Wege geräumt waren, da lag Glatteis. Ich schlitterte eine langgezogene Bergstraße hinab. Nur weg von dem grausigen Gesang, dachte ich mir, doch ich rutschte ihm entgegen.

Knabe sprach: „Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden.“
Röslein sprach: „Ich steche dich,
dass du ewig denkst an mich,
und ich will’s nicht leiden.“
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Schon sah ich mich ihnen ausgeliefert. Da stand der Chor im Halbkreis und erwartete mich singend. Sie sperrten mir den Weg und ich drehte mich um in meiner Angst, wollte fliehen, zurück, den Hang hinauf, in die warme Stube und mein Bett, das ich unerlaubt verlassen hatte.
Aber der Chor war kein halber Kreis mehr, er war jetzt vollständig um mich geschlossen. Die bösen Stimmchen rückten näher und schienen mich zu durchbohren.

Und der wilde Knabe brach
´s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
musst es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Jetzt sah ich mich bluten, spürte den Druck in meinem Körper fallen und blickte meinen Tränen nach, wie sie sich mit dem roten Saft im Schnee vermischten, während die Kinder still in alle Richtungen auseinander gingen.

„Nils, wach auf! Willst du denn den ganzen schönen Tag verträumen?“ Annabell saß neben mir in meinem Bett. „Steh auf, du Faulpelz. Wir wollen essen.“
Noch nicht ganz in der Wirklichkeit angekommen, war ich doch gerade von einer Horde Kinder zu Tode gesungen worden, blickte ich sie entsetzt an.
„Jetzt komm schon, Nils. Wir haben chinesisches Essen mitgebracht und schrecklichen Hunger. Willst du etwa nichts davon?“
„Chinesisches Essen ja? Nagut, ich stehe ja schon auf.“
Sie sprang jauchzend vom Bett und lief mit kurzen, schnellen Schritten vor mir her in die Wohnstube. Eine große Aluminiumasiette stand in der Mitte des Tisches und verströmte den würzigen Duft von Curry und anderem fernöstlichen Gewürz. Lilith war beschäftigt, daraus mit einer großen Kelle Glasnudeln und Kochgemüse auf drei Teller zu verteilen.
„Das riecht wunderbar, entschuldigt bitte, ich bin so schlapp. Wie war es denn?“
Wir setzten uns an den Tisch und die beiden machten sich sofort mit Heisshunger über die Nudeln her. „Hm, ganz toll. Du hast etwas verpasst.“ erklärte Lilli mit vollem Mund.
„Auf der Hauptstraße war ein Umzug mit geschmückten Wagen, einer Kapelle und singenden Kindern.“ Ich lächelte bitter.
„Singende Kinder ja?“
„Und sie waren großartig, ganz entzückend die Kleinen. Die Straßen waren voller Leute, die ganze Stadt ist auf den Beinen. Nur du wieder nicht.“ Sie warf mir einen ironischen Blick zu. „Du bleibst natürlich wieder für dich, wenn alle beisammen sind. Was hast du denn getan?“ „Ach nix, ich habe schlecht geträumt.“ Ich biss von meiner Frühlingsrolle ab und kaute die milde Schärfe im Mund.
„Du wirst noch dein ganzes Leben verschlafen.“ lachte Anna trocken.
„Vielleicht ist das ja mein Plan.“
„Dann viel Glück dabei, aber ich habe eine bessere Idee.“
Sie schluckte einen Bissen hinter.
„Wir haben draußen schon darüber geredet. Ich möchte bei euch bleiben, wenigstens eine Zeit lang. Und wenn ihr mich gut leiden könnt auch länger.“ Ich schwieg kurz.
„Was sagt denn Lilli dazu?“
„Sie meint, ihr könntet euch die Zeit vielleicht einteilen. Ich wohne abwechselnd bei ihr und bei dir. Ich brauche nicht viel, ich bin nur so allein, weißt du?“ Lilli schaute mich zufrieden an, denn sie kannte meine Antwort:
„Tja, Anna, was soll ich sagen. Du weißt ja selber, was für ein ausgefallenes Kind du bist und natürlich interessiert es mich sehr, dich besser kennenzulernen. Wir sollten es wohl einfach versuchen.“
Sie sprang vom Tisch auf und rannte jubelnd durch das Zimmer.
„Ich darf also, ich darf wirklich?“ Sie kriegte sich gar nicht mehr ein und wir mussten darüber lachen, wie drollig und ausgelassen sie unseren Einstand feierte.
„Erwartet nicht zu viel, ich werde euch nicht entäuschen, aber erwartet nicht zu viel.“
Sie war wirklich sehr glücklich in diesem Moment. Und auch wir, Lilli und ich, waren zufrieden und freuten uns auf die aufregende Zeit, die vor uns lag. Annabell machte sich gleich daran, einen Pudding für uns alle zu kochen.
„Einen Riesenpudding, ihr werdet staunen!“ Während sich die kleine Anna vergnügt in der Küche an die Arbeit machte, saßen wir zwei „Großen“ still beisammen, nicht minder vergnügt, nicht minder angetan von der Aussicht, die sich unserem Trio nun bot. Es klirrte, schepperte und lachte aus der Küche, wo das Mädchen ganz aufgeregt und hastig einen „Riesenpudding“ für uns kochte.
„Sie ist großartig, Nils. Du wirst sie lieben. Und sie wird dir gut tun.“
Ihr zärtlicher Blick streifte mich kurz.
„Wir können es machen, wie du willst. Wollen wir Halbe Halbe machen?“
„Halbe Halbe?“ fragte ich belustigt.
„Ich kann sie auch die ganze Woche zu mir nehmen, und am Wochenende schläft sie dann bei dir. Ich kenne dich doch, du brauchst deine Einsamkeit wie die Luft zum Atmen.“
„Lass uns Halbe Halbe machen.“
„Ich zuerst.“
„Lilli..“
„Ich zuerst.“
„Du zuerst.“
Sie war zufrieden.
„Anna, kann ich dir helfen?“ rief sie in die Küche.
„Nicht nötig!“ Es schepperte und krachte.
„Wirklich nicht?“
„Wirklich nicht!“ kam die lachende Antwort.
„Sie hat uns bitter nötig, Lilli.“
Sie schwieg lange und bedächtig.

„Du wirst noch von ihr abhängig werden, du wirst schon sehen.“


Autorentreff-Newsletter

Lass dich per E-Mail über neue Beiträge informieren.

Loading

Autor:in

Herr Grau

Herr Grau

Ehemaliges hhesse.de Mitglied

Du schreibst selbst Gedichte?
Veröffentliche dein Gedicht im Autorentreff von hhesse.de.

Kommentare

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments