Splitter im Schlaf (Fragment)
Ich sehe uns alle hier sitzen, während wir auf das Zeichen warten, dass uns hinaus in die weissen Lichter zieht. Während wir warten, während die anderen ihre Gebärden und Minen proben, - Lena, voller Taten- und Lebensdrang, Malin, wissend - , taucht mein Auge hinab in die hintersten Winkel der Seele. Dorthin zieht der Sog, dorthin werde ich gehen. Lena wird hinausgehen und lachen und siegen, Malin wird beobachten, aufzeichnen und ordnen, doch ich,
ich werde hinaus gehen und hinab, über die Wiesen und die taubedeckten Felder, werde den Geruch der Herbstblätter in meine Nase einschenken und die Bewegung des Nebels in meine Augen eintauchen. Ich wede gehen und werde schweben, bis ich zu dem See komme, dem schwarzen See der meine Seele birgt. Dort ist sie
sicher, geschützt durch einen lebenden Spiegel. Das Wasser ist tief, die Schwärze kalt. Ein einziges Tauchen, ein Sehnen und der See lockt mich wieder, lockt mit seiner Wirklichkeit. Seine Stimme schmeichelt, die Wellen umspülen meine Hand, kräuseln, fließen, begehren, werben, geben sich ihr willig hin.
Aber ich ? Ich kann nicht hinab. Dort wird meine Luft zum Atmen nicht reichen.Oh, mein Wunsch nach eisiger Karheit, mein Wunsch nach meiner Welt.
Unsere Anspannung, die Aufregung der anderen wächst mit jeder Sekunde. Lenas Energie birst. Fast ist es, als ob ein unsichtbares Boot aus dem Gleichgewicht gerät. Lenas großer Auftritt steht bevor. Immer und immerwieder betrachtet sie sich im Spiegel, ihr Gesicht, ihren Körper. Der Hunger nach Leben, nach Kommunikation ist bei ihr am stärksten verankert. Ohne ihren unermüdlichen Wunsch nach Erneuerung der Verbindung zwischen uns und der Aussenwelt würden wir dort nicht überleben.
Wenn ich das Zimmer betrete, verharrt alles. Blicke fliegen mir zu, meine Gebärden sind kraftvoll, mein Witz, meine Worte erreichen den verstecktesten, den verkrustesten Geist. Ich ruhe nicht eher, bis ich nicht auch von jenem mürrischen, zynisch blickenden Gesicht dort in der Ecke einen Hauch von Zustimmung, von Bewunderung, von Anerkennung bekomme. Ich betrete einen neuen Raum und gespannt verfolgen meine Augen, während sie in leichtem Tanz alle
Personen im Raum umspielen, jede Bewegung, jede mögliche Anspannung seines Gesichts, jede Kräuselung seines Mundes, sind in stetiger Erwartung des Ersehnten: Dem Nachgeben, der Kapitulation. Meinem Charme kann niemand widerstehen. Ich hebe die Hand, alles verharrt, ich werde zu ihrem Mittelpunkt. Und doch ist es gerade das Werben um die Annerkennung eines harten Geistes das mich mehr reizt, das mich mit mehr erfüllt, als die hundert leichten Siege auf der Strasse, in hastenden Gesichtern, in Läden, in Gesellschaften.
Ich trete in einen neuen Raum ein und sofort bietet sich mir
die Verteilung von Sympathien und Antipathien, bieten sich mir die
Rivalitäten, die leichten Siege und die so lockendend unbesiegbar Scheinenden ausgebreitet wie eine Landkarte dar. Und mit einem Blick weiss ich genau, wo die tiefen Höheln versteckt sind, mit ihren Schätzen. Hinter unbewegten Gesichtern, hinter wichtigen Gesichtern, hinter der zur Schau getragenen Gleichgültigkeit. Sie mögen noch so harte Schlösser, noch so feste Mauern haben, ich finde ihre Spur, ich setze an, mir widersteht nichts. Mein Begehren
ist nicht Besitz. Meine Erregung steigt mit jeder neuen Tür, mit jedem unerwarteten Wiederstand, weiter immer weiter dringe ich vor, bis sie mich fast wahnsinnig macht vor Taumel, vor Anspannung. Gleich wird die Linie am Mund sichtbar. Ich fühle es, ich sehe seine Augen auf mir ruhen, gegen seinen Willen flattern sie über mein Gesicht, gegen seinen Willen lauschen seine Ohren auf meine Worte, auf mein Lachen, wenn ich mich mit der Person links von mir
unterhalte, die schon beim ersten Anblick, nein schon bei der Bewegung der Tür den Kopf nach mir umwandte und so gewonnen war.
Ach, es gibt so viele von diesen leeren Menschen, sie sind einander so ähnlich, sie suchen das Glück ausserhalb ihrer Selbst, sie sind gierig nach Ablenkung, nach Entertainern, sie laufen jedem hinterher, der sie von der Schwüle ihrer trägen Gedanken erlöst. Sie brauchen immer neue Drogen. Alles, alles ist gut genug für sie. Deswegen sehen sie zu mir auf, hängen ihre trüben Augen an jede Faser meiner Erscheinung, lauern auf jede Andeutung von Witz.
Aber dieser dort, der in der hintersten Ecke sitzt, dieser dort ist
anders. Die Menschen hier werden mich solange bewundern, wie ich da bin, und wenn ich gegangen bin, wird sich ihr Blick sehnsuchtsvoll heben, wenn die Tür geht, sie werden sich ohne Wahl und ohne Stolz jedem in die Arme werfend, der dort hineinkommen möge, der sie von ihren schwülen Träumen befreit. Er aber, der dort in der Ecke sitzt, dessen Kopf sich so eifrig und verbissen in seine Arbeit vertieft, wird, wenn ich aus der Tür entschwunden bin, den Kopf heben, wenn die Tür geht, um zu sehen, ob ich nicht doch zurückgekommen bin. Er wird mich nicht
vergessen. Er wird sich nicht Neuem in die Arme werfen. Er wird warten, ob ich zurückkomme, und gleichzeitig sich selber dafür verachten. Ich werde in seinen Augen die Spuren eines Kampfes hinterlassen, seinen Stolz ausfasern, er wird mich hassen. Er wird mich hassen, weil er mir nicht widerstehen konnte. Ich sehe, wie er kämpft, wie er versucht, seine Gedanken auf die Arbeit vor sich
zu lenken. Doch sie gehorchen nicht, sie kehren immer wieder zu mir zurück, zu mir, die er hasst und begehrt, deren Leichtigkeit er verachtet und die ihn dennoch gefangennimmt. Er spürt das Leben in mir, die Realität, die sich nicht hinter einem geordneten Leben versteckt hält, eine Leichtigkeit , die ihn erzittern macht.
Menschen sind es gewohnt, ausgezählte Schritte auf immergleichen Wegen zu machen: zur Haustür, zur U-Bahn, zum Fahrstuhl, zum Büro, zur Kneipe und wieder und wieder von vorne. Ihr Blick ist gesenkt, doch sie sehen nichts. Diese Menschen der immergleichen Wege sind in Gefahr, wenn sie den Kopf heben. Einen Augenblick lang vergessen sie, ihre Füße zu steuern. In solchen Momenten
dringt das Leben in sie ein, das Chaos in ihrem innern regt sich, bahnt sich den Weg, wie Rauch, der durch Ritzen dringt, wenn das Fenster nicht richtig schliesst. Dieser kleine Moment genügt, und sie werden mit der ganzen Schwindeligkeit der Existenz mitgerissen. Ein kleines Stück nur, und dennoch genügt es, um das lange vergessene, das gut versteckte zu spüren: Angst. Angst
vor und Angst um das Leben. Das wirkliche, zu lebende und doch nie gelebte Leben.
Ich fühle seine Augen auf mir ruhen, während ich mich mit anderen unterhalte, welche ich dennoch nicht sehe, obwohl ich in ihre schwülen, saugenden Löcher blicke. Ich fühle nur, fühle die Angst in seinem Blick, sehe den Kampf und nun weiss ich: Er hat sich viel zu weit vorgewagt. Seine Ohren sind gespannt, sein Fenster öffnet sich einen Spalt. Rauchschwaden steigen leise nach oben. Ich sage Worte. Nicht zu meinem Nachbarn, obwohl ich ihm in die Augen sehe, obwohl ich meine Gesten auf ihn ausrichte, nicht zu den Personen gegenüber, die mich mit ihrem unterwürfigen Lachen umschmeicheln, mich lieben, mich feiern. Meine Worte sind auf eine andere Bahn gelenkt. Und die unbedeutende kleine Geschichte taumelt eine Weile durch den Raum, umflattert vom Lachen, von der Bewunderung der Anderen, wendet sich ihm zu und trifft in ihrer Leichtigkeit wie ein Eissplitter in seine Seele.
Ich sehe ihn, ich sehe die Muskeln seiner Mundwinkel zittern, sehe den Kampf, sehe die Augen gefüllt von Hass und Begehren, und dann: Da, er ist bezwungen, er lächelt. Ein ungewohntes, ein ungelenkes Lächeln. Ich sehe es obwohl ich nicht hinblicke. Jetzt schaue ich auf, blicke direkt in diese Augen, die brechen, auf diesen Mund, der lächelt. Wir sehen uns an, wir wissen beide: Er ist besiegt. Er wird durch dieses Lächeln zum Verräter an sich selbst, an seinem Stolz, an seinem geordneten sauberen Leben. Ich sehen ihn an, und ich weiss, dass er weiss. Ich habe gesiegt. Das Leben hat gesiegt. Es bleibt nichts mehr zu tun. Ich stehe auf, nehme meine Mantel, nehme mein Licht und verlasse ihn, der mich nicht vergessen wird, der mich hassen wird, und sie, die sich begierig umwenden werden ob nicht die Tür geht, ob nicht jemand hereinkommt, der sie erlöst für Minuten, für einige kostbare Augenblicke von der Schwüle ihrer Gedanken und ihrer Seelen.
Wenn Lena einen Raum betritt, bleibe ich einen Augenblick vor der Tür stehen. Mir bleibt nur ein Windhauch um das Grauen hinauszuzögern, ein Wellenschlag um mich noch einmal als Einheit zu spüren. Doch der Geruch der fetten, dichten Menschlichkeit dort drinnen dringt wie ein gelber Nebel über meinen See. Ich rieche den Schweiss, die gierigen Bewegungen, sehe ihre Münder verzerrt und grell.
Wenn Lena den Raum betritt verharrt alles. Sie ist voller Licht, die schwülen Augen bahnen sich wie von selbst den Weg zu ihr. Wenn ich diese Augen spüre, fährt ein schneidender Schmerz durch meinen Körper, ein ungeheurer Druck scheint mein Ich sprengen zu wollen. Die Glaswand, die mich umgibt wie ein eisiger Sarg, die mich trennt von ihrer Welt, die mich schützt, wird nur noch
Sekunden dem Ansturm standhalten. Das Lachen wird lauter, der Druck steigt, ein Dröhnen, ein Beben. Schnaufend, züngelnd, sengen sich ihre Blicke durch das Glas, ätzen sich durch meinen Körper, wollen weiter immer weiter, hinab zu meinem See, verwüsten die Wiesen, zerfetzen die Blätter, weiter immer
weiter. Mein weisser reiner Nebel flieht erschroken, der See kräuselt sich, trübt sich, sinnt vergeblich nach einem Ausweg.
Während Lena lachend und tänzelnd um die Zuneigung aller wirbt, fühle ich meinen Körper nicht mehr, mein Ich nicht mehr. Es gibt keine Festigkeit im Schwindel, ich falle, ich falle, durch meinen durchsichtigen Körper, durch meine zerfließende Seele. Drehend, wehend bin ich gefangen in dem Sog, um mich herum, in mir herum ein Taumel, das Chaos, zuschnellend auf die größte
Katastrophe: Gleichzeitigkeit.
Berührungen werden zu grellen Funken, Gerüche zerschneiden mein Trommelfell, Laute sengen sich durch mein Fleisch.
Während Lena spielerisch alle ihre Reize einsetzt, während ihr Geist sich mit dem Fremden in der Ecke beschäftigt, versinke ich in der Flut der Empfindungen, die von aussen auf mich einhämmern. Kann sie nicht trennen, nicht fassen. Ich sehe den Fremden nicht. Ich sehe die Menschen nicht. Nur mein See schäumt auf vor mir, tobt in brennendem Wasser. Ich kann nicht unterscheiden, aus welcher Richtung die Funken sprühen, kann meine Schutzschilde nicht ausrichten. Es kommt wie eine Welle, es verschlingt mich,
gleich werde ich mich auflösen, gleich werde ich nicht mehr sein, als tausende und wieder tausende kleiner Teilchen, lose, ohne Verbindung weder zueinander noch zu einer Aussenwelt. Die Scheibe birst, Splitter bohren sich in meinen Geist, die Welle verschlingt mich, ich löse mich auf, werde leichter als
Meeresschaum auf dem Wasser, während Lena dem Fremden in die Augen blickt. Sie nickt. Sie hat gesiegt. Sie steht auf, und geht, und nimmt das Licht mit. Zurück bleibt sein Hass und mein Tod.
Wenn Lena einen Raum betritt, sehe ich Iris' hartes Gesicht. Sehe in ihren unbewegten Zügen das Wissen um das Kommende. Sie bleibt maskenhaft, ihr Gesicht verrät keine Bewegung, und doch sehe ich wie ihre Glaswand zittert. Sie ist die einzige von uns, deren Schild so schwach ist. So ist sie schutzlos, ausgeliefert und zu immerneuer Auflösung verdammt. Zu zerbrechlich, zu zerfließlich, um in der Welt zu bestehen, ist sie aber die einzige von uns,
zu der der See spricht. Zu ihr kommen die Dinge, ihre Hände sind in
immerwährendem Gespräch mit ihnen. Sie schmeicheln ihr, sie vertrauen ihr, sie suchen Schutz. Gestern sah ich Iris, ich sah eine Kastanie am Boden des Zuges um Iris' Hand werben, während Lena versuchte, dem jungen Mann in dem Abteil gegenüber zu gefallen. Ich sah die Kastanie um Iris' Schutz bitten, und sah ihr Beben, ihre Lust, als Iris ihr ihre Hand reichte. Ich sah den Tanz beider,
während Lena mit einer gezielten Bewegung des Kopfes das Lächeln des Mannes gewann.
Ich sehe alles, alles, sehe Lenas Kampf und den Tanz von Iris' Hand und der Kastanie, ich sehe die Sehnsucht des Mannes im Abteil gegenüber nach einer Fortstetzung des Spiels, und auch den grob gewebten Vorgangstoff, der, indem er sich sehr zaghaft und schüchtern im Takt des Zuges wiegt, versucht, Iris' Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen.
Lena liebt es, inmitten von Menschen zu sein, vielen Menschen, und dies als ihr Zentrum, als Siegerin, sie liebt den Taumel, das unberechenbare und ihre Macht, die immer neu gemessen werden will.
Iris liebt die Dinge, sie kann ihre
Seelen zum Klingen bringen, ihnen Vertrauen einflößen, ihre Geheimnisse hervorbringen. Dinge sind berechenbarer als Menschen, Dinge haben mehr Geduld. Sie drängen nicht hinein, greifen nicht nach ihr mit Gierhänden, mit grellen Grimassen. Sie erwarten keine Reaktion, kein Verhaltensmuster, sie werben sanft und zurückhaltend. Dinge geben Iris die Sicherheit und den
Schutz, den wir ihr nicht immer garantieren können.
Ich liebe Iris. Ich liebe sie in ihrer Schwere und ihrer Härte. Sie ist ein
Stein aus Nebel, scheinbar fest und denoch leichter als Luft. Ich liebe
Lena. Ich liebe ihre Leichtigkeit und ihre Tänze. Sie wirkt stark, doch nur unter ihren Bedingungen. Ihre Macht ist armselig, wie beseligend sie auch sein mag. Sie lebt für den Augenblick. Iris lebt für die Ewigkeit. Ich sehe sie beide. Ich sehe uns. Sehe jede Faser des Geflechtes, in das wir alle mitenander verwoben sind. Keine Regung, die nicht Folgen mit sich trüge, kein Gedanke, der nicht das Netz lockerte oder verdichtete. Wir sind Teile des Ganzen, wir
müssen uns schützen, jeder Ausbruch birgt irreparable Schäden.
Ich sehe die versengten Fäden auf Iris' Seite. Versengt in dem Zimmer, in das Lena eben gegangen ist. Ich sehe, wie sie steinern und hart wieder zu sich kommt, aus den vielen Teilchen ein Ganzes zu formen versucht, und dann sich aufs neue bemüht zu begreifen, dass diese Ansammlung von Teilchen sie selber ist. Ich sehe Lena dem Mann in der Ecke das Leben zuwerfen, sehe sie um einen Platz ins seinem Gedächtnis werben, um ein Gefühl, ein lebendiges, Angst, Begehren, Hass, irgendeins. Ich sehe, wie das Netzwerk sich verdichtet, wie neue Energie in Lenas Seite hereinströmt und wie Iris versucht, die schadhaften Stellen auszubessern. Ich sehe alles. Mein Auge ist mein Überleben und mein Verderben. Immer schärferes Sehen bringt immer größeres Wissen. Und daraus forme ich immer neue Regeln. Regeln, die Iris schützen und Lena Siege bringen. Regeln, die uns durch die Aussenwelt sicher und siegreich zu manövrieren vermögen. Schau genauer hin, noch genauer, achte auf alle Feinheiten. Sieh, während Lena sich mit ihrem Nachbarn unterhält, vertieft sich der Fremde in der Ecke verbissen in seine Arbeit. Seine Hände krallen sich in das Papier, sein Gesicht
verkrampft. Der Mund wird dünn, aber die Augen entgehen seiner Kontrolle. Sie flattern. Ungleichgewicht im Gesicht. Es bedeutet, dass sich ein Unwohlsein in seinem Körper ausbreitet.
Menschen drücken ihre Empfindungen durch Gebärden
und Mimik aus. Intuitiv. Intuition. Menschen verhalten sich intuitiv. Doch unsere Intuitionen sprechen andere Sprachen, feinere Sprachen. Um ihre Intuitionen zu durchschauen beobachte ich. Sehe, registriere, fasse in Regeln. Wir leben aufgrund von meiner Statistik. Neue Beobachtungen, neue Gesichter. Neue Kommunikationserkennung. Eine Suche nach der perfekten
Tarnung. Ich habe meine Aufgabe. Ich sehe das Ganze. Ohne mich
zerbricht alles, ohne mich sterben wir alle.
...
ich werde hinaus gehen und hinab, über die Wiesen und die taubedeckten Felder, werde den Geruch der Herbstblätter in meine Nase einschenken und die Bewegung des Nebels in meine Augen eintauchen. Ich wede gehen und werde schweben, bis ich zu dem See komme, dem schwarzen See der meine Seele birgt. Dort ist sie
sicher, geschützt durch einen lebenden Spiegel. Das Wasser ist tief, die Schwärze kalt. Ein einziges Tauchen, ein Sehnen und der See lockt mich wieder, lockt mit seiner Wirklichkeit. Seine Stimme schmeichelt, die Wellen umspülen meine Hand, kräuseln, fließen, begehren, werben, geben sich ihr willig hin.
Aber ich ? Ich kann nicht hinab. Dort wird meine Luft zum Atmen nicht reichen.Oh, mein Wunsch nach eisiger Karheit, mein Wunsch nach meiner Welt.
Unsere Anspannung, die Aufregung der anderen wächst mit jeder Sekunde. Lenas Energie birst. Fast ist es, als ob ein unsichtbares Boot aus dem Gleichgewicht gerät. Lenas großer Auftritt steht bevor. Immer und immerwieder betrachtet sie sich im Spiegel, ihr Gesicht, ihren Körper. Der Hunger nach Leben, nach Kommunikation ist bei ihr am stärksten verankert. Ohne ihren unermüdlichen Wunsch nach Erneuerung der Verbindung zwischen uns und der Aussenwelt würden wir dort nicht überleben.
Wenn ich das Zimmer betrete, verharrt alles. Blicke fliegen mir zu, meine Gebärden sind kraftvoll, mein Witz, meine Worte erreichen den verstecktesten, den verkrustesten Geist. Ich ruhe nicht eher, bis ich nicht auch von jenem mürrischen, zynisch blickenden Gesicht dort in der Ecke einen Hauch von Zustimmung, von Bewunderung, von Anerkennung bekomme. Ich betrete einen neuen Raum und gespannt verfolgen meine Augen, während sie in leichtem Tanz alle
Personen im Raum umspielen, jede Bewegung, jede mögliche Anspannung seines Gesichts, jede Kräuselung seines Mundes, sind in stetiger Erwartung des Ersehnten: Dem Nachgeben, der Kapitulation. Meinem Charme kann niemand widerstehen. Ich hebe die Hand, alles verharrt, ich werde zu ihrem Mittelpunkt. Und doch ist es gerade das Werben um die Annerkennung eines harten Geistes das mich mehr reizt, das mich mit mehr erfüllt, als die hundert leichten Siege auf der Strasse, in hastenden Gesichtern, in Läden, in Gesellschaften.
Ich trete in einen neuen Raum ein und sofort bietet sich mir
die Verteilung von Sympathien und Antipathien, bieten sich mir die
Rivalitäten, die leichten Siege und die so lockendend unbesiegbar Scheinenden ausgebreitet wie eine Landkarte dar. Und mit einem Blick weiss ich genau, wo die tiefen Höheln versteckt sind, mit ihren Schätzen. Hinter unbewegten Gesichtern, hinter wichtigen Gesichtern, hinter der zur Schau getragenen Gleichgültigkeit. Sie mögen noch so harte Schlösser, noch so feste Mauern haben, ich finde ihre Spur, ich setze an, mir widersteht nichts. Mein Begehren
ist nicht Besitz. Meine Erregung steigt mit jeder neuen Tür, mit jedem unerwarteten Wiederstand, weiter immer weiter dringe ich vor, bis sie mich fast wahnsinnig macht vor Taumel, vor Anspannung. Gleich wird die Linie am Mund sichtbar. Ich fühle es, ich sehe seine Augen auf mir ruhen, gegen seinen Willen flattern sie über mein Gesicht, gegen seinen Willen lauschen seine Ohren auf meine Worte, auf mein Lachen, wenn ich mich mit der Person links von mir
unterhalte, die schon beim ersten Anblick, nein schon bei der Bewegung der Tür den Kopf nach mir umwandte und so gewonnen war.
Ach, es gibt so viele von diesen leeren Menschen, sie sind einander so ähnlich, sie suchen das Glück ausserhalb ihrer Selbst, sie sind gierig nach Ablenkung, nach Entertainern, sie laufen jedem hinterher, der sie von der Schwüle ihrer trägen Gedanken erlöst. Sie brauchen immer neue Drogen. Alles, alles ist gut genug für sie. Deswegen sehen sie zu mir auf, hängen ihre trüben Augen an jede Faser meiner Erscheinung, lauern auf jede Andeutung von Witz.
Aber dieser dort, der in der hintersten Ecke sitzt, dieser dort ist
anders. Die Menschen hier werden mich solange bewundern, wie ich da bin, und wenn ich gegangen bin, wird sich ihr Blick sehnsuchtsvoll heben, wenn die Tür geht, sie werden sich ohne Wahl und ohne Stolz jedem in die Arme werfend, der dort hineinkommen möge, der sie von ihren schwülen Träumen befreit. Er aber, der dort in der Ecke sitzt, dessen Kopf sich so eifrig und verbissen in seine Arbeit vertieft, wird, wenn ich aus der Tür entschwunden bin, den Kopf heben, wenn die Tür geht, um zu sehen, ob ich nicht doch zurückgekommen bin. Er wird mich nicht
vergessen. Er wird sich nicht Neuem in die Arme werfen. Er wird warten, ob ich zurückkomme, und gleichzeitig sich selber dafür verachten. Ich werde in seinen Augen die Spuren eines Kampfes hinterlassen, seinen Stolz ausfasern, er wird mich hassen. Er wird mich hassen, weil er mir nicht widerstehen konnte. Ich sehe, wie er kämpft, wie er versucht, seine Gedanken auf die Arbeit vor sich
zu lenken. Doch sie gehorchen nicht, sie kehren immer wieder zu mir zurück, zu mir, die er hasst und begehrt, deren Leichtigkeit er verachtet und die ihn dennoch gefangennimmt. Er spürt das Leben in mir, die Realität, die sich nicht hinter einem geordneten Leben versteckt hält, eine Leichtigkeit , die ihn erzittern macht.
Menschen sind es gewohnt, ausgezählte Schritte auf immergleichen Wegen zu machen: zur Haustür, zur U-Bahn, zum Fahrstuhl, zum Büro, zur Kneipe und wieder und wieder von vorne. Ihr Blick ist gesenkt, doch sie sehen nichts. Diese Menschen der immergleichen Wege sind in Gefahr, wenn sie den Kopf heben. Einen Augenblick lang vergessen sie, ihre Füße zu steuern. In solchen Momenten
dringt das Leben in sie ein, das Chaos in ihrem innern regt sich, bahnt sich den Weg, wie Rauch, der durch Ritzen dringt, wenn das Fenster nicht richtig schliesst. Dieser kleine Moment genügt, und sie werden mit der ganzen Schwindeligkeit der Existenz mitgerissen. Ein kleines Stück nur, und dennoch genügt es, um das lange vergessene, das gut versteckte zu spüren: Angst. Angst
vor und Angst um das Leben. Das wirkliche, zu lebende und doch nie gelebte Leben.
Ich fühle seine Augen auf mir ruhen, während ich mich mit anderen unterhalte, welche ich dennoch nicht sehe, obwohl ich in ihre schwülen, saugenden Löcher blicke. Ich fühle nur, fühle die Angst in seinem Blick, sehe den Kampf und nun weiss ich: Er hat sich viel zu weit vorgewagt. Seine Ohren sind gespannt, sein Fenster öffnet sich einen Spalt. Rauchschwaden steigen leise nach oben. Ich sage Worte. Nicht zu meinem Nachbarn, obwohl ich ihm in die Augen sehe, obwohl ich meine Gesten auf ihn ausrichte, nicht zu den Personen gegenüber, die mich mit ihrem unterwürfigen Lachen umschmeicheln, mich lieben, mich feiern. Meine Worte sind auf eine andere Bahn gelenkt. Und die unbedeutende kleine Geschichte taumelt eine Weile durch den Raum, umflattert vom Lachen, von der Bewunderung der Anderen, wendet sich ihm zu und trifft in ihrer Leichtigkeit wie ein Eissplitter in seine Seele.
Ich sehe ihn, ich sehe die Muskeln seiner Mundwinkel zittern, sehe den Kampf, sehe die Augen gefüllt von Hass und Begehren, und dann: Da, er ist bezwungen, er lächelt. Ein ungewohntes, ein ungelenkes Lächeln. Ich sehe es obwohl ich nicht hinblicke. Jetzt schaue ich auf, blicke direkt in diese Augen, die brechen, auf diesen Mund, der lächelt. Wir sehen uns an, wir wissen beide: Er ist besiegt. Er wird durch dieses Lächeln zum Verräter an sich selbst, an seinem Stolz, an seinem geordneten sauberen Leben. Ich sehen ihn an, und ich weiss, dass er weiss. Ich habe gesiegt. Das Leben hat gesiegt. Es bleibt nichts mehr zu tun. Ich stehe auf, nehme meine Mantel, nehme mein Licht und verlasse ihn, der mich nicht vergessen wird, der mich hassen wird, und sie, die sich begierig umwenden werden ob nicht die Tür geht, ob nicht jemand hereinkommt, der sie erlöst für Minuten, für einige kostbare Augenblicke von der Schwüle ihrer Gedanken und ihrer Seelen.
Wenn Lena einen Raum betritt, bleibe ich einen Augenblick vor der Tür stehen. Mir bleibt nur ein Windhauch um das Grauen hinauszuzögern, ein Wellenschlag um mich noch einmal als Einheit zu spüren. Doch der Geruch der fetten, dichten Menschlichkeit dort drinnen dringt wie ein gelber Nebel über meinen See. Ich rieche den Schweiss, die gierigen Bewegungen, sehe ihre Münder verzerrt und grell.
Wenn Lena den Raum betritt verharrt alles. Sie ist voller Licht, die schwülen Augen bahnen sich wie von selbst den Weg zu ihr. Wenn ich diese Augen spüre, fährt ein schneidender Schmerz durch meinen Körper, ein ungeheurer Druck scheint mein Ich sprengen zu wollen. Die Glaswand, die mich umgibt wie ein eisiger Sarg, die mich trennt von ihrer Welt, die mich schützt, wird nur noch
Sekunden dem Ansturm standhalten. Das Lachen wird lauter, der Druck steigt, ein Dröhnen, ein Beben. Schnaufend, züngelnd, sengen sich ihre Blicke durch das Glas, ätzen sich durch meinen Körper, wollen weiter immer weiter, hinab zu meinem See, verwüsten die Wiesen, zerfetzen die Blätter, weiter immer
weiter. Mein weisser reiner Nebel flieht erschroken, der See kräuselt sich, trübt sich, sinnt vergeblich nach einem Ausweg.
Während Lena lachend und tänzelnd um die Zuneigung aller wirbt, fühle ich meinen Körper nicht mehr, mein Ich nicht mehr. Es gibt keine Festigkeit im Schwindel, ich falle, ich falle, durch meinen durchsichtigen Körper, durch meine zerfließende Seele. Drehend, wehend bin ich gefangen in dem Sog, um mich herum, in mir herum ein Taumel, das Chaos, zuschnellend auf die größte
Katastrophe: Gleichzeitigkeit.
Berührungen werden zu grellen Funken, Gerüche zerschneiden mein Trommelfell, Laute sengen sich durch mein Fleisch.
Während Lena spielerisch alle ihre Reize einsetzt, während ihr Geist sich mit dem Fremden in der Ecke beschäftigt, versinke ich in der Flut der Empfindungen, die von aussen auf mich einhämmern. Kann sie nicht trennen, nicht fassen. Ich sehe den Fremden nicht. Ich sehe die Menschen nicht. Nur mein See schäumt auf vor mir, tobt in brennendem Wasser. Ich kann nicht unterscheiden, aus welcher Richtung die Funken sprühen, kann meine Schutzschilde nicht ausrichten. Es kommt wie eine Welle, es verschlingt mich,
gleich werde ich mich auflösen, gleich werde ich nicht mehr sein, als tausende und wieder tausende kleiner Teilchen, lose, ohne Verbindung weder zueinander noch zu einer Aussenwelt. Die Scheibe birst, Splitter bohren sich in meinen Geist, die Welle verschlingt mich, ich löse mich auf, werde leichter als
Meeresschaum auf dem Wasser, während Lena dem Fremden in die Augen blickt. Sie nickt. Sie hat gesiegt. Sie steht auf, und geht, und nimmt das Licht mit. Zurück bleibt sein Hass und mein Tod.
Wenn Lena einen Raum betritt, sehe ich Iris' hartes Gesicht. Sehe in ihren unbewegten Zügen das Wissen um das Kommende. Sie bleibt maskenhaft, ihr Gesicht verrät keine Bewegung, und doch sehe ich wie ihre Glaswand zittert. Sie ist die einzige von uns, deren Schild so schwach ist. So ist sie schutzlos, ausgeliefert und zu immerneuer Auflösung verdammt. Zu zerbrechlich, zu zerfließlich, um in der Welt zu bestehen, ist sie aber die einzige von uns,
zu der der See spricht. Zu ihr kommen die Dinge, ihre Hände sind in
immerwährendem Gespräch mit ihnen. Sie schmeicheln ihr, sie vertrauen ihr, sie suchen Schutz. Gestern sah ich Iris, ich sah eine Kastanie am Boden des Zuges um Iris' Hand werben, während Lena versuchte, dem jungen Mann in dem Abteil gegenüber zu gefallen. Ich sah die Kastanie um Iris' Schutz bitten, und sah ihr Beben, ihre Lust, als Iris ihr ihre Hand reichte. Ich sah den Tanz beider,
während Lena mit einer gezielten Bewegung des Kopfes das Lächeln des Mannes gewann.
Ich sehe alles, alles, sehe Lenas Kampf und den Tanz von Iris' Hand und der Kastanie, ich sehe die Sehnsucht des Mannes im Abteil gegenüber nach einer Fortstetzung des Spiels, und auch den grob gewebten Vorgangstoff, der, indem er sich sehr zaghaft und schüchtern im Takt des Zuges wiegt, versucht, Iris' Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen.
Lena liebt es, inmitten von Menschen zu sein, vielen Menschen, und dies als ihr Zentrum, als Siegerin, sie liebt den Taumel, das unberechenbare und ihre Macht, die immer neu gemessen werden will.
Iris liebt die Dinge, sie kann ihre
Seelen zum Klingen bringen, ihnen Vertrauen einflößen, ihre Geheimnisse hervorbringen. Dinge sind berechenbarer als Menschen, Dinge haben mehr Geduld. Sie drängen nicht hinein, greifen nicht nach ihr mit Gierhänden, mit grellen Grimassen. Sie erwarten keine Reaktion, kein Verhaltensmuster, sie werben sanft und zurückhaltend. Dinge geben Iris die Sicherheit und den
Schutz, den wir ihr nicht immer garantieren können.
Ich liebe Iris. Ich liebe sie in ihrer Schwere und ihrer Härte. Sie ist ein
Stein aus Nebel, scheinbar fest und denoch leichter als Luft. Ich liebe
Lena. Ich liebe ihre Leichtigkeit und ihre Tänze. Sie wirkt stark, doch nur unter ihren Bedingungen. Ihre Macht ist armselig, wie beseligend sie auch sein mag. Sie lebt für den Augenblick. Iris lebt für die Ewigkeit. Ich sehe sie beide. Ich sehe uns. Sehe jede Faser des Geflechtes, in das wir alle mitenander verwoben sind. Keine Regung, die nicht Folgen mit sich trüge, kein Gedanke, der nicht das Netz lockerte oder verdichtete. Wir sind Teile des Ganzen, wir
müssen uns schützen, jeder Ausbruch birgt irreparable Schäden.
Ich sehe die versengten Fäden auf Iris' Seite. Versengt in dem Zimmer, in das Lena eben gegangen ist. Ich sehe, wie sie steinern und hart wieder zu sich kommt, aus den vielen Teilchen ein Ganzes zu formen versucht, und dann sich aufs neue bemüht zu begreifen, dass diese Ansammlung von Teilchen sie selber ist. Ich sehe Lena dem Mann in der Ecke das Leben zuwerfen, sehe sie um einen Platz ins seinem Gedächtnis werben, um ein Gefühl, ein lebendiges, Angst, Begehren, Hass, irgendeins. Ich sehe, wie das Netzwerk sich verdichtet, wie neue Energie in Lenas Seite hereinströmt und wie Iris versucht, die schadhaften Stellen auszubessern. Ich sehe alles. Mein Auge ist mein Überleben und mein Verderben. Immer schärferes Sehen bringt immer größeres Wissen. Und daraus forme ich immer neue Regeln. Regeln, die Iris schützen und Lena Siege bringen. Regeln, die uns durch die Aussenwelt sicher und siegreich zu manövrieren vermögen. Schau genauer hin, noch genauer, achte auf alle Feinheiten. Sieh, während Lena sich mit ihrem Nachbarn unterhält, vertieft sich der Fremde in der Ecke verbissen in seine Arbeit. Seine Hände krallen sich in das Papier, sein Gesicht
verkrampft. Der Mund wird dünn, aber die Augen entgehen seiner Kontrolle. Sie flattern. Ungleichgewicht im Gesicht. Es bedeutet, dass sich ein Unwohlsein in seinem Körper ausbreitet.
Menschen drücken ihre Empfindungen durch Gebärden
und Mimik aus. Intuitiv. Intuition. Menschen verhalten sich intuitiv. Doch unsere Intuitionen sprechen andere Sprachen, feinere Sprachen. Um ihre Intuitionen zu durchschauen beobachte ich. Sehe, registriere, fasse in Regeln. Wir leben aufgrund von meiner Statistik. Neue Beobachtungen, neue Gesichter. Neue Kommunikationserkennung. Eine Suche nach der perfekten
Tarnung. Ich habe meine Aufgabe. Ich sehe das Ganze. Ohne mich
zerbricht alles, ohne mich sterben wir alle.
...