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Schwebend

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Eisig. Das Wasser ist eisig. Es ist so kalt, dass es wehtut. Es ist außerdem auch fast so klar wie Luft. Wenn etwas so klar ist, dann muss es schmerzen. Zu viel zu sehe kann man nicht einfach so ertragen. Die Kälte ist schon fast betäubend. Sie geht über den Schmerz hinaus. Wenn sie mich ganz einnimmt, gehe ich vielleicht auch ich über den Schmerz hinaus. Ich mache ein paar schwache Schwimmbewegungen. Die Kälte trägt mich und rahmt mein Gesicht ein. Während ich in den Himmel starre, ist es, als stünde ich an der Grenze zwischen zwei Welten. Noch habe ich diese neue Welt nicht betreten, ich kann nur in sie hineinsehen.
Ein schwarzer Punkt taucht auf, ein Vogel. Was wird er von mir denken? Wofür hält er mich? Wie mag es wohl aussehen, mein bleicher Körper im klaren Wasser treibend, mein Geist irgendwo darüber. Es ist mir egal. Ich bin darüber hinweg. Dieser Vogel geht mich nichts an. Es gibt nur noch eine einzige Perspektive für mich. Vor Monaten hätte ich das nicht sagen können. Eigentlich habe ich mich immer nur durch einen Spiegel gesehen, den mir andere vorhielten. Jetzt weiß ich, dass es nicht darauf ankommt, nur sich zu betrachten, denn schnell übersieht man die wichtigeren Dinge.
Hier bin ich namenlos. Kein Ruf haftet mir hier an. Niemand verlange von mir, auf eigenen Füßen zu stehen oder zu gehen. Ich schwebe im Wasser, bedeutungslos wie ein einzelner Regentropfen. Meine Hände und Füße kann ich nicht mehr spüren. Es ist, als hätten sie sich im klaren Wasser aufgelöst. Langsam werde ich eins mit dem Wasser. Es stört mich jetzt nicht mehr. Ich habe kein Bedürfnis, zu schwimmen oder dagegen anzukämpfen. Es ist, wie es ist. Und es ist gut so.
Die sanften Wolken am Himmel sehen so einladend aus, als riefen sich mich zu sich. Ich bin nicht einsam, denn ich weiß, ich werde nicht mehr so sein wie bevor. Ich bin es nicht. Das Gefühl des Loslassens kriecht sanft, fast schon streichelnd hinauf zu meiner Brust. Ich atme tief ein, ein letztes Mal. Ich genieße das herb würzige Aroma des Nadelwaldes, die Reinheit der klaren Luft. Ich sauge auch die fast vollkommene Stille ein. Sie wird nur durchbrochen vom leisen Rascheln des Windes in den Zweigen und dem beruhigenden Klatschen der Wellen. Sacht, ganz sacht umspielen sie meinen Körper und durchweichen meine Seele. Bald wird sich beides darin auflösen. Ich habe weder Angst, noch bin ich traurig. Ich spüre, dass das, was geschieht, gut ist. Zum ersten Mal fühle ich mich so geborgen, dass ich mit meiner Umwelt verschmelze.
Das Wasser vereint sich an der Oberfläche über meinem Gesicht. Langsam sinke ich tiefer. Das Licht bricht sich im Wasser, die Wellen verzerren den Himmel. Es ist so wundervoll, wie sich alles verändert, ohne dass ich mich davor fürchten muss. Ich führe mich so geborgen, so gelöst. Ich lächle, als mein letzter Atemzug in Form quirliger Blasen an die Oberfläche steigt. Ich atme aus und entlasse alles Schlechte aus meinem Körper, den Schmerz, den Hass, die Trauer, die Einsamkeit. Wo ich hingehe, brauche ich sie nicht. Sie werden nur Worte sein. Sie werden nur Luft sein.
Obwohl ich sinke, fühle ich mich unglaublich leicht. Leicht und frei. Ich schließe die Augen und lasse los. Meine letzte Reißleine gebe ich aus der Hand. Von nun an brauche ich mich um nichts mehr zu sorgen. Ich begebe mich in die Obhut von Mächten, die in mich einfließen. Es ist, als täte ich alles selbst, nur intuitiv. Hier mir nichts geschehen. Jetzt bin ich frei.

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Daydreaming

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