← Zurück zur Übersicht

Kurt

Share
Fortsetzungsgeschichte in 3 Teilen

1. Teil: Haltestelle

Eigentlich mochte Kurt Haltestellen nicht. Er mied sie so gut es ging; sie schienen ihm gespenstisch und unwirklich, vor allem nachts. Kurt glaubte zwar nicht an Gespenster, dies erschien ihm bei einem Mann seines Alters nicht angemessen, dennoch überkam ihn, sobald er sich einer Haltestelle näherte, ein mulmiges Gefühl.
Doch dieser Abend war anders, wie auch der mittlerweile vergangenen Tag nichts von der „gewohnten Routine“, die Kurts Leben bestimmte, beinhaltete.
Zwar hatte er ein ungutes Gefühl als er sich langsam der Bus-Haltestelle näherte, doch dieses Gefühl bezog sich auf etwas ganz anderes...
Ein kleiner Regenschirm schützte Kurt vor dem herbstlichen Nieselregen während sein ausgebleichter Stoff-Mantel (vor sehr langer Zeit musste er schwarz gewesen sein) vergeblich gegen die Kälte ankämpfte. Außer Kurt war in näherer Umgebung kein menschliches Wesen zu erkennen. Nur selten hörte man in der Ferne Hunde bellen oder vernahm den dumpfen Lärm einiger Autos, doch Kurt hörte weder die Einen noch die Anderen.
Eine alte Laterne, die lieblos neben der Haltestelle aufgestellt war, spendete nur spärlich Licht und tauchte die nächtliche Umgebung in ein blasses Grau.
Einen kurzen Augenblick sah Kurt zur Laterne hinüber und fragte sich wie es wäre, wenn sie sprechen könne. Dann hätte er Gesellschaft und jemanden, dem er alles erzählen könne. Jemand, der ihn von der Kälte ablenke und die Dämonen in seinem Kopf vertreibe.
Die Laterne würde ihn und seine Taten nicht verurteilen, dessen war er sich sicher. Sie kenne doch wohl selbst zu gut die Schattenseiten eines Lebens in Einsamkeit.
Kurz darauf hatte er den Gedanken an die sprechenden Laterne wieder verloren und schaute ausdruckslos in der Gegend herum. In einer Entfernung von einigen Metern erspähte er durch seine glasigen Augen einen Zigarettenautomaten der neben einer bereits geschlossenen Trafik hing.
Kurt hatte nie viel Geld gehabt, doch bei den Zigaretten sparte er nie. Verunsichert torkelte er zum Automaten, kramte in seiner Manteltasche nach ein paar Münzen. Damit fütterte er den Geldschlitz und wurde sogleich mit der Packung seiner Lieblingszigaretten belohnt. Ungeduldig riss er das Päckchen auf, wie er es als kleines Kind am Weihnachtsabend mit seinen Geschenken gemacht hatte, nahm sich eine Zigarette und zündete sie an.
Schon mit dem ersten Zug spürte er die Ruhe in seinen Körper Einzug halten, das erste Mal an diesem schrecklichen Tag. Die Dämonen gönnten ihm eine Pause.
Kurz erinnerte er sich daran, dass er schon am späten Nachmittag versucht hatte, seine Dämonen im Alkohol zu ertränken. Das Ergebnis war (im wahrsten Sinne des Wortes) niederschmetternd. Doch das war ihm jetzt egal. Zug für Zug fühlte er sich wie neu-geboren.
Die Stille in Kurts Körper hielt bis zur dritten Zigarette an, dann überkamen ihn wieder seine Dämonen und eine Träne bahnte sich ihren Weg über seine rote, mit Narben und kleinen Äderchen übersäte, Wange und tropfte auf den ohnehin schon nassen Asphalt.
Unaufhaltsam quollen aus seinen Augen immer neue Tränen hervor und überfluteten sein ganzes Gesicht. Er entriss seinem Mund die Zigarette und warf sie auf den Boden. Zeitgleich spannte Kurt seinen Regenschirm ab, er war ohnehin schon völlig durchnässt, und betrachtete ihn.
Der kleine, schwarze Regenschirm war ein Geschenk seiner mittlerweile verstorbenen Mutter. Sie war die einzige Frau, die ihn je liebte. Die einzige Frau, die er liebte. Er umklammerte den Holzgriff mit beiden Händen und dachte an die Zeit, als er noch ein kleiner Junge war.

Er liebte seine Mutter sehr; im Gegensatz dazu hasste (untertrieben gesagt) und verabscheute er seinen Vater.
Dieser, ein kräftiger Mann mit gutem Beruf und hohem Ansehen, hatte eine ungewöhnliche Vorliebe. Niemand sprach darüber, aber die meisten wussten davon. Man sah es in den Augen seiner Kinder.
Anna, Kurts Schwester, nahm wohl den besten Ausweg. Als sie 14 war riss sie von Zuhause aus. Sie ließ eine hilflose Mutter und einen verängstigten 9 jährigen Kurt zurück. Aber ihr ist kein Vorwurf zu machen. Ihr nicht.
Kurt lief nie von Zuhause weg. Er konnte es nicht übers Herz bringen, seine Mutter zu verlassen. Als „Gegenleistung“ zerstörte Kurts Vater das Leben seines Sohnes; noch bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.
Irgendwann zog Kurt mit seiner Mutter in eine eigene Wohnung, seitdem hatte er seinen Vater nie wieder gesehen...

Plötzlich riss ein quietschender Lärm Kurt aus seinen Erinnerungen und vertrieb die Dämonen. Ein Auto hielt direkt vor ihm. Vom Scheinwerferlicht geblendet konnte er nichts erkennen.
„Pass auf wo du hinrennst, Penner!“ brüllte eine tiefe Männerstimme aus dem Auto, vermischt mit dem kreischenden Gelächter einer offensichtlich erheiterten Dame.
Kurt tapste zurück auf den Gehsteig und ließ das Auto passieren. Ein letztes „Arschloch!“ aus dem Mund des Autofahrers beendete die Begegnung.
Langsam kam Kurt zu sich und beschloss die „dämonenfreie“ Zeit zu nutzen um den Bus-Fahrplan zu studieren. Er stolperte zum Fahrplan und versuchte, die Zahlen und Worte zu entziffern. Doch seine verweinten Augen und die alte Laterne machten all seine Versuche zunichte.
Frustriert setzte er sich auf die Bank der Haltestelle. Nun drang die Nässe bis in die kleinste Falte seiner Haut und die Kälte wurde beinahe unerträglich.
Er wollte nur weg. Weg von den Dämonen und weg von seinen begangenen Taten. Er bereute nichts, zumindest fast nichts, aber er hielt es hier nicht länger aus.
Schnell überkam ihn die Müdigkeit...und kurz, bevor er einschlief sah er noch das blutverschmierte Gesicht seines Vaters...
Als Kurt aufwachte bemerkte er einen großen gelben Bus, der sich an ihm vorbeischob und stetig langsamer wurde. Er wusste nicht wie spät es war, es war ihm auch egal. Nacht bleibt Nacht. Zumindest hatte es aufgehört zu regnen.
Plötzlich spürte Kurt, wie sich die Dämonen meldeten. Erst leise, dann immer lauter. Er wusste, er konnte sie nicht aufhalten, aber er wollte zumindest nichts unversucht lassen. Vielleicht konnte er ja flüchten.
Noch bevor er weiterdenken konnte spürte er, wie seine Magensäure langsam die Speiseröhre hochkletterte. Er erinnerte sich an den Alkohol...und kotzte seine gelbe Galle (passend zur Farbe des Busses) auf den Boden, woraufhin seine Speiseröhre fürchterlich brannte.
Und da er weder Zeit zum nachdenken noch Lust darauf hatte in der Stadt zu bleiben, stieg er schnell in den Bus, dessen Türen sich hinter ihm knarrend schlossen, und ließ seine Dämonen (vorerst) hinter sich.

Autorentreff-Newsletter

Lass dich per E-Mail über neue Beiträge informieren.

Loading

Autor:in

zeroone

zeroone

Ehemaliges hhesse.de Mitglied

Du schreibst selbst Gedichte?
Veröffentliche dein Gedicht im Autorentreff von hhesse.de.

Kommentare

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments