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Karls Spiegel

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Karl war ein langweiliger Mensch. Die einzige Freude in seinem Leben war der Taschenspiegel einer Frau, die er einst kennen gelernt hatte. Karl saß oft in seinem großen Couchsessel und betrachtete sein Gesicht in dem kleinen Spiegel, dessen Spiegelfläche kaum großgenug war um Karls gesamtes Gesicht zu spiegeln. Karl verzichtete auf seine täglichen Ausflüge, ging nicht mehr zum Heurigen, er saß nur mehr die ganze Zeit in seinem Couchsessel und betrachtete den Spiegel.
Nach einigen Monaten war Karl richtig untersetzt, hatte enorm stark abgenommen, so dass ihm bereits die Haut von den Knochen hing. Er ernährte sich von trockenem Brot und Wasser, wie ein Gefangener, der er im Grunde auch war, gefangen im Anblick des Spiegels. Er konnte sich selbst darin sehen, bis er ihn schloß, da war sein Bild verschwunden und obwohl ihm bewusst war, dass er noch da sein musste, fasste er sich jedesmal auf die eingefallenen Wangen um ganz sicher zu sein, dass mit seinem Spiegelbild nicht auch er verschwunden sei. Er hatte zwar auch einen Spiegel im Badezimmer, aber darin war er immer zu sehen, wenn er davorstand, da gab es kein schließen des Deckels, kein Verschwinden des Spiegelbilds, das einzige was verschwand waren die Fettpölsterchen, die sich, auf Grund seiner nicht ausreichenden Ernährung, eher in Hautstellen unter den deutlich erkennbaren Rippen verwandelten, und die Haare, die zu immer größeren Mengen ausfielen, sodass er schon nach einem dreiviertel Jahr Glatze trug, was ihn aber nicht weiter störte, weil er eigentlich nie aus dem Haus ging. Er gefiel sich ganz gut, denn die Glatze schimmerte leicht im Sonnenlicht, das durch das Zimmerfenster hereinschien und in seinem Taschenspiegel schimmerte die Glatze seines Spiegelbruders zurück und hatte sichtlich Spaß daran so von der Sonne umspielt zu werden.
Schließlich fand Karl, dass es sehr schön wäre, sich nackt auszuziehen und seinen ganzen Körper, der inzwischen nurmehr aus Haut und Knochen bestand, im Taschenspiegel zu bewundern.
Er zog sich aus und versuchte sich zu betrachten, aber in einem Stück war das nicht möglich. Karl schloss den Spiegel, fühle ob er noch da war, wie er es ja immer tat und überlegte. Schließlich fiel ihm ein, dass je weiter er sich von dem Spiegel entferne, desto mehr von seinem Körper zu sehen war. Karl stellte den Spiegel auf den kleinen Fernsehtisch und entfernte sich rückwärts. Er stand schon an der Wand, als er sich endlich sah und es was wunderschön. Er betrachtete sich ganz genau, auch wenn es nur ein kleines, verschwommenes Bild seiner Selbst war, konnte er sich nicht daran satt sehen. Er blieb einen Tag so stehen, einen zweiten, am Schluss sogar über eine Woche ohne seinen Platz zu verlassen.
Eines Tages, Karl stand noch immer an seinem Platz an der Wand und betrachtete sich selbst, kroch eine Ratte, die wahrscheinlich durch den verwahrlosten Zustand von Karls Wohnung angezogen worden war und es sehr gemütlich empfand, auf den Fernsehtisch. Sie kroch hinter dem Spiegel vorbei, daneben, aber komischerweise nie davor. Karl registrierte sie gar nicht, er betrachtete sich noch immer im Spiegel. Doch plötzlich bewegte sich der Spiegeldeckel, die Ratte musste angekommen sein, und der Spiegel schloss sich. Doch diesmal prüfte Karl nicht ob er noch da sei. Denn Karl war verschwunden.

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NaimED

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