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Januar in Bern

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Ein kalter Wintermorgen, es müssen einige Bücher gekauft werden, das geht nur in der Stadt. Die hohen Fahrkartenpreise sind Anlass zur Konsternation, aber bei dieser Kälte will niemand laufen. Force majeure. Auf der Kirchenfeldbrücke der Blick nach unten, rauchiger Nebel über der Aare. Am Casinoplatz wird immer noch gebaut, der Boden ist jetzt mit rotem Stein gepflastert. Wenig Leute im Stauffacher – wieso? Ich kaufe die Brecht-Biographie. Dreizehn Franken dreissig. Draussen lugt die Sonne hinter den Wolken hervor und ich beschliesse, den Heimweg zu Fuss zurückzulegen. In der Spitalgasse dann der Grund für den schwach besuchten Buchladen: Ein kleines Grüppchen von Demonstranten steht rasselnd und johlend an der Tramhaltestelle, und es fällt mir wie Schuppen vor den Augen: Es ist wieder Januar. Da treffen sich jedes Jahr reiche und mächtige Leute in Davos, um von der Öffentlichkeit ungehört und ungesehen zu plaudern und Pläne zu schmieden, und am Ende geben sie jeweils Prognosen meist wirtschaftlicher Art ab, die in den auf den bewegten Januar folgenden Monaten trefflich durch die Wirklichkeit widerlegt werden. Ich muss an die Dampfplauderer Settembrini und Naphta denken, deren Davoser Diskurse in Inhalt und Wirkung ebenfalls dem doch relativ engen Gesichtskreis jenes verzauberten Berges verhaftet blieben.
Deshalb stehen diese jungen Leute, meine Altersgenossen, hier auf der Strasse, deshalb fährt die Polizei hier auf, viele Kilometer vom verwunschenen Gipfel entfernt.
Die Rasselbande an der Haltestelle ist nur eine Vorhut, soviel scheint klar, oder man möchte es angesichts der nun in grosser Zahl auffahrenden Polizeikombis mit hohen Eisengittern vor der Kühlerhaube zumindest gerne glauben. Ich mache mich dünn und biege ab in Richtung Bundesplatz. Mindestens fünf gepanzerte Polizeiwagen kriechen in einer Kolonne neben mir her. Ich fasse meine Einkaufstasche mit dem Stauffacher-Signet fester, Brecht ist darin. Auf dem Bundesplatz ist noch Markt, Pufferzone und betriebsames Futteral zwischen Regierungsgebäude und Demonstranten. Ich treffe die Mutter eines Freundes; unser Gespräch ist freundlich, durch Nervosität angesichts der zahlreichen Ordnungshüterverhikel abgekürzt. Sie hat Blumen gekauft. Ich trage ihr auf, den Freund zu grüssen und gehe schnell weiter. Die Demonstranten sind jetzt einigermassen weit hinter mir, immer noch bei der Tramhaltestelle, nehme ich an. Vielleicht ist derjenige unter ihnen, der vor fünf Jahren mein bester Freund war. Der nun eine Art Revolutionär ist und seit langem keine Zeit mehr fürs Freundsein hat. Noch hasten viele Passanten mit dem üblichen Gestus von Geschäftigkeit und Wochenendstress an mir vorbei, aber die Luft hat etwas Unheilschwangeres. Sehe ich dort einen Wasserwerfer? Der Zauberberg ist viele Kilometer entfernt, die Demonstranten hundert Meter. Ich erreiche den roten Casinoplatz und setze mich hinter dem Zumstein, wo die Alkis sind, auf eine Bank. Ich schlage das Buch über Brecht auf.

"Die Armut hat zugenommen in unseren Städten
Und es weiss seit langer Zeit
Niemand mehr, was ein Mensch ist.
Zum Beispiel: Während ihr flogt, kroch
Ein euch Ähnliches am Boden
Nicht wie ein Mensch!"

Auf der linken Seite der Kirchenfeldbrücke sehe ich vereinzelte Schlachtenbummler, Vermummte. Ich werfe einen Blick zurück auf die Stadt, auf diese alten Häuser, an deren sandigen Mauern sich bald Sprechchöre, Kommandos und Schreie brechen werden. Ich wende mich um und betrete das näher gelegene rechte Trottoir der Kirchenfeldbrücke. Ich verlasse die Stadt.

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Tyrion

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