← Zurück zur Übersicht

Irgendwo nirgendwo

Share
Viel zu selten kam jemand in das kleine Dorf, als dass selbst die notwendigsten Nachrichten dort die Runde machten. Die Busverbindung hatten sie schon vor Jahren eingestellt, von Bahngleisen war weit und breit nichts zu sehen und kaum ein Taxifahrer hatte sich je hier her verirrt und wenn man herwollte mussten sie immer zuerst die Karten studieren, wobei es gar nicht so sicher ist, dass die kleine Gemeinde dort überhupt verzeichnet war. Nicht einmal eine echte Kirche gab es hier. Das Leben war ruhig und altmodisch. Ferngesehen wurde über Antenne, außer die zwei, drei Häusern, die eine Satellitenschüssel am Dach hatten, Geschenke der Kinder, die in der Stadt wohnen, aber selbst die empfingen oft nur bunte Bilder, die schließlich doch schwarz weiß wurden, weil kaum jemand daran dachte, den alten Fernseher wegzugeben, tat er doch seine Tätigkeit und wenn ferngesehen wurde, dann eh nur Nachrichten, da reicht der Ton.
Die Leute lebten großteils als Selbstversorger, Geld war kaum im Umlauf und wenn, dann auch nur symbolisch, als Schuldschein für eine Leistung, die man später gerne vollbrachte und somit zumindest den Anschein wahrte sie sei umsonst, aus reiner Nachbarschaft und Freundschaft getan. Es gab eine Fleischerei, die vom Bauern das Fleisch bezog, einen Bäcker, der selbst ein kleines Getreidefeld angelegt hatte. Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung lag über 40, kaum junge hatte es hier gehalten, zu viele Eindrücke in den Schulen der großen Stadt, damals, als noch jeden Tag wenigstens ein oder zwei Busse durch den Ort kamen, als es noch Schüler gab. Doch die Zeiten sind vorbei. Hin und wieder Besuch von den Kindern und den Enkeln, man geht dann wandern, außerhalb der Stadt zwischen den Äckern und den Wiesen, am kleinen Bach entlang – der früher mal das ganze Abwasser führte, bis man der Stadt eine richtige Kanalisation bescherte – raus zu dem kleinen Waldstück, künstlich angelegt und wirklich klein, nach zehn Minuten hatte man es durchquert und stand schon wieder zwischen Mais und Weizen auf dem Schotterweg.
Einen Arzt gab es noch, auch wenn der weit über fünfzig war und seine fehlenden medizinischen Kenntnisse nur damit wettmachte, dass er jeden Bewohner des Ortes und dessen Gewohnheiten auswendig kannte und zumeist schon im Wartezimmer Diagnosen stellte, wenn auch nicht immer richtige. Er war einer der wenigen der einmal wöchentlich mit seinem Auto in die Stadt fuhr, Medikamente besorgen, war er doch zugleich auch die Apotheke des Ortes, auch wenn das offiziell niemand wissen durfte. Denn der Apotheker war gestorben, Fehldiagnose, der Arzt hielt es für Keuchhusten – es war Lungenkrebs aber offiziell führte sein Sohn das Geschäft, was weder der noch die zuständigen Behörden wussten. Einmal die Woche kam ein LKW der Post mit all den Bestellungen der ortsansässigen und belieferte das Postamt, man wollte es zuerst schließen, allerdings sah man, dass die Bewohner des Ortes kaum Möglichkeiten gehabt hätten, in die nächstgrößere Ortschaft zu kommen, so blieb es geöffnet und der Arbeitsplatz, den es bereitstellte erhalten, die Kosten allerdings auch, weswegen man alle zwei drei Wochen einmal die Lieferung aussetze um Geld zu sparen, dann musste der Doktor die Pakete entgegennehmen, er fuhr dann immer mit voll beladenem Auto nach Hause und darin roch es nach Gewürzen, Tabak und weiter Welt, weswegen ein paar, die jene schon gesehen hatten oder immer schon sehen wollten dann immer riechen kamen, worauf sie sich beim Doktor auf einen Kaffee trafen, den er frisch hatte mahlen lassen in der Stadt und vor sich hinträumten, von allem was sie im Fernsehen gesehen hatten, wenn auch nur in schwarz – weiß und grau, so malten sie es sich doch in den bunten und abenteuerlichsten Farben aus, bunter als die Realität, die sie nicht kannten, waren ihre Träume, aber sie selbst fühlten sich zu alt und waren – auch wenn sie es nicht zugaben – zu ängstlich um in die Welt hinauszugehen. Auch jene die um die Welt gereist waren, damals, in den besseren Tagen, malten ihre Erzählungen bunter, einerseits den anderen andererseits sich selbst zu Liebe, damit die Erinnerung nicht nur schwarz-weiß und grau wurde.
Man könnte jetzt denken, ja fast hoffen, dass irgendwann ein findiger Geschäftsmann durch Zufall in diesen Ort kam und ihn als letzte großes Idyll aufbauschte, ein Hotel baute und den Tourismus herholte, das alte Landschaftsbild und die Bande unter den Bewohner zerstörte und den Ort veränderte, doch so die Langeweile vertrieb und etwas Schwung in die Geschichte brachte.
So war es aber nicht. Nicht jede Erzählung hat Spannung und Inhalt.
Letzten Sommer starb der Arzt, kurz darauf der Bäcker und dann der Bauer. Die restlichen Bewohner ließen nicht lange auf sich warten. Im November starb der Letzte. Alleine, vor dem Fernseher. Sah sich schwarz-weiß graue Strände an.

Autorentreff-Newsletter

Lass dich per E-Mail über neue Beiträge informieren.

Loading

Autor:in

NaimED

NaimED

Ehemaliges hhesse.de Mitglied

Du schreibst selbst Gedichte?
Veröffentliche dein Gedicht im Autorentreff von hhesse.de.

Kommentare

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments