Geschichten aus F.
1. Volksfest
Der Greis
Wie diese Musik stampfte und krachte! Auf so einem Fest war ich doch schon lange nicht mehr gewesen! Ich, Karl B., Großaktionär und Abteilungsleiter bei einer führenden Firma der Kommunikationsbranche, auf einem Volksfest in F., meinem Heimatdorf! Ach! Und jetzt saß ich auch schon in einem dieser engen Autoscooter.
»Eigentlich sollte ich mich frei fühlen.«, sagte ich mir, »Kollegen und Bekannte - mit Ausnahme der alten Kindheitsfreunde freilich - sind hier nicht zu erwarten; der Sitz meiner Firma ist in A., das ist viele hundert Kilometer von F. entfernt. Ich muss kein schlechtes Gewissen haben.« Und schon ließ ich mich, wild gemacht von der tosenden Musik, ausgelassen über die Bahn gleiten.
»Ach, Gott!«, seufzte da mein Beifahrer, »Sie sind wohl vom Land, wie?« Als ich nichts antwortete, legte er seine faltige, papierartige Hand auf meine Schulter und redete mit heiserer Stimme in mein Ohr: »Wenn man aus der Stadt kommt - und ich bin ein ausgesprochener Städter, wissen Sie, die Schwester meiner Frau hat uns, das heisst, nur mich, denn meine Frau ist längst gestorben, hierhin eingeladen - so verträgt man diesen Lärm nicht sehr gut - ein Städter, der aufs Land fährt, erwartet nämlich dort nichts als Ruhe; er weiß: auf dem Land wird er eine Weile vor dem Lärm der Stadt Zuflucht finden und er freut sich, denn das ist gut für ihn. Wird er nun aber mit solch einem Krach begrüßt, so wird ihm ganz schlecht. Sie verstehen das? Gut. Wollen wir nicht lieber einen Spaziergang machen? Die Nacht ist ja still und klar.«
Warum aber sollte ausgerechnet ich, ein junger, ernstzunehmender Mann, diesen alten kecken Greis - er hatte sich zuvor neben mich in das Autoscooter gedrängt und hielt nun beständig seinen altmodischen Hut, unter dem seine spärlichen weißen Haare zu beiden Seiten lose hinausflatterten, während ich meine wilden Bahnen drehte - warum sollte ausgerechnet ich diesen alten Herrn zu einem Spaziergang begleiten?
»Sie fragen sich wohl, aus welchem Grunde Sie mit mir gehen sollten?«, sagte und zwinkerte dabei schelmisch.
»Ich weiß wirklich nicht, was sie von mir wollen. Gehen sie doch bitteschön allein spazieren. Dort drüben steht ein Mädchen und wartet auf mich. Ich werde gleich zu ihr hingehen.«
Ich stellte den Wagen am Rand ab, stieg schnell aus und ging mit forschen Schritten dem Mädchen entgegen. Doch der Alte war schon da. Er war mir zuvorgekommen und das Mädchen streichelte nun seine wohl kalte, zerknitterte Hand.
Es stellte sich heraus, dass das Mädchen Lene hieß und seine Enkeltochter war. Ich sah den beiden eine Weile traurig zu und aß ein bisschen von meiner Zuckerwatte, dann wurde mir übel und ich ging.
»Halt, halt, hiergeblieben! Ja, wo wollen Sie denn hin? Ins Bierzelt? Schön, wir gehen mit. Aber danach werden wir spazieren gehen, das ist sicher.«
Bierzelt
Im Zelt saßen wir schließlich zu dritt, eng aneinandergedrängt, an einer leeren Bank. Ja, wir waren ganz allein in diesem großen, beinahe endlosen Zelt! Nur eine Bedienung schlürfte weit in der Ferne zwischen den Bänken auf und ab, es war, soviel man erkennen konnte, ein nach altmodischer Dienerart mit einem Frack gekleideter kleiner Herr mit kahlem Schädel.
»Ich will jetzt gehen.«, sagte ich, doch Lene fasste mich schnell am Handgelenk und drückte so fest zu, dass es schmerzte. Der Alte lachte überlaut und sagte, nachdem er sich beruhigt hatte: »Lenchen wird Sie nicht gehen lassen, sie hat Sie sehr gern, müssen Sie wissen. Übrigens werden wir natürlich bald gehen, warten Sie nur noch die Vorführung ab.« Und er blickte erwartungsvoll auf die leerstehende Bühne, auf die jetzt aus einer Hintertür eine dicke, von Schweiß triefende Putzfrau trat, sich unsicher ein wenig im Zelt umsah und dann aus einer Ecke einen Wischer holte, mit dem sie sorgfältig den ganzen Boden der Bühne zu säubern begann. Dann legte sie sich mitten auf der Bühne nieder und schlief wohl ein. Bald kam ein Mann, lang und dürr, aus einer anderen, stark knarzenden Hintertüre, sah die Frau am Boden liegen, schlug die Hände am Kopf zusammen, stolperte mit seinen stelzenhaften Beinen und schrie vor Schmerz laut auf. Dann warf er sich wie ein wildgewordenes Tier über den dicken Putzfrauenkörper und schluchzte.
»Was sind das für Geschichten! Lassen Sie mich von hier fortgehen!«, rief ich und wollte mich von Lenes Griff befreien, was mir nicht gelang.
»Hab doch Geduld. Niemand geht mitten unter der Vorführung. Wo Du jetzt schon einmal hier bist, musst Du auch bleiben.«, sagte Lene streng. Der Alte nickte zustimmend und legte den Zeigefinger an die Lippen um zu bedeuten, dass ich ruhig sein solle.
Plötzlich wurde alles dunkel, nur zwei Bühnenscheinwerfer strahlten in weiter Ferne ungebrochen ihr kaltes Licht auf die Putzfrau und den darüberliegenden, seufzenden Mann. Wieder knarzte - diesmal sehr leise - eine Türe - es war eine Falltüre im Boden - und man sah die Sillhouette eines großen, bärenhaften Menschen auf die Bühne steigen.
Mord
Da zückt er schon das Messer - man sieht es blitzen -, springt auf den Schluchzenden zu und und stößt es dem Ahnungslosen mit Wucht in den Nacken, wo es stecken bleibt. Man hört ein Röcheln. Gleich springt die Putzfrau unter dem sich windenden Körper auf - eine Gelenkigkeit, die man ihr nicht zugetraut hätte - und umarmt leidenschaftlich den prächtigen Mörder.
Nun steigen beide von der Bühne und scheinen auf uns zuzugehen.
Egon
Sogleich bekam ich Panik, doch der Alte flüsterte mir ins Ohr: »Es kann Jahre dauern, bis sie zu uns gelangen, das Zelt ist groß. Sehen Sie die Bedienung?« Er zeigte auf den alten Herrn in Frack, der noch immer zwischen den Bänken streunte. »Ja, die Bedienung, die Sie dort sehen, das ist der kleine Egon. Tatsächlich ist er recht groß, doch man kennt ihn ja nur aus der Ferne und so nennen ihn viele Leute klein. Eine Gruppe von Zeltgästen ist sogar der Meinung, man könne ihn, aufgrund der großen Entfernung, immer nur in seiner Vergangenheit, als kleines Kind, sehen. Sie wissen doch: wenn man mit großen Teleskopen ins Weltall schaut, so kann man Sternexplosionen sehen, die vor mehreren Millionen Jahren stattgefunden haben. Ähnlich sei es beim Egon, sagen diese Leute. Die Luft hier im Zelt sei sehr heiss und verhalte sich dadurch - im gewissen Sinne - wie ein Teleskop - sonst würde man den kleinen Egon gewiß gar nicht sehen können, er sei ja soweit entfernt und so winzig, behaupten sie. Das Licht komme nur langsam voran in dieser stickigen Zeltatmosphäre, und so sähen wir ihn in seiner Vergangenheit. Wir sähen ihn um die Bänke schleichen, doch eigentlich habe er sich schon vor vierzig oder fünfzig Jahren um diese Bänke geschlichen. Jetzt sei er vielleicht längst tot. Nun, ich glaube nicht an diese Theorie, denn man sieht doch - sie werden mir zustimmen - dass er ein alter Herr mit Glatze ist und nicht ein junger Bursche. Er war übrigens ein Freund meiner Schwagerin. Gleich nachdem er aus der Schule kam, hat er begonnen, im Zelt zu bedienen. Damals war er wirklich noch ein Kind. Nun ist er älter als ich und sie könnten die Furchen in seinem Gesicht sehen, wenn er nur nicht so weit weg wäre. Aber er ist nie über die ersten Bankreihen hinausgekommen. Und ist er doch einmal recht weit gekommen, so wird er von ganz vorn, direkt vor der Bühne, wieder gerufen und muss dorthin eilen. Freilich vergehen Jahre, bis er sich schließlich wieder ein Stückchen nach hinten gearbeitet hat. Dann aber hat sich schon wieder ein hungriger oder durstiger Herr oder eine ungeduldig kreischende Dame vorn eingefunden, und er muss wieder schweren Herzens umkehren. Was ihn aber nach hinten treibt, das weiß er natürlich selbst nicht recht. Oft hört er Geschichten über das Ende des Zelts, doch nichts davon ist eigentlich wahr, denn niemand hat das Zelt jemals gänzlich durchquert und kann somit einem vom vorderen Zeltbereich aus eigener Erfahrung etwas über den hinteren Bereich erzählen oder umgekehrt. Bisweilen gibt es zwar Menschen, die sich in der Mitte treffen, der eine kam von hinten, der andere von vorn. Doch sie können sich nicht recht verständigen, auch sind sie müde und wollen nicht reden. Trotzdem sagt ein altes Sprichwort, dass im Allgemeinen der hintere Bereich des Zeltes - nach dem Gesetzt der Symetrie - identisch mit dem vorderen sein muss.«
Ich blickte mich um, sah aber nicht viel, denn es war sehr dunkel.
»Wir gehen ja schon. Es ist jetzt ganz finster hier. Sehen sie den Lichtpunkt dort? Ja? Das ist der Ausgang.«
2. Spaziergänge
Zeltbach
Gleich waren wir draussen. Ich drehte mich noch einmal um. Das Zelt war sehr viel kleiner, als es von innen gewirkt hatte und der Alte machte gerade mit seiner Enkelin an der Hand einige wilde Sprünge darüber, als wäre es kein Bierzelt, sondern ein kleines Lagerfeuer, über das man wohl zu so später Stunde, vom Alkohol toll, springen mag. Es flackerte auch ein we-nig. Oder waren das die Augen des Mädchens?
Nun, ich sah dies als gute Gelegenheit, mich von den beiden heimlich da-vonzustehlen. Ich bog auf einen Feldweg ein, der direkt hinter dem Zelt begann und an einem rauschenden Bächlein entlangführte. Ich blickte um und bemerkte, dass das Bächlein aus einem Rohr, das aus der Zeltwand kam, sprudelte. Da sah ich auch schon ein Schild am Wegesrand: »Zelt-bach; bitte nicht queren.« Bald kam ich über eine Holzbrücke, unter der ein weiterer kleiner Bach floß und da in den Zeltbach mündete. Auf dem Schild an der Brücke stand: »Rainbach; bitte nicht verunreinigen.«
Ich stützte mich eine Weile ? meine Beine waren sehr schwach - an das Geländer und ließ mich von der kühlen Luft der Nacht durchwehen. »Die Leute wissen gar nicht, dass die eigentliche Reise erst hinter dem Zelt be-ginnt.«, sagte ich nachdenklich und blickte kopfschüttelnd in das fließende Wasser. Dann ging ich weiter.
Ich kam jetzt in eine gebirgige Gegend, ich konnte mich gar nicht erinnern, dass es hier jemals so bergig war. Ich hielt mich dicht ans Ufer des Zelt-bachs, der schon ein reissender Gebirgsfluss war, denn alle Meter münde-ten neue Quellbäche von den Hängen ein. Einmal sah ich, hoch über mir, eine Familie mit zwei Kindern ? das Mädchen erinnerte mich an meine früh verstorbene Schwester ? zu mir herabwinken. Ich winkte scheu zu-rück. Die Eltern riefen etwas, was wie eine Warnung klang. Sie blickten traurig zu Boden und die Kleider der Kinder flatterten im Winde, als ich langsam aus ihrem Blickfeld verschwand.
Bald kam ich in ein Tal, wo der Zeltbach schließlich als breiter Strom mit dem Namen »Zelta« (Ich las es auf einem Schild, das vom Himmel herab-hing) dahinfloß und ich gewissermaßen daneben, am Ufer, entlangfloß. Als Gehen konnte man meine Bewegungen schon nicht mehr bezeichnen. Ich hatte ja keine Beine mehr! Jetzt sah ich erst: Ich selbst war ein Fluß, war ein kleiner Nebenfluß zur Zelta wohl. Wann würde ich einmünden? Da, ich sah schon einen Ozean vor uns auftauchen. Würde ich es noch in die Zelta schaffen? Oder würde ich allein in den Ozean fließen müssen? Ich drängte mit Gewalt in Richtung des großen Flusses neben mir, doch das verursach-te mir nur große, nie gefühlte Schmerzen. Ich musste also einsam münden, neben dem Hauptstrom! Würde mich der Ozean denn so überhaupt auf-nehmen? Ach! Es ist ja schon aus. Ich breite mich über den Ozean und bald über die ganze Welt. Ich werde verdampfen und als Regen niedergehen. Jetzt fühle ich mich frei.
Beim Lagerfeuer
»Schau, Lenchen, jetzt wacht er auf, er hat die Augen schon ein wenig ge-öffnet.«, hörte ich die heisere Stimme des Alten. Ich war wohl tatsächlich eingeschlummert. Wo war ich denn hier überhaupt? Ich bemerkte, dass Lene meinen Kopf auf ihren Schoß gebettet hatte, denn ich sah jetzt gera-dewegs hoch in ihre Augen, die seltsam flackerten. Es knisterte auch wirk-lich wie ein Feuer und alles um mich herum rauschte, als läge ich mitten in einem wilden Gebirgsfluß. Ich erhob mich, Lene ließ mich gewähren. Da sah ich, wir saßen um ein kleines Lagerfeuer auf einer Sandbank und um uns herum flossen zwei Flüsse. Jetzt wusste ich auch schon, wo wir waren: Das war die Mündung der Leitzach in die Mangfall, nicht weit vom Kin-derspielplatz in W., wo die Schamanen hausten.
»Wie kommen wir denn hierher? Es ist ja gefährlich hier, wir sollten gleich gehen.«, sagte ich schnell und wollte schon aufstehen. Doch der Alte blick-te mich verständnislos mit großen Augen an. »Ja, wieso denn gefährlich? Sie wollten doch unbedingt hierhin. Es ist ja recht schön hier, dir gefällt es auch, nicht wahr, Lenchen?«, sagte er ruhig und streichelte Lene über die Wange. Lene nickte ganz heftig mit dem Kopf und lächelte mich aufmun-ternd mit leuchtenden Augen an. »Du musst in das Feuer schauen. Das ist doch der Sinn der Sache.«
Ich beruhigte mich langsam und senkte meinen Blick in das wirre Spiel des Feuers; dann begann ich zu erzählen: »Ich kenne die Gefahren dieser Ge-gend aus meiner Kindheit, doch jetzt ist es wohl viel besser geworden. Früher habe ich hier oft mit meiner kleinen Schwester gespielt. Es war ü-bermütig und leichtsinnig, doch wir waren neugierig, wie es unter Kindern üblich ist. Im Sommer badeten wir im angenehm kühlen Wasser der beiden Flüsse und wenn die Indianer in ihren Kanus kamen, dann versteckten wir uns eben zwischen den Bäumen am Ufer. Ja, die Indianer! Jetzt sind sie ja schon lange ausgestorben, nun ja, die Schamanen haben überlebt. Doch damals gab es noch große Horden dieser wilden, kampfeslustigen Stämme. Einige Jahre herrschte ein wahrer Krieg zwischen den Indianerkindern und uns anderen Kindern. Ich selbst habe in den vordersten Reihen gekämpft, und meine Schwester, Helene, ist im Kriege gefallen. Ein junges Indianer-mädchen kam eines Nachts ? wir führten den Krieg hauptsächlich nachts, um nicht von den Erwachsenen gestört zu werden ? und überraschte sie, als sie gerade die Gewehre für unsere Truppe lud, von hinten mit einem Pfeil, der sich tief in ihr Herz bohrte. Wie weinten wir damals! Sie hatte gerade ihren siebten Geburtstag gefeiert. Es war auch schwierig, meinen Eltern den Tod ihrer Tochter zu erklären, sie wussten ja nichts vom Krieg, ja nicht einmal von den Indianern wussten sie, oder wenigstens sie leugneten es und lachten nur darüber, wenn wir von ihnen berichteten. Dass sie niemals die großen Horden gesehen haben, die bei Tag schreiend durch die Straßen hetzten und nachts heimlich die Häuser in Brand steckten! Doch die Eltern kümmerten sich nicht darum, überhaupt schienen sie sich nur um Dinge zu kümmern, die gänzlich unwichtig waren. »Es hat eben gebrannt, das Haus, es ist ja schon gut.«, pflegten sie einsilbig als Erklärung zu sagen, zwangen sich zu einem Lächeln und vertieften sich wieder in ihre belanglose Be-schäftigung. Ähnlich war es, als ich vom Tode der Schwester berichtete.
Nun, die Indianer haben wir heute nicht mehr zu Fürchten, denn die über-lebenden Schamanen sind allesamt friedliche und sanfte Menschen.«
Dampfer
Ich hob erleichtert den Blick vom prasselnden Feuer und schaute mit einer gewissen Zufriedenheit in die Runde. Es saßen jetzt viele Menschen um das Feuer und blickten nun, wo ich mit meiner Erzählung am Ende war, allesamt nachdenklich in meine Augen, als ob sie dort etwas bestimmtes suchten. Einer von ihnen, es war ein stämmiger junger Mann in weissem, aber von Ruß geschwärztem Kittel, kam sogar zu mir hin, schob meine Lider auf und ab und leuchtete mit einer kleinen Lampe in meine Augen. Doch da er nichts zu finden schien, seufzte er schließlich tief, zuckte ratlos mit den Schultern und ging wieder auf seinen Platz zurück. »Wollen Sie noch mal versuchen?«, fragte er mit müder Stimme einen nahesitzenden bärtigen Menschen in blauer, stark beschmutzter Handwerkerskleidung. Dieser rückte jetzt zu mir und nahm einen großen Schraubendreher aus seiner Brusttasche. Er drehte sich um und sagte mit Bestimmtheit: »Ich glaube doch, dass es etwas am Getriebe ist. Reichen Sie mir einmal die Zange.« Dann nahm er die Zange und hielt damit meinen Mund offen, während er mit dem Schraubendreher in meinem Gebiss hantierte. Das riss tiefe Wunden in mein Zahnfleisch! Doch der Handwerker schien sehr zu-frieden. »Ich hab es! Ja, der Riemen war?s! Jetzt ist?s gut.«, rief er froh und wischte sich die schweissigen Hände an meinen Haaren ab, wobei er schrecklich grell in meine Ohren lachte.
»Dann kann die Fahrt ja endlich weitergehen!«, stieß der Alte hervor, der noch immer mit Lene vor dem Feuer saß und jetzt aufsprang, um mit einer großen Schaufel Kohle in dasselbe zu befördern. Es loderte gleich stark auf. Ich sah mich um und erkannte, dass wir uns wohl im Maschinenraum eines großen Dampfschiffes befanden.
Ich stand auf und fragte herrisch, wenn auch gedrückt durch die großen Schmerzen, die mir mein wundes Zahnfleisch verursachte: »Wohin geht die Fahrt?«
»Ja, wissen Sie das denn schon nicht mehr? Es war schließlich ihre Idee. »Unbedingt müssen wir ein Stückchen auf der Mangfall fahren«, sagten Sie damals. Und jetzt, ja, jetzt sind wir schon auf der Donau, sehen Sie?« - wir standen nun auf Deck, und er zeigte nach vorn in die Dunkelheit - »Da ist das Schwarze Meer. Ja, wir sind weit gekommen.«, sagte er und rieb sich zufrieden die rußigen Hände. Seine Augen glänzten. »Nun werde ich aber wieder nach unten gehen, denn man braucht mich dort mehr, als hier.«
Schamane
Mir wurde ganz schwindlig. Ich war es nicht gewohnt, auf See zu fahren. »Es ist aber sehr schön. Und du wirst sehen, man gewöhnt sich schnell daran.«, hörte ich eine Stimme neben mir. Es war Lene. Ruhig nahm sie meine Hand und blickte mir lächelnd in die Augen.
»Lene, mir ist nicht gut. Mir ist ganz und gar nicht gut.«, sagte ich mit schwindender Stimme und stützte mich mit letzter Kraft an das Geländer. »Ach Gott, du bist ja ganz blass, komm, ich bringe dich in deine Kajüte, dort legst du dich erst mal in dein Bett und ich mache dir einen Tee.« Das brave Mädchen trug mich in die Kajüte und legte mich in mein Bett. Ich war ja sehr schwach und konnte kaum mehr ein Glied rühren. Da lag ich nun, zusammengekauert, unfähig mich zu bewegen und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Lene war gegangen, um mir einen Tee zu be-reiten.
Nach einiger Zeit ? ich wusste nicht ob es eine Stunde oder eine Woche war ? öffnete sich schließlich die Türe zu meiner Kajüte und ein großer, indianerhafter Mensch betrat den Raum. »Hier ist die Kräuterzubereitung. Trinken Sie langsam. Es wird ihnen helfen. Der alte Herr und das Mädchen warten übrigens vor dem Zelt auf Sie. Sie sind sehr besorgt. Doch es wird Ihnen bald wieder gut gehen. Sie vertragen wohl die Luft hier im Tal nicht, doch man gewöhnt sich schnell daran, Sie werden sehen. Dennoch verord-ne ich ihnen einstweilig das Verlassen des Tals.«
Der Greis
Wie diese Musik stampfte und krachte! Auf so einem Fest war ich doch schon lange nicht mehr gewesen! Ich, Karl B., Großaktionär und Abteilungsleiter bei einer führenden Firma der Kommunikationsbranche, auf einem Volksfest in F., meinem Heimatdorf! Ach! Und jetzt saß ich auch schon in einem dieser engen Autoscooter.
»Eigentlich sollte ich mich frei fühlen.«, sagte ich mir, »Kollegen und Bekannte - mit Ausnahme der alten Kindheitsfreunde freilich - sind hier nicht zu erwarten; der Sitz meiner Firma ist in A., das ist viele hundert Kilometer von F. entfernt. Ich muss kein schlechtes Gewissen haben.« Und schon ließ ich mich, wild gemacht von der tosenden Musik, ausgelassen über die Bahn gleiten.
»Ach, Gott!«, seufzte da mein Beifahrer, »Sie sind wohl vom Land, wie?« Als ich nichts antwortete, legte er seine faltige, papierartige Hand auf meine Schulter und redete mit heiserer Stimme in mein Ohr: »Wenn man aus der Stadt kommt - und ich bin ein ausgesprochener Städter, wissen Sie, die Schwester meiner Frau hat uns, das heisst, nur mich, denn meine Frau ist längst gestorben, hierhin eingeladen - so verträgt man diesen Lärm nicht sehr gut - ein Städter, der aufs Land fährt, erwartet nämlich dort nichts als Ruhe; er weiß: auf dem Land wird er eine Weile vor dem Lärm der Stadt Zuflucht finden und er freut sich, denn das ist gut für ihn. Wird er nun aber mit solch einem Krach begrüßt, so wird ihm ganz schlecht. Sie verstehen das? Gut. Wollen wir nicht lieber einen Spaziergang machen? Die Nacht ist ja still und klar.«
Warum aber sollte ausgerechnet ich, ein junger, ernstzunehmender Mann, diesen alten kecken Greis - er hatte sich zuvor neben mich in das Autoscooter gedrängt und hielt nun beständig seinen altmodischen Hut, unter dem seine spärlichen weißen Haare zu beiden Seiten lose hinausflatterten, während ich meine wilden Bahnen drehte - warum sollte ausgerechnet ich diesen alten Herrn zu einem Spaziergang begleiten?
»Sie fragen sich wohl, aus welchem Grunde Sie mit mir gehen sollten?«, sagte und zwinkerte dabei schelmisch.
»Ich weiß wirklich nicht, was sie von mir wollen. Gehen sie doch bitteschön allein spazieren. Dort drüben steht ein Mädchen und wartet auf mich. Ich werde gleich zu ihr hingehen.«
Ich stellte den Wagen am Rand ab, stieg schnell aus und ging mit forschen Schritten dem Mädchen entgegen. Doch der Alte war schon da. Er war mir zuvorgekommen und das Mädchen streichelte nun seine wohl kalte, zerknitterte Hand.
Es stellte sich heraus, dass das Mädchen Lene hieß und seine Enkeltochter war. Ich sah den beiden eine Weile traurig zu und aß ein bisschen von meiner Zuckerwatte, dann wurde mir übel und ich ging.
»Halt, halt, hiergeblieben! Ja, wo wollen Sie denn hin? Ins Bierzelt? Schön, wir gehen mit. Aber danach werden wir spazieren gehen, das ist sicher.«
Bierzelt
Im Zelt saßen wir schließlich zu dritt, eng aneinandergedrängt, an einer leeren Bank. Ja, wir waren ganz allein in diesem großen, beinahe endlosen Zelt! Nur eine Bedienung schlürfte weit in der Ferne zwischen den Bänken auf und ab, es war, soviel man erkennen konnte, ein nach altmodischer Dienerart mit einem Frack gekleideter kleiner Herr mit kahlem Schädel.
»Ich will jetzt gehen.«, sagte ich, doch Lene fasste mich schnell am Handgelenk und drückte so fest zu, dass es schmerzte. Der Alte lachte überlaut und sagte, nachdem er sich beruhigt hatte: »Lenchen wird Sie nicht gehen lassen, sie hat Sie sehr gern, müssen Sie wissen. Übrigens werden wir natürlich bald gehen, warten Sie nur noch die Vorführung ab.« Und er blickte erwartungsvoll auf die leerstehende Bühne, auf die jetzt aus einer Hintertür eine dicke, von Schweiß triefende Putzfrau trat, sich unsicher ein wenig im Zelt umsah und dann aus einer Ecke einen Wischer holte, mit dem sie sorgfältig den ganzen Boden der Bühne zu säubern begann. Dann legte sie sich mitten auf der Bühne nieder und schlief wohl ein. Bald kam ein Mann, lang und dürr, aus einer anderen, stark knarzenden Hintertüre, sah die Frau am Boden liegen, schlug die Hände am Kopf zusammen, stolperte mit seinen stelzenhaften Beinen und schrie vor Schmerz laut auf. Dann warf er sich wie ein wildgewordenes Tier über den dicken Putzfrauenkörper und schluchzte.
»Was sind das für Geschichten! Lassen Sie mich von hier fortgehen!«, rief ich und wollte mich von Lenes Griff befreien, was mir nicht gelang.
»Hab doch Geduld. Niemand geht mitten unter der Vorführung. Wo Du jetzt schon einmal hier bist, musst Du auch bleiben.«, sagte Lene streng. Der Alte nickte zustimmend und legte den Zeigefinger an die Lippen um zu bedeuten, dass ich ruhig sein solle.
Plötzlich wurde alles dunkel, nur zwei Bühnenscheinwerfer strahlten in weiter Ferne ungebrochen ihr kaltes Licht auf die Putzfrau und den darüberliegenden, seufzenden Mann. Wieder knarzte - diesmal sehr leise - eine Türe - es war eine Falltüre im Boden - und man sah die Sillhouette eines großen, bärenhaften Menschen auf die Bühne steigen.
Mord
Da zückt er schon das Messer - man sieht es blitzen -, springt auf den Schluchzenden zu und und stößt es dem Ahnungslosen mit Wucht in den Nacken, wo es stecken bleibt. Man hört ein Röcheln. Gleich springt die Putzfrau unter dem sich windenden Körper auf - eine Gelenkigkeit, die man ihr nicht zugetraut hätte - und umarmt leidenschaftlich den prächtigen Mörder.
Nun steigen beide von der Bühne und scheinen auf uns zuzugehen.
Egon
Sogleich bekam ich Panik, doch der Alte flüsterte mir ins Ohr: »Es kann Jahre dauern, bis sie zu uns gelangen, das Zelt ist groß. Sehen Sie die Bedienung?« Er zeigte auf den alten Herrn in Frack, der noch immer zwischen den Bänken streunte. »Ja, die Bedienung, die Sie dort sehen, das ist der kleine Egon. Tatsächlich ist er recht groß, doch man kennt ihn ja nur aus der Ferne und so nennen ihn viele Leute klein. Eine Gruppe von Zeltgästen ist sogar der Meinung, man könne ihn, aufgrund der großen Entfernung, immer nur in seiner Vergangenheit, als kleines Kind, sehen. Sie wissen doch: wenn man mit großen Teleskopen ins Weltall schaut, so kann man Sternexplosionen sehen, die vor mehreren Millionen Jahren stattgefunden haben. Ähnlich sei es beim Egon, sagen diese Leute. Die Luft hier im Zelt sei sehr heiss und verhalte sich dadurch - im gewissen Sinne - wie ein Teleskop - sonst würde man den kleinen Egon gewiß gar nicht sehen können, er sei ja soweit entfernt und so winzig, behaupten sie. Das Licht komme nur langsam voran in dieser stickigen Zeltatmosphäre, und so sähen wir ihn in seiner Vergangenheit. Wir sähen ihn um die Bänke schleichen, doch eigentlich habe er sich schon vor vierzig oder fünfzig Jahren um diese Bänke geschlichen. Jetzt sei er vielleicht längst tot. Nun, ich glaube nicht an diese Theorie, denn man sieht doch - sie werden mir zustimmen - dass er ein alter Herr mit Glatze ist und nicht ein junger Bursche. Er war übrigens ein Freund meiner Schwagerin. Gleich nachdem er aus der Schule kam, hat er begonnen, im Zelt zu bedienen. Damals war er wirklich noch ein Kind. Nun ist er älter als ich und sie könnten die Furchen in seinem Gesicht sehen, wenn er nur nicht so weit weg wäre. Aber er ist nie über die ersten Bankreihen hinausgekommen. Und ist er doch einmal recht weit gekommen, so wird er von ganz vorn, direkt vor der Bühne, wieder gerufen und muss dorthin eilen. Freilich vergehen Jahre, bis er sich schließlich wieder ein Stückchen nach hinten gearbeitet hat. Dann aber hat sich schon wieder ein hungriger oder durstiger Herr oder eine ungeduldig kreischende Dame vorn eingefunden, und er muss wieder schweren Herzens umkehren. Was ihn aber nach hinten treibt, das weiß er natürlich selbst nicht recht. Oft hört er Geschichten über das Ende des Zelts, doch nichts davon ist eigentlich wahr, denn niemand hat das Zelt jemals gänzlich durchquert und kann somit einem vom vorderen Zeltbereich aus eigener Erfahrung etwas über den hinteren Bereich erzählen oder umgekehrt. Bisweilen gibt es zwar Menschen, die sich in der Mitte treffen, der eine kam von hinten, der andere von vorn. Doch sie können sich nicht recht verständigen, auch sind sie müde und wollen nicht reden. Trotzdem sagt ein altes Sprichwort, dass im Allgemeinen der hintere Bereich des Zeltes - nach dem Gesetzt der Symetrie - identisch mit dem vorderen sein muss.«
Ich blickte mich um, sah aber nicht viel, denn es war sehr dunkel.
»Wir gehen ja schon. Es ist jetzt ganz finster hier. Sehen sie den Lichtpunkt dort? Ja? Das ist der Ausgang.«
2. Spaziergänge
Zeltbach
Gleich waren wir draussen. Ich drehte mich noch einmal um. Das Zelt war sehr viel kleiner, als es von innen gewirkt hatte und der Alte machte gerade mit seiner Enkelin an der Hand einige wilde Sprünge darüber, als wäre es kein Bierzelt, sondern ein kleines Lagerfeuer, über das man wohl zu so später Stunde, vom Alkohol toll, springen mag. Es flackerte auch ein we-nig. Oder waren das die Augen des Mädchens?
Nun, ich sah dies als gute Gelegenheit, mich von den beiden heimlich da-vonzustehlen. Ich bog auf einen Feldweg ein, der direkt hinter dem Zelt begann und an einem rauschenden Bächlein entlangführte. Ich blickte um und bemerkte, dass das Bächlein aus einem Rohr, das aus der Zeltwand kam, sprudelte. Da sah ich auch schon ein Schild am Wegesrand: »Zelt-bach; bitte nicht queren.« Bald kam ich über eine Holzbrücke, unter der ein weiterer kleiner Bach floß und da in den Zeltbach mündete. Auf dem Schild an der Brücke stand: »Rainbach; bitte nicht verunreinigen.«
Ich stützte mich eine Weile ? meine Beine waren sehr schwach - an das Geländer und ließ mich von der kühlen Luft der Nacht durchwehen. »Die Leute wissen gar nicht, dass die eigentliche Reise erst hinter dem Zelt be-ginnt.«, sagte ich nachdenklich und blickte kopfschüttelnd in das fließende Wasser. Dann ging ich weiter.
Ich kam jetzt in eine gebirgige Gegend, ich konnte mich gar nicht erinnern, dass es hier jemals so bergig war. Ich hielt mich dicht ans Ufer des Zelt-bachs, der schon ein reissender Gebirgsfluss war, denn alle Meter münde-ten neue Quellbäche von den Hängen ein. Einmal sah ich, hoch über mir, eine Familie mit zwei Kindern ? das Mädchen erinnerte mich an meine früh verstorbene Schwester ? zu mir herabwinken. Ich winkte scheu zu-rück. Die Eltern riefen etwas, was wie eine Warnung klang. Sie blickten traurig zu Boden und die Kleider der Kinder flatterten im Winde, als ich langsam aus ihrem Blickfeld verschwand.
Bald kam ich in ein Tal, wo der Zeltbach schließlich als breiter Strom mit dem Namen »Zelta« (Ich las es auf einem Schild, das vom Himmel herab-hing) dahinfloß und ich gewissermaßen daneben, am Ufer, entlangfloß. Als Gehen konnte man meine Bewegungen schon nicht mehr bezeichnen. Ich hatte ja keine Beine mehr! Jetzt sah ich erst: Ich selbst war ein Fluß, war ein kleiner Nebenfluß zur Zelta wohl. Wann würde ich einmünden? Da, ich sah schon einen Ozean vor uns auftauchen. Würde ich es noch in die Zelta schaffen? Oder würde ich allein in den Ozean fließen müssen? Ich drängte mit Gewalt in Richtung des großen Flusses neben mir, doch das verursach-te mir nur große, nie gefühlte Schmerzen. Ich musste also einsam münden, neben dem Hauptstrom! Würde mich der Ozean denn so überhaupt auf-nehmen? Ach! Es ist ja schon aus. Ich breite mich über den Ozean und bald über die ganze Welt. Ich werde verdampfen und als Regen niedergehen. Jetzt fühle ich mich frei.
Beim Lagerfeuer
»Schau, Lenchen, jetzt wacht er auf, er hat die Augen schon ein wenig ge-öffnet.«, hörte ich die heisere Stimme des Alten. Ich war wohl tatsächlich eingeschlummert. Wo war ich denn hier überhaupt? Ich bemerkte, dass Lene meinen Kopf auf ihren Schoß gebettet hatte, denn ich sah jetzt gera-dewegs hoch in ihre Augen, die seltsam flackerten. Es knisterte auch wirk-lich wie ein Feuer und alles um mich herum rauschte, als läge ich mitten in einem wilden Gebirgsfluß. Ich erhob mich, Lene ließ mich gewähren. Da sah ich, wir saßen um ein kleines Lagerfeuer auf einer Sandbank und um uns herum flossen zwei Flüsse. Jetzt wusste ich auch schon, wo wir waren: Das war die Mündung der Leitzach in die Mangfall, nicht weit vom Kin-derspielplatz in W., wo die Schamanen hausten.
»Wie kommen wir denn hierher? Es ist ja gefährlich hier, wir sollten gleich gehen.«, sagte ich schnell und wollte schon aufstehen. Doch der Alte blick-te mich verständnislos mit großen Augen an. »Ja, wieso denn gefährlich? Sie wollten doch unbedingt hierhin. Es ist ja recht schön hier, dir gefällt es auch, nicht wahr, Lenchen?«, sagte er ruhig und streichelte Lene über die Wange. Lene nickte ganz heftig mit dem Kopf und lächelte mich aufmun-ternd mit leuchtenden Augen an. »Du musst in das Feuer schauen. Das ist doch der Sinn der Sache.«
Ich beruhigte mich langsam und senkte meinen Blick in das wirre Spiel des Feuers; dann begann ich zu erzählen: »Ich kenne die Gefahren dieser Ge-gend aus meiner Kindheit, doch jetzt ist es wohl viel besser geworden. Früher habe ich hier oft mit meiner kleinen Schwester gespielt. Es war ü-bermütig und leichtsinnig, doch wir waren neugierig, wie es unter Kindern üblich ist. Im Sommer badeten wir im angenehm kühlen Wasser der beiden Flüsse und wenn die Indianer in ihren Kanus kamen, dann versteckten wir uns eben zwischen den Bäumen am Ufer. Ja, die Indianer! Jetzt sind sie ja schon lange ausgestorben, nun ja, die Schamanen haben überlebt. Doch damals gab es noch große Horden dieser wilden, kampfeslustigen Stämme. Einige Jahre herrschte ein wahrer Krieg zwischen den Indianerkindern und uns anderen Kindern. Ich selbst habe in den vordersten Reihen gekämpft, und meine Schwester, Helene, ist im Kriege gefallen. Ein junges Indianer-mädchen kam eines Nachts ? wir führten den Krieg hauptsächlich nachts, um nicht von den Erwachsenen gestört zu werden ? und überraschte sie, als sie gerade die Gewehre für unsere Truppe lud, von hinten mit einem Pfeil, der sich tief in ihr Herz bohrte. Wie weinten wir damals! Sie hatte gerade ihren siebten Geburtstag gefeiert. Es war auch schwierig, meinen Eltern den Tod ihrer Tochter zu erklären, sie wussten ja nichts vom Krieg, ja nicht einmal von den Indianern wussten sie, oder wenigstens sie leugneten es und lachten nur darüber, wenn wir von ihnen berichteten. Dass sie niemals die großen Horden gesehen haben, die bei Tag schreiend durch die Straßen hetzten und nachts heimlich die Häuser in Brand steckten! Doch die Eltern kümmerten sich nicht darum, überhaupt schienen sie sich nur um Dinge zu kümmern, die gänzlich unwichtig waren. »Es hat eben gebrannt, das Haus, es ist ja schon gut.«, pflegten sie einsilbig als Erklärung zu sagen, zwangen sich zu einem Lächeln und vertieften sich wieder in ihre belanglose Be-schäftigung. Ähnlich war es, als ich vom Tode der Schwester berichtete.
Nun, die Indianer haben wir heute nicht mehr zu Fürchten, denn die über-lebenden Schamanen sind allesamt friedliche und sanfte Menschen.«
Dampfer
Ich hob erleichtert den Blick vom prasselnden Feuer und schaute mit einer gewissen Zufriedenheit in die Runde. Es saßen jetzt viele Menschen um das Feuer und blickten nun, wo ich mit meiner Erzählung am Ende war, allesamt nachdenklich in meine Augen, als ob sie dort etwas bestimmtes suchten. Einer von ihnen, es war ein stämmiger junger Mann in weissem, aber von Ruß geschwärztem Kittel, kam sogar zu mir hin, schob meine Lider auf und ab und leuchtete mit einer kleinen Lampe in meine Augen. Doch da er nichts zu finden schien, seufzte er schließlich tief, zuckte ratlos mit den Schultern und ging wieder auf seinen Platz zurück. »Wollen Sie noch mal versuchen?«, fragte er mit müder Stimme einen nahesitzenden bärtigen Menschen in blauer, stark beschmutzter Handwerkerskleidung. Dieser rückte jetzt zu mir und nahm einen großen Schraubendreher aus seiner Brusttasche. Er drehte sich um und sagte mit Bestimmtheit: »Ich glaube doch, dass es etwas am Getriebe ist. Reichen Sie mir einmal die Zange.« Dann nahm er die Zange und hielt damit meinen Mund offen, während er mit dem Schraubendreher in meinem Gebiss hantierte. Das riss tiefe Wunden in mein Zahnfleisch! Doch der Handwerker schien sehr zu-frieden. »Ich hab es! Ja, der Riemen war?s! Jetzt ist?s gut.«, rief er froh und wischte sich die schweissigen Hände an meinen Haaren ab, wobei er schrecklich grell in meine Ohren lachte.
»Dann kann die Fahrt ja endlich weitergehen!«, stieß der Alte hervor, der noch immer mit Lene vor dem Feuer saß und jetzt aufsprang, um mit einer großen Schaufel Kohle in dasselbe zu befördern. Es loderte gleich stark auf. Ich sah mich um und erkannte, dass wir uns wohl im Maschinenraum eines großen Dampfschiffes befanden.
Ich stand auf und fragte herrisch, wenn auch gedrückt durch die großen Schmerzen, die mir mein wundes Zahnfleisch verursachte: »Wohin geht die Fahrt?«
»Ja, wissen Sie das denn schon nicht mehr? Es war schließlich ihre Idee. »Unbedingt müssen wir ein Stückchen auf der Mangfall fahren«, sagten Sie damals. Und jetzt, ja, jetzt sind wir schon auf der Donau, sehen Sie?« - wir standen nun auf Deck, und er zeigte nach vorn in die Dunkelheit - »Da ist das Schwarze Meer. Ja, wir sind weit gekommen.«, sagte er und rieb sich zufrieden die rußigen Hände. Seine Augen glänzten. »Nun werde ich aber wieder nach unten gehen, denn man braucht mich dort mehr, als hier.«
Schamane
Mir wurde ganz schwindlig. Ich war es nicht gewohnt, auf See zu fahren. »Es ist aber sehr schön. Und du wirst sehen, man gewöhnt sich schnell daran.«, hörte ich eine Stimme neben mir. Es war Lene. Ruhig nahm sie meine Hand und blickte mir lächelnd in die Augen.
»Lene, mir ist nicht gut. Mir ist ganz und gar nicht gut.«, sagte ich mit schwindender Stimme und stützte mich mit letzter Kraft an das Geländer. »Ach Gott, du bist ja ganz blass, komm, ich bringe dich in deine Kajüte, dort legst du dich erst mal in dein Bett und ich mache dir einen Tee.« Das brave Mädchen trug mich in die Kajüte und legte mich in mein Bett. Ich war ja sehr schwach und konnte kaum mehr ein Glied rühren. Da lag ich nun, zusammengekauert, unfähig mich zu bewegen und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Lene war gegangen, um mir einen Tee zu be-reiten.
Nach einiger Zeit ? ich wusste nicht ob es eine Stunde oder eine Woche war ? öffnete sich schließlich die Türe zu meiner Kajüte und ein großer, indianerhafter Mensch betrat den Raum. »Hier ist die Kräuterzubereitung. Trinken Sie langsam. Es wird ihnen helfen. Der alte Herr und das Mädchen warten übrigens vor dem Zelt auf Sie. Sie sind sehr besorgt. Doch es wird Ihnen bald wieder gut gehen. Sie vertragen wohl die Luft hier im Tal nicht, doch man gewöhnt sich schnell daran, Sie werden sehen. Dennoch verord-ne ich ihnen einstweilig das Verlassen des Tals.«