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Flucht

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Jean Baptiste saß in seinem Käfig wie ein zur Schau gestelltes Tier. Doch es war tiefste Nacht und niemand war zugegen, um ihn anzustarren, zu beschimpfen oder gar mit allerlei Unrat zu bewerfen. Nur das schwache Licht der Laternen seiner Bewacher und der Sterne über seinem Kopf erleuchteten seine Umgebung ein wenig. Aus Angst vor dem herannahenden Tag kniete er im dreckigen Stroh und betete inständig. Mit geschlossenen Augen kauerte er so in seinem Gefängnis und niemand beachtete ihn. Jean Baptiste betete um sein Leben. Er flehte Gott an, wenn er ihm schon den Tod nicht ersparen wollte, so solle er ihn wenigstens nicht mehr leiden lassen. Jean Baptiste, der Kaufmannsgeselle aus Toulouse war gewiss kein Ketzer, doch war er von der Inquisition als solcher angeklagt worden, was die Frage nach der Schuld gewissermaßen überflüssig machte. Er war nur nach Spanien gereist, um dort ein Pferd für seinen Herrn zu erwerben, doch nun war er dem Tod auf dem Scheiterhaufen geweiht, ohne zu wissen, was sein Vergehen sei. Zu Hause schien man von seinem Schicksal nichts zu wissen oder man schwieg aus Scham oder Furcht. Hier war er allein, in einem fremden Land, der blutrünstigen Willkür der Inquisition ausgeliefert. Er beteuerte seine Unschuld vor Gott und bat ihn um Gnade. In Seiner reichen Güte müsse doch Platz für einen einfachen, aber frommen Christen sein. Waren die wahren Teufel nicht auf der anderen Seite der Stäbe, die ihn prügelten und bespuckten, als wäre er nichts Besseres als ein Straßenköter. Wie konnte nur ein so großes Unglück über einen Unbescholtenen hereinbrechen?
Wie er so betete, spürte er plötzlich einen kühlen Luftzug. Er öffnete die Augen, hielt im Beten inne und schaute sich um. Nichts war zu sehen. Doch als er aufsah, flog ein Schatten hoch über seinen Käfig hinweg, so riesig, dass er die Sterne kurz verdunkelte und Jean Baptiste in vollkommener Schwärze das Herz noch schneller als zuvor schlug. Ebenso schnell, wie er erschienen war, war der gewaltige Schatten auch schon wieder entschwunden und lautlos in die Nacht entglitten. Die Wächter schienen nichts von dem Schauspiel bemerkt zu haben oder hatten ihn wohl nur seine Augen getäuscht? Nein, er hatte es, was immer es auch gewesen war, deutlich gesehen. Er wartete noch eine Weile, aber nichts geschah. Also bewegte er sich zurück in seine ursprüngliche Position, um weiter bis zum Morgen zu beten. Er faltete die Hände, bis die Knöchel weiß hervortraten und schloss die Augen. Doch kein einziges Wort kam über seine Lippen. Er sagte seine Gebete lauter, doch noch immer hörte er sich selbst nicht. Er schrie sie heraus, doch ohne einen Laut. Er versuchte, sich an seine Gebete zu erinnern, aber er konnte es nicht. All die Worte, die er von klein auf gelernt hatte, waren wie ausgelöscht, als hätte er sie nie gekannt. In seiner Verzweiflung begann er zu weinen und brüllte eine Verwünschung in die Nacht, die sehr wohl zu hören war. Die Wachen kamen zu seinem Käfig herüber und schlugen mit Knüppeln solange auf ihn ein, bis er das Bewusstsein verlor und sein Blut das Stroh tränkte.

Als die Wächter am nächsten Morgen kamen, um ihn zum Scheiterhaufen zu führen, war der Käfig leer. Schloss und Riegel waren unversehrt und keiner der nächtlichen Wächter hatte etwas bemerkt. Sofort wurde die ganze Stadt durchsucht, doch Jean Baptiste blieb verschwunden.
Als Jean Baptiste endlich aus seiner Ohnmacht erwachte, war ihm kalt und ein scharfer Wind blies ihm ins Gesicht. Er schaute hinab und bemerkte mit Entsetzten, dass er hoch über der Stadt flog. Die Hausdächer rasten unter ihm vorbei. Er wollte schreien, aber der Laut verebbte in seiner Kehle. Er schlug wild um sich, worauf ein Ring um seine Brust, den er zuvor nicht bemerkt hatte, sich enger zog und ihn fast zerquetschte. Er sah in die Höhe und erblickte einen riesigen Adler, der ihn in seinen Klauen hielt. Verzweifelt strampelte er, doch der riesige Vogel war schon nahe der Küste und flog weiter zum Meer hinaus. Jean Baptiste schlug seine Krallen in das Gefieder und fand seine Hände und Arme in die Gliedmaßen einer Eidechse verwandelt. Er betrachtete sich mit Furcht von der Brust abwärts und fand auch den Reste seines Körpers in der Gestalt einer Eidechse. Sogar ein langer, dünner Schwanz flatterte ihm Wind.
Oh, Gott, das kann nicht wahr sein! Ich träume und wenn ich erwache, schleifen sie mich zum Scheiterhaufen, dachte er.
Doch er wachte nicht auf. Stattdessen befühlte er seinen Schädel, der auch dem einer Echse entsprach. Aus seiner Panik wuchs Zorn und er schlug dem Adler auf die Brust und brüllte: „Lass mich sofort herunter! Lass mich gehen, du Untier!“
Der mächtige weiß gefiederte Kopf wandte sich zu ihm herunter und die bohrenden Blicke musterten ihn prüfend.
„Gut“, sagte der Adler, „dann geh!“
Und er entließ Jean Baptiste aus der stählernen Umklammerung seiner Krallen und setzte seinen Flug unbeirrt fort.
Jean Baptiste aber raste mit der Schnelligkeit einer Kugel in die Tiefe, hilflos mit den Beinen rudernd, bis er an den Felsen der Küste aufschlug und zerschellte.

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Daydreaming

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