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Fahrt nach Worpswede

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Hinfahrt
Harvey, unser großer grau-weißer Hase mit den unsichtbaren Gaben, war dabei: auf der Fahrt nach Worpswede. Wie wir bald merkten, hatte er seine Pfoten überall drin. Als immer mehr LKWs die Autobahn Richtung Bremen verstopften, und wir nicht vorankamen (unser neues Auto noch nicht eingefahren), ließ Harvey ein Polizei-Männchen vortreten mit einer Kelle, aus der es blitzte und blinkte: Vorher schon groß das Schild "LKW-Kontrolle". Und so bog ein Brummi nach dem anderen rechts ein auf den großen Parkplatz - und wir hatten mit Harvey freie Fahrt.

Mein Gehirn: fährt mit
Und alles, was ich über Worpswede und Paula Modersohn-Becker im Computer gespeichert habe. Es geht um das Einzelschicksal. Nähme man Worpswede diesen "Stein" aus der Krone, - was bliebe? Paula als Diamant, so sah es ihr Vater. Du warst zu hart für Worpswede, sagte er ihr, sie haben dort nur eine Seite von Dir geschliffen.

Unterwegs zu Paula
Das heißt: sich von 'allen' zu entfernen. Wenn dich keiner versteht, weil du ihnen bizarr und verschroben vorkommst, - dann bist du richtig. Dann bist du in Richtung Paula unterwegs. Deshalb auch in diesem Bericht: immer wieder das Thema «Paula». Ich zitiere hierzu:

Schlüsselsätze
"Die hohe Intensität eines edlen und ernsthaften Menschen sendet Kräfte aus, die vielfältig weiterwachsen". [ Clara Rilke-Westhoff über Paula ] Mit wem empfangen und tauschen wir Kräfte? Es heißt: du kannst nur dein wahres Selbst mit anderen teilen. - Einer der Schlüsselsätze Paulas ist dieser: «Man muß eben den ganzen Menschen der einen, ureinzigen Sache widmen.» Hierzu setzte Christa Murken-Altrogge das Zitat: Wenn man versteht und fühlt, daß man schon in diesem Leben an das Grenzenlose angeschlossen ist, ändern sich Wünsche und Einstellung. Letzten Endes gilt man nur wegen des Wesentlichen, und wenn man das nicht hat, ist das Leben vertan. [ C.G. Jung, Erinnerungen ]

Richtung Bremen:
Da gleiten die Gedanken voraus. Bremen: Diese Stadt ist mir fremd. Hängt in Bremen alles zusammen? Die Söhne der reichen Handelsherren warfen sich auf die Kunst. Auch Bulthaupt wieselte dort herum. Seine Dramaturgie des Schauspiels" war ein Bestseller. Sein studiertes Feld - Jura - hatte Bulthaupt nur zwei Jahre beackert. Dann warf sich der Rechtsanwalt auf Kunst, Geist und Buch. Bulthaupt war Junggeselle. Seine Beschützerin: Frau von Holstein, die ihm später ihr kleines Berggut bei Oberstdorf überschrieb. Dort entfaltete Bulthaupt im Sommer eine höchst generöse Gastlichkeit.

Bremer Kultur-Humus
Auch Paula Beckers Mutter war auf Bulthaupts Berggut wochenlang zu Gast. Als Bulthaupts Charakterzüge nennt sein Biograph "Weichheit, Weltfremdheit, Liebebedürftigkeit". Bremen machte ihn zum Stadtbibliothekar. Bulthaupt als Kulturhumus: Immer auf Wirkung und Erfolg bedacht, aber auch Neuland betretend. So ließ man ihn auf seinen Wunsch nach seinem Tod in Hamburg verbrennen, weil Bremen im Jahre 1905 noch kein eigenes Krematorium hatte. Liebhaberaufführungen. Rilke führte in Bremen einmal Regie! In dieser Welt von Handel, schönen Hausgärten, Ehrbarkeit und dröger bis bizarrer Geistigkeit lebte Paula Becker.

Wer war Paula?
Es gab eine "Bremer Mafia", die Paula nicht hochkommen ließ. Und auch: Worpswede, - paßte sie hinein? Paula war nicht zahm. Von Worpswede sagte sie: "Ich glaube, ich werde mich von hier fortentwickeln". Paula die Rebellin, die Furchtlose, die Unbequeme, die Nicht-Angepaßte. Wer hat heute Geduld für Paula, die nicht einmal für die Frauenbewegung etwas am Hut hatte? Paula an Clara: "Die Frauenemanzipation ist doch in diesem Rottenauftreten sehr unschön und unerfreulich." Paula Becker wäre auch heute keine Frau, die den Medien schmeichelt. Ihre Kritiker und Biographen oder auch ich würden ihre Zurückweisung zu spüren bekommen.

Weltweite Wirkung Paulas
Hierzu ein Wort Paul Valerys: "Der Wert eines Werks stellt sich heraus, wenn es aus Gründen zu leuchten und zu wirken beginnt, die sein Autor gar nicht beabsichtigt hat." Und Jaspers: "Geistige Werke existieren zunächst an sich, sind, ohne daß ihre Genese betrachtet wird, in reiner qualitativer Anschauung zugänglich, verstehbar, wertbar. Diese Einstellung fragt nicht nach Wirklichkeiten und Zusammenhängen, sondern nach lebendiger Bedeutung für den gegenwärtig auffassenden und assimilierenden Menschen. Dabei braucht nicht einmal die Intention des Schaffenden maßgebend zu sein, vielmehr macht man die Erfahrung, daß Kunstwerke für Spätere in ganz anderer Hinsicht wirksam und wertvoll sein können, als in welcher sie vom Schaffenden gemeint waren. Sie wirken dann gleichsam wie Naturprodukte." Soweit Jaspers.

Paula: Ein Natur-Ereignis
Zur ersten Monographie [von Pauli,1919] über Paula Becker-Modersohn schrieb der Maler Carl Emil Uphoff: "Künstlermenschen von der Art einer Paula Modersohn sind wie Naturereignisse, vor denen jede Wissenschaftlichkeit auch dann noch versagt, wenn sie schon vorübergebraust sind!"

Wozu Künstler?
Rilke stellte seiner Rodin-Arbeit Emersons Wort als Motto voran: «The hero is he ho is immovably centred.» Das übersetze ich mit: Der Held ist einer, der unwandelbar auf einen Punkt gebündelt ist. - Rodin meint, die Welt wäre glücklicher, wenn alle Menschen das Beispiel der Künstler befolgten oder besser, wenn sie sich selbst in Künstler verwandelten. Rodin weiß, daß nur einzelne die Fackel weitertragen. Er sagte: "Und es gibt Unschuldige. Sie sind die Fahnenträger des Alls und die sie bewundernden Jahrhunderte bilden sich nach ihnen; sie sind unser Ruhm."

Meine Paula-Studie
Ich, W.F., bin entschlossen, meine Arbeit über Paula fortzusetzen. Viel Material steht schon gespeichert im Computer. Eine Lust, eine Künstlerin zu begleiten, die so extrem war und alles Konventionelle von sich stieß. Paula Modersohn-Becker war ein Nerven-Mensch. Sie war ungeduldig, kritisch und hatte eine scharfe Zunge. Wenn es nicht nach ihrer Mütze ging, konnte sie "vereisen". Und die Bremer? Waren so grauenhaft, wie ich sie heute noch vermute. Die Konventionellen kochen heute auf ihr ihre Suppe. Das will ich ihnen versalzen! Aber hier unser Bericht. Geschi und ich auf der Fahrt nach Worpswede:

Künstlerdorf Fischerhude
In Stuckenbostel biegen wir von der Autobahn ab nach Fischerhude. Ein verträumter Ort. Wir ziehen die unbewegte Luft und die stehen gebliebene Zeit ein wie eine berauschende Rosen- und Blattgoldstimmung oder wie den trägen Reiz rüschenbehoster Damen, die für Fotografen müdes Kniefleisch der Jahrhundertwende zeigen.

Otto-Modersohn-Haus
Fischerhude. Zwei alte Gasthöfe. Alte Linden. Ein moderner Supermarkt. Auf der Straße zum Modersohn-Haus hält uns die Müllabfuhr auf. Sperrmüll liegt draußen und wir haben Zeit, alles zu begucken und in Vorgärten und zu den Häusern zu blicken. Dann im Otto-Modersohn-Museum erzähle ich von meinem Paulabuch. Wie ich höre, sind die Tagebücher Modersohns noch nicht ausgewertet. Man ist dabei. Vieles würde sich noch zurechtrücken: Wie Otto Modersohn "wirklich" zu sehen sei.

Unzufriedene Modersohns
Ihnen gefällt das Bild nicht, das man von Otto Modersohn zeichnet. Ich erzähle von Pauli, erst Kunsthallen-Direktor in Bremen, später in Hamburg. Der 1919 die erste Monographi Paulas herausgab, aber ohne vorher mit Otto Modersohn gesprochen und sein Material über Paula eingesehen zu haben! Paulis Buch enthielt schlimme Angriffe gegen Otto Modersohn und plumpe Verzerrungen des Paula-Bildes. Pauli war später auch Direktor der Kunsthalle in Hamburg. Die Offiziellen, ein Problem. Heute ist Werner Hofmann Direktor in Hamburg: ein Mann mit "Durchblick", wie ich finde, wenn ich seinen Aufsatz in der «ZEIT» lese: Vom "verlängerten Blick des Künstlers".

Günter Busch, vormals Direktor Kunsthalle Bremen
Als Kunsthistoriker schildert und deutet er bis hin ins Kühne Paulas Bilder. Was er als Herausgeber der Briefe und Tagebücher tat, ist weniger gelungen. Zu Paulas "Schreibe" komme ich als Literat zu ganz anderen Ergebnissen als er.


Wo 1 Nacht schlafen: in Worpswede?
In Fischerhude sagt man mir: Paulas Enkelin ist oben, Sie können sie sprechen, wollen sie? Ich sagte: heute nicht, und wir fuhren weiter nach Worpswede. Ingrid Kuchenbuch, die einmal per Rad dort war, hatte mir das Hotel Am Kunstcentrum genannt, die Dependance sei modern und schön. Und wirklich, dort kamen wir unter. Meine Frau stürmte sofort ins Bad und rief mich, damit ich mir die knallroten Armaturen ansehe, auch die Dusche mit flotter Mischbatterie in dieser modernen Ausführung, die noch nicht auf dem Markt war, als wir unser Bad umbauten. Auf den Fluren hängen Bilder, die zu kaufen sind.

Was ist wo in Worpswede?
In einem Zeitungsladen, bei dem es sich aber, wie ich später las, um die renommierte Buchhandlung Netzel handelt, fanden wir einen "Führer" durch Worpswede. Wir hatten schon das Straßenschild "Im Schluh" gesehen, allerdings war das "L" weggekratzt, so daß es "Im Schuh" hieß. Wir machten uns, an der Hauptkreuzung an der Straße sitzend, in Angelos Garten, bei Apfelkuchen mit Zimt, erst einmal ortsschlau über das berühmteste und älteste Kunstdorf der Welt. "Bei Angelo" - heute ein ital. Spaghetti- und Pizza-Restaurant hat noch ein altes Emailleschild am Strohdach "Stadt Bremen", und als solcher wird der Gasthof auch in den alten Rilke-, Vogeler-, Modersohn-Texten erwähnt.

Wo ist der Zauber?
Wo einst ein Liebesfest im Bild festgehalten wurde, in Worpswede, wo Clara die Paula im Boot über die Hemme staakte, da deckt jetzt Asphalt die Flure(n) und sie feiern "100 Jahre Worpswede". Auch Paula Becker, zeitweise verheiratete Modersohn, wird mit zwei Vorträgen - im Rathaus und anderswo - bedacht. Ach, zwei Zeilen Paulas wecken uns da so richtig auf: 1.12.00 an Rilke. "Und sonst? Ich habe einen großen Strauß herbstlicher, weißer Beeren vor mir auf dem Tisch, von jenen, die Knall sagen, wenn man auf sie tritt."

Rilke und Worpswede
Rilke ließ sich, lange nach Worpswede, im schweren Automobil der Gräfin Thurn-und Taxis-Hohenlose von Paris an die österreicheische Adriaküste chauffieren, zum Schloß Duino. Dort sah er über die Brüstung gebeugt im Garten den Arbeitenden zu und fühlte sich «im Sog» zu ihnen hin- und hinuntergezogen: wie einer, der etwas schuldig ist, zu tun und mitzutun. Derselbe Rilke hat in so krasser und verblüffender Weise andere Dinge getan, die ihn unter die "ersten Menschen" seiner Zeit reihen. Er hat wie einer, der nicht ganz dicht ist, sich Rodin und Cézanne geöffnet. Und vorher hat er in der Reihe Knackfuß Worpswede eine Monographie gewidmet, von der der Paula Becker sagte: Im Grunde sind die doch alle viel einfacher!

Wer zählt in Worpswede?
Die meisten kommen wegen der toten Künstler. Das, was heute in Worpswede entsteht, beachten sie nicht. 100 Jahre Worpswede: Welch ein Aufschwung damals. Eine Goldmedaille in München. Otto Modersohn war eine Berühmtheit, als Paula ihn kennenlernte. Und als alles vorüber war mit der ersten Künstlergruppe in Worpswede, da sagte Overbeck zu Otto Modersohn: "Aus uns allen ist doch nichts geworden außer Deiner Frau."

Unser Worpswede-Besuch
Wir hatten diese Stationen: Höttgers Café Worpswede, die große Roselius-Kunstschau, die Lindenallee, der Barkenhoff, am Brünjes Hof vorbei und durch den Schluh, Teufelsmoor. Zweiter Tag: Frühstück, Weyerberg, Paulas Grab, Zionskirche, Alte Meierei, ein Architekt plant, ich kaufe ein Bild. Der Bahnhof (von Vogeler entworfen). Neu-Helgoland, die Hamme. Teufelsmoor.

Wir gehen durch Worpswede
100 Jahre Worpswede, und überall Autoverkehr, asphaltierte Straßen und, erstmal loslaufend, sahen wir nur Parkplätze für Busse, eine Zentraltoilette, ziemlich öde Kneipen, Klimper-Pimper-Läden auf Touristengeschmack getrimmt... Aber dann das Café Worpswede, auch «Café Verrückt» genannt, das gefiel uns gut in seinen bizarren Formen, Schwung im Dach, und selbst die Türdrücker ein Augen- und Handfühl-Schmaus. Wir hatten uns ja gerade in "Stadt Bremen", jetzt Angelo, gestärkt. Also gingen wir zuerst nebenan in die Kunstschau ins Roselius-Haus.

[ 1 ] Kaffee HAG und die Musen
Roselius, reicher Kaffeehändler in Bremen, hatte für seine herzkranke Frau den koffein-freien Kaffee erfunden und viel Geld damit verdient. Ähnlich wie der Keks-Bahlsen in Hannover, der dort eine «TET-Stadt» (durch Hoetger) bauen wollte, wollte Roselius eine "HAG-Stadt" bauen. Daraus wurde nichts, aber er baute in Bremen mit Hoetger die Böttcherstraße mit dem Paula-Modersohn-Becker-Haus. Roselius ist Paula persönlich noch begegnet, aber sie machte keinen besonderen Eindruck auf ihn.

[ 2 ] Bilder: lauter Fenster ins Eigenste
Wir gehen durch die reich behängten Räume. Es lohnt sich. Man hat nicht damit gerechnet und ist ganz benommen vom Schauen, Genießen und erfüllt vom Wunsch: wiederzukommen. Werde ich mich mit meiner Studie zu Paulas Eigenart zu den "Verzerrern" gesellen? Oder mich an die Reihe derer anschließen, die Paula für ihre Ziele, Zwecke und Wünsche ausgenutzt haben? Es geht ums Zentral-Thema: Was kann der Einzelne tun? Wozu sind wir da, auf der Welt? - Paulas Bilder gehen über die Realität hinaus. Was Paula anzieht, nennt sie am 10.12.97 "etwas Magisches, was mich beim Malen in schnellen zarten Gefühlsschwingungen vibrieren läßt".

[ 3 ] Paulas Bilder: Ungewöhnlich, bis ins Extreme
Da sind Menschen und Dinge in Paulas Bildern, die uns erschrecken. Sie verließ in Worpswede und in Paris die ausgetretenen Pfade. - Paulas malerische Ziele sind oft bizarr. Wiederholt fordert sie, das "Vibrierende" der Haut darzustellen, "das Krause in sich". Paula ist radikal. Sie folgte jenem Cézanne, der gesagt hatte: "Die Geschicklichkeit, man muß sie brechen. Sie ist der Tod der Kunst".

[ 4 ] Paulas malerische Eigenart
Ihre Identität: Was tat sie, um sich zu "kennen"? An Otto: "Ich weiß nicht, ob ich kompliziert bin. Und wenn ich es wäre, müßte ich wohl so sein. Und dann würde ich Kompliziertsein auch keinen Fehler nennen." - Sie malte viel. Zwingend, zwanghaft, besessen, im Arbeitsrausch. Sie rauht durch krasse Pinselführung die Oberfläche der Bilder auf, um den stofflichen Charakter der Dinge und Menschen herauszuarbeiten: eben jenes "leichte Vibrieren der Dinge". Sie wählt den Blick so, daß die Objekte in Bewegung scheinen: nach vorn kippen.

[ 5 ] Paulas "Schnürchen"
Um ein Gefühl "in seiner ganzen Stärke zum Ausdruck zu bringen", muß man, schreibt Paula am 18. Februar 1903, "alle Mittel am Schnürchen haben: die Technik, die Farbei, die große Form" ... "Technik unmittelbar im Dienste des Ausdrucks".

[ 6 ] Das «KRAUSE IN SICH», das Leben
Otto Stelzher "Die bewegte, pastose Oberfläche behält zwar den materiellen Reiz des Farbpigments, der dem Auge sinnlichen Genuß gewährt, sie bedeutet aber mehr als das, sie wird zum Sinnbild für die Bewegtheit des Lebens überhaupt." Paula lernt, sagt sie, von Rembrandts Bildern, "wenn sie auch gelb sind von Firnis, trotzdem viel von ihnen, das Krause in sich, das Leben".

[ 7 ] Clara Rilke-Westhoffs Bildhauer-Arbeiten
Wir sahen Arbeiten Claras: Rilke, Paula. Gerda Becker in der "Alten Meierei" erzählte uns von Clara, die sie noch gekannt hatte. Wie souverän sie war. Andererseits ihr Hang zur Mystik und zu einer amerikanischen Sekte. Ihr Rodin-Vortrag: sehr tastend, sehr unselbständig.

Der Barkenhoff
Weiter oben in Richtung auf den Weyerberg fanden wir Landschaft. Auf der Lindenallee konnten wir uns den Reiz der Gegend vorstellen. Am Ende der Lindenallee hielt ein Touristen-Bus, wir gingen hinter der Gruppe her, immer bergab durch die Büsche: und landeten vor dem Barkenhoff! Sehr schöne Präsentation im Erdgeschoß, auch die alte Druckerpresse stand dort, um die es dann noch Streit gegeben hat zwischen den Malern, sogar vor Gericht. Überhaupt war das eine zänkische und widersprüchliche Gruppe damals in Worpswede.

Der "WEISSE SAAL" im Barkenhoff
Uns kommt in Worpswede vieles recht "eigenartig", sonderbar und von bremischer und torfmoor-eigensinniger Färbung mit dem Zug ins Dröhnbüddelige und Verbohrt-Dumpfe vor. Nur durch Zufall finden wir im Barkenhoff die Treppe nach oben. Kein Hinweis, auch oben nicht, daß es sich um den "Weißen Saal" handelt, wo Rilke gelesen hat, vor Vogeler, Paula und Clara. Wo Paulas Schwester gesungen hat. Die nette junge Frau unten am Empfang entschuldigend: "Der weiße Saal ist erst vor acht Wochen mit einem Konzert eingeweiht worden!" - Im weißen Saal im Jahr 1900 erlebten "die sechs" festliche Stunden, einen Aufbruch. Später heißt es in Paulas Brief an Clara Westhoff: "Geht denn das Leben nicht, wie wir sechs es uns einst dachten?"

Rilke und der Barkenhoff
2.Oktober 1900, Rilke: "Wie schön wurden die Mädchen, als sie immer noch im Schatten meiner Worte inmitten des vielen Lichtes saßen, sinnend mit allen Linien ihrer weißen Gestalt, wie Reflexe, die aus Himmeln auf ein dunkles Wasser fallen...Später trat ich in meinem roten Gewand mit roten Schuhen unter sie und blieb später im russischen Hamd mit den kasanschen Stiefeln unter ihnen. So begleitete ich sie alle auch in die Diele herab, wo jemand aussprach, daß wir zwei Sonntage uns nicht zusammenfinden würden."

Sternstunden in Worpswede
27. September 1900, Rilke: "Zwei Dinge sind gewiß: ich muß viel von diesen Menschen lernen, aufmerksam sein und wach sein und dankbarer sein gegen alle Umgebung.... wie lieben sie mich hier. Wie gut war unsere Gemeinsamkeit in Hamburg.... ihr Frohester zu sein und der Lebendigste unter ihnen. Alle Kräfte steigen in mir. Alles Leben versammelt sich in meiner Stimme."

Paulas Atelier bei Brünjes
Wir gingen nur vorbei. Dort sprach Rilke mit Paula, die sich beim Bauern eingerichtet hatte: "4. Oktober 1900: Gestern war ein reicher Abend im Atelier mit den Lilien. Ich las, und anschließend daran waren gute Gespräche." Und "29. September 1909. Später war ich bei der blonden Malerin, die mich wie einen alten Freund empfing. Wir hatten uns seit Hamburg nicht gesehen, es war also viel nachzuholen."

Das Dröge in Worpswede
Ja, im Barkenhoff (und auch sonst) ist ein Zug ins Derbe, Dröge und Beknackte. Den schönen Garten sahen wir aus dem 1. Stock, aus dem "Weißen Saal. Aber was war denn das? Die lieben Worpsweder haben die Gartenwege des Barkenhoffs kreuz-quer überall verhängt und überspannt mit Plastikstreifen, deren Signalfarben nun mit ihrem Idioten-rot die Blumen überkreischen. Begründung: Die Streifen hindern die Besucher daran, den Garten zu betreten! In der Art finden wir noch vieles, kopfschüttelnd.

Paulas Grab: fast zugewachsen
und nicht zu finden. Keine Hinweisschilder, nicht nur hier fehlen sie. Ach ja, Paula, wie schrieb sie doch damals in einem Brief aus Worpswede: "Ich glaube, ich werde mich von hier fortentwickeln." Sie hat nicht das Grab bekommen, daß sie sich gewünscht hat: "wie ich es mir anders denke...Es sei ein viereckig längliches Beet mit weißen Nelken umpflanzt. Darum läuft ein kleiner sanfter Kiesweg..." [Tgb, 24.02.02]

Lichtwirkungen und Zauber
Paula: -"...Meine Augen, die sich vor der Sonnenheiligkeit ganz geschlossen hatten, lüfteten sich auf Augenblicke.." - "Ich träumte im Wachen und sah wie aus einem zweiten Leben meinem Leben zu." Tb 29.5.02 Rilke: "Dann war Abend und Abschied. Der Abend ist immer groß, wenn ich aus diesem Hause komme. Ganz glashell steht der schlanke Mondanfang im gelben, bernsteinfarbigen Himmel. Schwarz ist der Wald, und seine Kühle geht ohne Wind über den Weg und in die Wiesen, die an den Wassern liegen. Dort sind die Laubbäume schon leerer, und aller Raum ist gewachsen. Mit weichen Konturen stehen die Dinge vor der Ebene, wie viele Inseln in dämmernder Luft."

Wo sind die Hamme-Wiesen?
Wir fanden Sie durch Zufall. Eigentlich wollten wir nur in das Gasthaus "Neu Helgoland". Es ist alles ziemlich trockengelegt und "zugebuttert" in dieser früher anziehenden und ins Unheimliche taumelnden Landschaft, wo die Hamme einst die Wiesen überflutete.

Wo ist eine Ecke Moor?
Noch schwerer war es, ein Stück Teufelsmoor zu finden, wo noch Torf gestochen wird. Wir schafften es am zweiten Tag mit viel List. Wir nahmen die kleinste Straße, die abbog, und dort hielten wir fleißig die Augen offen. Weit ab vom Weg leuchteten in der Höhe Umrisse von so etwas wie Torfsoden, die in der Sonne trockneten! - Wir fragten uns auch, wie es hier im Winter sein wird. Und ob man hier leben möchte.

In Worpswede überwintern?
Rilke wollte es: "Ich will Herbst haben. Ich will mich mit Winter bedecken und will mit keiner Farbe mich verraten. Ich will einschneien um eines kommenden Frühlings willen, damit, was in mir keimt, nicht zu früh aus den Furchen steige."

Frühstück
Am zweiten Tag morgens im "Hotel am Kunstcentrum" das reichhaltige Frühstücksbuffet. Die Chefin, zierliche Asiatin, die von ihrer Geburtsinsel auch Batik aus Bali zum Verkauf ausliegen hat, trug einen weißen, topp-frischen, hauchdünnen Küchen-Nahkampf-Anzug und legte charmant mehrmals frische Frühstückseier "ins Nest", in einen kleinen Bastkorb mit Deckchen drüber. Die Tür sprang auf und ein noch unrasierter Hotelgast fragte im Bademantel nach der Schwimmhalle. Ein anderer Gast ließ sich von uns zeigen, wie man zu Kaffee kommt. "Drehen Sie am Deckel, damit er die Tülle freigibt", sagte ich in meiner hilfsbereiten Art und schlug auch vor, sie könne eine der Thermos-Kannen mit an ihren Tisch nehmen. "Ach, ich bin doch allein", war ihre Antwort. Sie war ziemlich groß und nett und war in Worpswede zu einer Hochzeit, also nicht der Kunst wegen.

Alte Meierei
Die Organistin, die für die Hochzeit aufspielte, trafen wir dann am Kunstzentrum bei Gerda Becker. Wir waren nämlich "zu früh" in der "Alten Meierei", dem Kunstcentrum. Die Glasbläserei, die Keramikstube und das Café waren nämlich noch geschlossen. So steuerte ich schließlich unter den stummen Protesten meiner Frau auf die Tür "Information" zu. Es sah von draußen aus, als wäre da seit 10 Jahren niemand mehr hineingegangen. Eine Stimme sprach freundlich "Blicken Sie sich gerne um" und wandte sich wiederum der Organistin zu.

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Autor:in

litfink

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