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Die Verschandlung

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So kann´s gehen! Gerade verstand ich mich noch in einem höheren Rahmen als unbeteiligt am gesamten weltpolitischen Geschehen, sah mich verdonnert zur Politik der Couch-Potatoes und Stammtischrunden - wobei zum Glück letztere eher auf dem Niveau einer deutschen als einer österreichischen Tageszeitung geführt wurden - zum simplen "die Welt verschieden Interpretieren" anstatt sie zu verändern. Gerade noch. Aber jetzt? Vor mir sitzen 185 Menschen, von denen ich nur vier Namen kenne, ich stehe am Rednerpult und beginne mit den Worten: "Liebe Kolleginnen und Kollegen, geehrter Herr Nationalratspräsident.." meine erste Rede als Bundeskanzler. Ohne Recht zu wissen warum. Ich bin heute morgen, wie jeden morgen aufgestanden, wollte eigentlich an die Universität fahren, wie jeden Mittwochmorgen, aber statt dessen, wurde ich in einem dunkelblauen Audi abgeholt, und nach Wien gefahren, direkt zur Hintertür des Parlaments, vorbei an Gratulanten, die mein Konterfei papiern in die Höhe hoben und Demonstranten, die das zwar auch taten, aber nur um es zu beschimpfen, bespucken und verbrennen, in dieser Reihenfolge. "Herr Bundeskanzler, wurde Zeit, dass sie kommen!" Einer der unzähligen Parteischergen - Moment, bei welcher Partei war ich nochmal, welches Manifest hatte ich als Grundlage meiner Weltanschauung, welche Farbe würde meine Knopflochblume haben und vor allem, wie hatte ich die Parteikollegen zu grüßen. Überlegungen die sich schnell legten, als dieser Bückling mir eine rote Nelke ins Knopfloch stecke. Gut besser als die meisten anderen, kleinstes Übel halt, aber unangenehm. "Ihre rede liegt in Ihrem Büro, herr Bundeskanzler, sie haben 10 Minuten Zeit sie durchzugehen, dann sind sie dran." Auf den Weg in den Sitzungssaal las ich mir die Rede einmal durch. Schrecklich polemisch, um mit der durchzukommen musste halb Österreich besoffen sein - okay, ich geb´s zu, das is es wohl - oder ich Zumindest in einer absoluten Mehrheit regieren, kein politischer Partner hätte diese Rede hingenommen, nicht einmal ich konnte das, schon die ersten Worte stießen mir sauer auf und der Rest war noch schlimmer.
Doch die Rede verlief gut, ausgesprochen gut sogar. Selbst aus der rechten Ecke kam Applaus, ja sogar stehender und ich fühlte mich zum ersten mal an dem Tag wohl, wenn auch nur kurz. "Ähm, ich hätte jetzt gleich ein Proseminar", flüsterte ich zu einem meiner Minister, der mich anlächelte. "Das wird schwer gehen, Herr Bundeskanzler. Wir sind noch nicht einmal am zweiten Punkt der Tagesordnung." "Aber die Kinderbeihilfe..." doch das dachte ich dann mehr als ich es sagte, ich setzte mich hin und hörte zu.
Gestern noch hätte ich bei jedem Redner, der antrat den Kopf geschüttelt. Zu wenig Konsenz, zu wenig Verständnis, keiner machte sich ernsthafte Gedanken, dass es mehr Bürger gab, als die, die seine Partei repräsentierte. All das ging mir jetzt auch durch den Kopf, nur diesmal blieb ich still sitzen, las irgendwelche Kopien mit Zahlen darauf, die ich nicht verstand und auch nicht verstehen wollte, Bruttoinlandsprodukte und Kaufkraft und was weiß ich. Alles Sachen, die für mich nur ein bizarres, mathematisches System waren, damit hatte ich nach der Matura abgeschlossen. Meine Minister schoben mir einen Zettel nach dem anderen unter, alle mit solchem Zeug bedruckt. Heimlich sehnte ich mich einige hundert Meter weiter, in den kleinen Hörsaal 3B, zurück zu Kant und dessen Schachtelsätzerei, beschloss morgen eine kleine Ausgabe der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" mitzunehmen, damit ich etwas zu lesen hätte, während die hier über Zahlen und Defizite und Soll und haben und so weiter debattierten. Der Finanzminister wird´s schon richten.
Halt! Morgen? Was wäre morgen? Bin ich morgen noch der, der ich heute bin. Und vor allem wenn das so ist, wie steht´s mit Semesterende. Ich habe einige Prüfungen zu machen, kann ich mich als Bundeskanzler überhaupt an die Universität trauen ohne beschimpft, bespuckt und angezunden zu werden, in dieser Reihenfolge. Wenn ich dort nicht auftauche, mir nicht die nötigen Scheine hole, verliere ich die Familienbeihilfe, Moment.
Ich wartete das ende der Parlamentssitzung ab und schnappte mir beim Hinausgehen aus dem Saal, den Genossen, der mich schon bei meiner Ankunft unter seine Fittiche genommen hatte: "Sag mal, wieviel bekomme ich de so im Monat gezahlt?" "Also Herr Bundeskanzler, mehr als genug, würde ich sagen, mehr als genug." "Und was muss ich dafür machen?" "Das müssen Sie schon selbst wissen." "Aber ich hab keine Ahnung, wie das funktionieren soll." "Das kommt mit der Zeit, keine Angst."
Wieder zu Hause, fragte ich meine Mutter, ob sie wüsste was los sei. "Gar nichts, ich war heute arbeiten wie immer und du an der Universität. Und jetzt setz dich an den Küchentisch ich habe gekocht." "He Mama, ich bin jetzt Bundeskanzler." Sie lachte: "Wenn sich Österreich das antun würde, wäre es noch dümmer als man bisher hätte annehmen können, wobei viel dümmer als bisher geht´s dann doch nur schwer. Bub, du hast eine allzu ausufernde Phantasie."
Am nächsten Morgen packte ich meine kleine Taschenbuchausgabe der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" ein und stellte mich vor die Haustür, in Erwartung eines dunkelblauen Audi und des Beweises, das Österreich immer dazu bereit ist, sich selbst zu übertreffen.

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NaimED

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