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Die Prüfung

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Die Prüfung


Kalt, sehr kalt; es war ein eisiger Hauch der über den Schulhof wehte und in den Augen zwackte; vielmehr sich versteckte.

Die Gitterzäune des Baustellengerüstes beherrschten den Hof und begannen bei jedem vorübergehenden Wind zu klirren und zu knarzen. Auch immer dann, wenn Schüler sie ganz leicht streiften oder mit einem mulmigen Gefühl die Schultür, die wie ein dicker Pfropfen auf der Außenfassade des Gebäudes hockte, anvisierten.
So war es auch diesmal- und niemand hätte behaupten können, dass es jemals anders gewesen wäre. Einige Schüler warteten auf dem Schulhof auf ihre Freunde, andere wiederum schoben sich zu kleinen Kesseln zusammen, die festgefroren irgendwo verharrten.
Es war ein Herbstmorgen; genauer gesagt so ein Tag, an dem man die Gitterstäbe der Zäune förmlich frieren sah und ihr Bibbern auf einem von Baufahrzeugen zermatschten, schlammigen Weg hören konnte. Den Schulhof säumte neben diesen Palisaden ein vereinzelter Baum, der so gewachsen war, das der Stamm dem drängenden Wind sich leicht zu beugen schien. Dies konnte man vor allem aus einem der Klassenzimmer gut beobachten: Der Stamm bog sich wie ein kleiner Dieb über die vor den Fenstern befindliche Steinterrasse, mit dem Ziel, in ein offenes Fenster einzusteigen und dort heimlich mithilfe des Rauschens der Blätter die Aufmerksamkeit der Schüler zu stehlen. Was aber noch viel unheimlicher war, verwurzelte sich im hinteren Teil des Hofs. Dort stand nämlich ein großer, üppiger Strauch, der den Blick auf den vorderen Bereich des Platzes versperrte. Hier konnte man sich ohne weiteres aufhalten und schon im Vorfeld erahnen, ob einer da nahte und ihn vorher schon abweisend beschwichtigen, wenn er schlechte Neuigkeiten mit sich brachte. Den Eingang der Schule zierte eine abgenutzte Treppe –genau drei Stufen-, die zu der Schultür führte. Links und rechts von ihr reflektierte das Licht von innen gegen die matten Glasscheiben und man konnte ab und zu etwas Flüchtiges erkennen. Nur ab und zu, denn man hatte es selbst eilig, nicht zu spät zum Unterrichtsbeginn zu erscheinen.
Als an jenem Morgen ein kleiner Junge, selbst schon ziemlich hektisch, – so gegen 7.58 Uhr- ankam und die große Türe öffnen wollte, stellte sich sein körperliches Hindernis in den Weg und er bemerkte, das die Tür viel zu sperrig und lang war, als das er sie allein hätte bewegen können. Überhaupt war diese Tür eine Fehlkonstruktion seltenen Ausmaßes und behinderte jeden, der die eine Hand in der Tasche oder die andere schweißgebadet zusammengeballt um die Klinke hatte. Und dann musste man auch noch drücken und stämmen und mit dem Fuß absichern, damit sich der geringe Erfolg des mit letzter Kraft geöffneten Spalts der Tür auch lohnte. -Dem Junge erging es nicht anders. Sein magerer Körper presste gegen diese Tür und doch ... kein Öffnen. Er begann sich umzusehen. Er tippte höflich einem anderen auf die Schulter und bat denjenigen ihm die Türe aufzuhalten; der erwiderte: „Na?, Halt ich sie mal wieder für dich auf?“ Er tat wie gebeten und hielt sie ihm auf bis er drinnen war. Der Junge bedankte sich bei ihm mit einer freundlichen Geste und betrat kurz darauf den grobkörnigen Fußabtreter, der das Wasser und den Schlamm aufsog, als wüsste dieser was ihn nährte. Der gelbliche Flurgang zog sich bis zu einer Teilung hin, in der er sich in ein anderes Muster überlagerte. Auf der einen Seite die Informatikräume, auf der anderen der Chemieraum. In der Mitte eine Treppe, die sich dann nochmals aufspaltete und hoch zum Sekretariat führte. Davor immer eine Goethebüste; ein Klumpen aus Weiß, der der Tür unten als Türstopper hätte dienen können. Wäre die Tür unten nie mehr aufgegangen, so hätte einer herbeieilen und sagen müssen: „Der Klotz wird dafür Sorge tragen, dass der Wind auch hier drinnen alle Geländerstäbe zittern lässt!“ Und wäre dem wirklich so geschehen, hätten auch alle hier angefroren stehen können; es wäre kein Unterschied zwischen Drinnen-und Draußensein gewesen. Dann hätte man auch über die Schwarz-Weiß Fotos früherer Jahrgänge und die scheinbaren, einen Museumsbesuch vorgaukelnden, Fundstücke in den Vitrinen wie z.B. einer Schaffnermütze flüchtig geredet und gewartet, bis einer davon abkommt und ein neues Gesprächsthema vorschlägt.
Dem Jungen glitt dies alles durch die Haare, den nasskalten Händen und den Blick, den er seinen Schulkameraden beim Hineinschreiten ins Klassenzimmer entgegenwarf.
Die Fenster waren doppelt verriegelt und der graue Himmel eichte stumm die Dächerkanten der benachbarten Häuser. Der Lehrer nahte mit dem klimpernden Schlüssel in der Hand und betrat mit fast selbigem Ausdruck, wie er zuvor, das Zimmer. Er platzierte seine lederne Tasche auf den kauernden Tisch, legte seinen Mantel ab und kreuzte seine Finger übereinander, so als wolle er beten. Aber das war natürlich kein Gebet ( und wenn doch, ein viel zu frühes), sondern eine Bitte, die sich nur für einen Augenblick äußerte, als der Junge ihn mit forschenden Augen ansah. Seine langen, schmalen Hände strichen wie trocknes Gras über die Tasche und legten die noch von kühler Morgenluft getränkten Bündel Klausuren aus. Auf den flachen, rustikalen Pulten reihten sie sich in einer Totenscheinblässe, in die man erst tief hineinschauen musste, bevor man diesen Raum verlassen konnte. Im Grunde genommen waren es viele kleine Fahnen, die irgendjemand unbewusst aufgesammelt oder die irgendeine Brise hier hereingeweht hat und die sich nicht trauten denjenigen zu empfangen, der sich der Schultür näherte. Nun lagen sie auf hartem Boden. Drehen und wenden konnten sich diese Fahnen nicht. Und wenn sie sich wendeten, dann nur weil der Junge es sich träumte. Aber sie blieben flüchtig und unbeholfen mit ihren Strichen und Formen wie die vielen Augen, welche unvermindert auf sie starrten.
Der Junge stierte hinaus zum Himmel, zum Baum, zum Hof- und alles war draußen und drinnen.
Nach der Stunde ging der Junge an den Schülern und Lehrern und an seinem Spiegelbild im Schaukasten vorbei. Die Stimmen und Melodien des Schulchors hallten unwiderruflich an den Wölbungen der Decke, den Türen, in den nichtbelegten Räumen und verschmolzen mit dem Gemurmel der rückantwortenden Echos. Es machte alles flüchtig und schnell. Ähnlich einer Raubkatze, die am anderen Ende des Ganges auf einen wartet, sich aber nicht traut, auf den Kacheln und den Mosaiksteinchen näher zu schleichen.
Sie war die eine dunkle Ecke (die man erblickt und auch manchmal schnell wieder vergessen will)- ausgebreitet und wie verhängt mit Fetzen an einer Stelle, an der sie überhaupt nicht passte und die sich erst in den Jahren über ihre missliche Lage im Klaren wurde und erst dann schwarzgerußt hinunterrieselte, wie etwas Enttäuschtes. So schien sie sich schon viele Male manifestiert zu haben. Und jedes mal raunte sie einem ihre Angst ins Gesicht. Das geschah, dass sah der Junge, egal ob er es bereits so erlebt hatte oder nicht, in den Fotos und in den ganzen versuchten Teilen eines unvollkommenen Etwas, das hier die Luft erfüllte und sich mit jedem Atemzug wieder aufzurichten und zu vollenden wollen schien. Überall hatte das Tier seine Spuren hinterlassen; ganz vertraut und mit einem Wohlbefinden in seiner Brust-; zwischen den Reihen der früheren Schüler auf den Fotos, an den dicken Geländern bei der Treppe, den hereinfallenden Schatten der Bäume,- ja selbst das Gehen einiger Schüler und Lehrer glich diesem Tier in seiner Art und Weise.
Die Dinge kannten diesen Jungen nicht-; und hätten sie es, so wären sie sich fremd geworden mit den Jahren und lägen wie verabschiedet vor ihm in Glaskästen, zu denen der Schlüssel fehlte.
So wahrten sie ihre Beschaulichkeit.
Und sie wahrten sie als ein brüchiges Ganzes.

Der Junge stand regungslos bei den anderen auf dem Hof herum. Und wie das Klingeln die Schüler hineinrief, so blieb er als letzter vor der schweren, zugefallenen Tür stehen.
Diesesmal hielt sie niemand für ihn auf.
Er stämmte sich gegen sie, jedoch, ziemlich unbeeindruckt, blieb die Tür in ihrem Schloss und starrte ihn wie einen riesigen Obelisken an. Dem Jungen konnte sie keinen Eintritt mehr gewähren. Und so war das Drücken und das ungelenkige Stämmen nichts weiter als ein kleines Schwanken und Sterben in seiner Aufopferung für den großen Schriftzug, unter dem er immer kleiner und kleiner wurde: Deo, Virtuti, Litteris.


Ob es nun jemand bemerkte, das er fehlte und ob es einen Klassenbucheintrag deswegen gab, spielte keine Rolle.
Die Schüler fragten sich dies in den letzten Monaten auch nicht mehr. Meistens hörte man nur: „Ist er versetzt wurden? Nein? Warum?“. Dann kam nur flüchtig die Antwort: „Er hat die Prüfung nicht geschafft.
Die Tür krachte in den letzten Wochen plötzlich hörbarer ja deutlicher auf. Und wenn sie aufkrachte, -so, wie wenn ein vertrautgewordenes Leben aus den Scharnieren herausbricht-, kam ein Wind herein, der in den Haaren wirbelte und in den Augen zwackte.
Und wäre sie dann wieder zugemacht worden, so hätte einer vielleicht versucht sie wieder zu öffnen.

Das einzige, was noch blieb, war der krumme Baum, der geknickt wie ein alter Mann davorstand und die Zweige wie Hände in den Schoß legte, bevor die Planierraupen den Schulhof unter sich begruben.

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Thomas

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