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Die Linde – eine Geschichte in mehreren Teilen

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Mittelpunkt und Namensgeber des Bergischen Weilers
Lindenthal ist die alte Linde, ein behördlich geschütztes
Naturdenkmal und empfehlenswerter Wegpunkt für jede
Wanderung in dieser zum Wandern einladenden Gegend.
Der Eindruck, den der Baum macht, ist so groß, dass
Heimatforscher bereits überlegt haben, ob vielleicht diese
Linde der ursprüngliche Kristallisationspunkt der kleinen
Siedlung war, ob sie also nicht vom ersten Siedler gepflanzt
wurde, sondern bereits vor dem Siedler stand und ihn zur
Ansiedlung überhaupt erst bewegte. Man vermutet, dass sie
einst der Mittelpunkt einer heidnisch-religiösen Stätte
gewesen ist. Wollte man eine Schöpfungs-Mythologie von
Lindenthal entwickeln, könnte man etwa dichten, dass der
Weiler nichts anderes ist als eine Schöpfung des ruhigen
Naturgeistes dieses Baumes. Das diesem sanften und
gutmütigen Geist entsprungene Ortsgebilde ist immerhin so
hübsch und harmonisch, dass Lindenthal bei den
entsprechenden Wettbewerben bereits mehrfach prämiert
und in den neunziger Jahren sogar einmal landesweit zum
Golddorf gekürt worden ist.

Lindenthal, das in einem der wenigen noch vorhandenen
Funklöcher liegt, ist eine beinahe schon karikaturistisch
überzeichnete Idylle. Der kleine Ort befindet sich in einem
immer etwas klammen Talkessel und setzt sich aus sechs
gut erhaltenen und gepflegten Fachwerkgebäuden
zusammen, die von ebenso vielen Haushalten bewohnt
werden. Das größte und älteste Gebäude ist die aus einem
Bauernhof hervorgegangene Gastwirtschaft, in deren
offenem Hof auch der von einer Bank komplett umlaufene
Lindenbaum steht. Bewohnt und bewirtschaftet wird der
ehemalige Hof vom Ehepaar Rentmeister und seinen zwei
erwachsenen Töchtern. Nachdem die Töchter die vormals
sehr bescheidene und nebenher betriebene Wirtschaft vor
einigen Jahren von den Eltern übernommen, renoviert und
in einer ehrgeizigen Kampagne großräumig beworben
haben, ist aus dem Lindenhaus nach und nach ein beliebtes
und als Geheimtipp gehandeltes Ausflugsziel für
wohlhabende Großstädter geworden, die im Schatten der
Linde Geburtstage, Hochzeiten und ähnliche Anlässe feiern.
Übrigens beherbergt das Lindenhaus, das auch rustikale
Übernachtungsmöglichkeiten bietet, seit einigen Jahren
einen Dauergast, einen altersmäßig schwer
einzuschätzenden Kauz, von dem die Lindenthaler im
Grunde genommen nichts wissen, nur dass er
Heimatforschung betreibt (obwohl er gar nicht aus dieser
Gegend stammt – es ist einmal der Name „Berlin“ gefallen),
früher geschrieben hat und heute Landschaften malt. Sein
Name ist Robert Abendrot; es heißt allerdings, dass dies ein
erfundener Name sei.

Dem Lindenhaus am nächsten steht das windschiefe
Fachwerk eines zottelbärtigen Informatikers und seiner
Frau, die ebenfalls Informatikerin ist und beinahe ebenfalls
bärtig – ein unleugbarer Flaum immerhin ist vorhanden.
Ein Haus weiter lebt der ledige Inhaber eines ambulanten
Pflegedienstes, Geier mit Namen. Die zwei nächsten Häuser
werden bewohnt von den kinderlosen Familien des
Fernsehredakteurs Schauer und des Urologen Seckle. Etwas
abgeschieden von allen Häusern befindet sich das sechste
und neben dem Lindenhaus größte Grundstück, das am
tiefsten Punkt des Tales liegt und zu dem zwei von einem
kleinen Wiesenpfad getrennte Fischteiche gehören. Von hier
aus hat man den zwar nicht freiesten, aber doch vielleicht
schönsten und einprägsamsten Blick auf die Linde:
Betrachtet man sie abends durch das westliche Dachfenster,
kann man die farblichen Verwandlungen ihrer Krone vor
dem Hintergrund der untergehenden Sonne verfolgen. Den
kurzen Moment, in dem sie schließlich nur noch eine
schwarze, scharf gezeichnete Silhouette ist, deren Konturen
sich im Dunkel der einbrechenden Nacht dann nach und
nach auflösen, kann man den heimlichen und
melancholischen Höhepunkt jedes Lindenthaler Tages
nennen.

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Autor:in

chrysanthos

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