← Zurück zur Übersicht

des Bahnsteigs König

Share
Haben Sie schon einmal auf der Bank an der S-Bahn Haltestelle gesessen, die Menschen um Sie herum verträumt betrachtet, Ihre einfahrende Bahn gesehen und sind nicht eingestiegen?
Die plötzliche Hektik vor und hinter den Türen ergreift jeden, nur Sie nicht.

Gedränge, Schieben, warum? Irgendjemand kommt immer zu spät. Manchmal passt noch ein Fuß zwischen die zugleitenden Abteiltüren. Manchmal nicht. Dann werden die Läufer böse. Langer Tag, die Bahn in Sicht, ein Spurt, ein Lächeln, zu spät. Verdammt.

Die Bahn fährt an und damit setzt sich auch unser wütender Läufer in Bewegung, verschwindet ins Dunkel des Bahnsteigs.
Er lässt mich allein zurück. Ein kräftiger Wind rüttelt am Unterstand, der nur wenig Schutz bietet. Es ist ein wenig kalt. Vereinzelt schimmern Autos auf der glitzernden, regennassen Straße vorbei.
Ich bin froh, dass ich hier sitzen darf. In einem Auto könnte ich nicht so einfach sitzen bleiben. Da wird gehupt und geschimpft, gedrängelt und geflucht. Verdammte Welt.

Hier im Unterstand gelten andere Regeln. Hier bin ich der König. Die verloschenen, in den Asphalt getretenen Zigarettenstummel sind die Zeugen meiner Thronbesteigung. Ich gebiete über mein Reich mit weiser und gerechter Hand. Es darf nicht gerannt werden. Die oberste Maxime ist: Ruhe bewahren. Wer meine Gesetze missachtet muss mein Reich verlassen. Die Todesstrafe gibt es nicht, dafür müsste ich aufstehen.

Jemand kommt. Ein Mann im Trainingsanzug stellt sich zu mir, will sich eingliedern in mein Königreich. Ich dulde ihn als Flüchtling einer zerstörten Welt. Er darf eine Weile hier bleiben und sich erholen. Ich leiste ihm gesellschaft. Mir braucht niemand Gesellschaft zu leisten. Ein König hat immer viel zu tun.

Der Mann fügt meinen Untertanen einen weiteren hinzu. Wohlwollend nehme ich es hin. Als die nächste Bahn einfährt stehe ich auf und verneige mich vor meinem treuen Gefolge. Auch der tapferste Krieger muss einmal gehen. Die Türen schließen sich und draußen verlischt das Licht der Straßenlampen im Dunkel.

Der Trainingsanzug bleibt zurück. Jetzt ist er König in meinem Reich.

Autorentreff-Newsletter

Lass dich per E-Mail über neue Beiträge informieren.

Loading

Autor:in

Nathaniel

Nathaniel

Ehemaliges hhesse.de Mitglied

Du schreibst selbst Gedichte?
Veröffentliche dein Gedicht im Autorentreff von hhesse.de.

Kommentare

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments