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Das Verhör

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Seit Tagen, ja Wochen, hat er auf diesen Augenblick gewartet, manchmal mit Bange, manchmal mit der Erwartung, es werde alles schon gut gehen. Er hat sich in dieser Zeit gut vorbereitet, eigentlich war kein Grund zur Sorge da, aber hoffentlich werden sie ihm wohlgesonnen sein. Es kommt ja nur auf ihr Urteil an, ob man ihn auch wirklich weitermachen liesse oder ob er für immer verschwinden würde, wie es schon so Manchem vor ihm ergangen war.
Mit unsicheren Schritten und etwas zittrigen Händen betritt er den grossen, lichtdurchfluteten Saal. Da sind sie schon alle, sehen ihn gespannt an, erwartungsvoll, ob er sie überzeugen könne. Zielstrebig und innerlich wiederholend, was er lange gelernt hat, geht er auf seinen Stuhl zu, setzt sich und beginnt mit seiner Darbietung, der eigenen Interpretation, so wie er es erlebt hat. Sie werden nie alles verstehen, was er ihnen zu vermitteln versucht, aber das ist nichts Neues, das ist altbekannt. Er weiss, sie werden seine Arbeit nie vollends würdigen können, sie haben ja nicht dasselbe durchgemacht, aber er möchte bei ihnen dennoch den besten Eindruck hinterlassen.
Der Anfang ist geglückt. Jetzt nicht nervös werden, denkt er, und starrt etwas abwesend auf einen entfernten Punkt, um sich besser zu konzentrieren. Das Licht blendet ihn, doch das ist nur ein kleiner Teil dessen, was er hier zu überstehen hat. Er weiss genau, dass er hier nur gerade seine eigene Darstellung bringen kann. - Ob er die anderen überzeugt? Immerhin hören sie gebannt seiner Schilderung zu.
Nun kommt die schwierigste Passage, Schweisstropfen bilden sich auf der Stirn. Aber zum Glück bemerken sie es nicht. Nur nochmals kurz Anlauf holen. Und geschafft.
Beinahe fehlerfrei beendet er seine schon lange auswendig gelernte Darbietung. Hoffentlich gefällt es ihnen, hoffentlich hat er sie überzeugt.
Er spielt die letzte Taste an, lässt sie los und richtet sich auf seinem Stuhl auf, holt einen tiefen Atemzug und entspannt sich. Während des tosenden Beifalls verbeugt er sich, lächelt, geht von der Bühne, kommt zurück und spielt eine Zugabe.

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glasperlenspieler

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