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Das Meer

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Am Nachmittag ging ich zum Meer. Schon von weitem konnte man es ahnen. Vom Wind getragen drang sein Rauschen bis weit ins Land hinein. Doch noch war kein Wellenschlag zu vernehmen. Es war jetzt vor allem das Rascheln des Windes im Gras, im Sand, in den Büschen. Die Luft, schon voller Salz, ließ sich unbeschwert einatmen und reinigte die von der Stadt und vom Staub belasteten Lungen. Vor mir ragten die ersten Dünen empor, hinter denen ich gleich das Wasser vermutete, aber nachdem ich sie erklommen hatte, dehnte sich der Küstenstreifen mit den Hügeln aus Sand und Gras bis zum Horizont aus. Das Meer war nicht zu sehen.
Ich glitt auf dem Sand nach unten, um mir zwischen den Dünen einen Weg zum Strand zu suchen. Unten, im Dünental wurde es mit einem Mal still. Die Dünen hielten die bewegte Luft an. Lerchen standen hoch und sangen ihr Frühlingslied. Ich konnte sie als flatternde Punkte am Himmel erkennen. Schwarze Sterne am Tag. Unter den Füßen lebte der Sand, zerlief, rieselte zwischen den Zehen, umschmeichelte die Sohlen. Der Regen und der Wind verwischten frühere Fußspuren und an manchen Stellen bildete sich eine Kruste, die aufbrach, wenn man sie betrat. So wird man wieder zum ersten Menschen. Das Gras zischte hell, wenn man es berührte. Aus dem dunklen Grün der Büsche schienen gelbweiße Blüten. Die stehende Luft flirrte in der Hitze. Abgeschnitten von Strömungen jedweder Art – das Vorgefühl der Ewigkeit.
Der Sand ging in feuchtes Gras über. Die Schritte begannen zu schmatzen. Hinter dem Strauch breitete sich friedlich ein kleiner See aus. Die Sonne glitzerte über die feinen Wellen. Das Wasser war süß und klar. Man konnte bis auf den dunklen Grund sehen, wo sich Wassergräser sanft hin und her schwangen. Hier könnte man rasten, für den Rest seiner Tage. Doch das Große zieht mich weiter. Hier ist Ruhe. Aber das Meer ist der gewaltige Atem des Ewigen. Ich kann nicht bleiben. Ein letzter Schritt, eine letzte Anstrengung. Da liegt es.
Nein, das war wirklich nicht das Meer, was vorhin zu hören war. Die Dünen haben alles Rauschen verschluckt. Das Meer hier rauscht nicht. Es dröhnt, es braust, es ist laut und abweisend. Blau hebt es sich zum Horizont. Die Ferne ist wolkenverhangen, der Übergang vom Meer zum Himmel nicht erkennbar. Unmerklich heben sich irgendwo aus der Mitte weiße Schaumkronen empor, machen sich auf den Weg. Lange braucht es, doch endlich schlagen alle an den Strand. Ein einsames Paar, kaum noch wahrzunehmen, wandert einen Teil der Unendlichkeit ab.
Auf der Düne bleibe ich sitzen. Der erste mächtige Eindruck legt sich nur langsam in mir nieder. Man darf nicht zuviel auf einmal wollen. Hier ist eine Welt zu Ende und es beginnt eine neue, die anderen Gesetzen folgt. Tag und Nacht sind nebensächlich. Regen oder Sonnenschein. Immer schlägt Welle um Welle um Welle an den Strand, rollt wieder herab, holt neue Kraft. Hier zählen nicht Sekunden oder Stunden, hier ist ein eigener Rhythmus. Er zieht alles in seinen Bann, reißt alles, was in mir ist, mit sich. Die Seele wird gewaschen. Vorhin war ich der erste Mensch, jetzt werde ich neu Geboren. Alles verliert sich.
Ich mache mich auf den Weg hinunter, ganz nah an die Grenze heran. Dorthin, wo die Übergänge verwischen, dorthin, wo auch ich zum Übergang werde. Vielleicht kann ich da einen besseren Blick in die andere Welt werfen. Hier bleibt sie für mich undurchdringlich. Der Wind drückt mich zurück, als leiste mir eine unbestimmte Macht immer noch Widerstand. Soll ich denn wirklich nicht kommen? Doch kaum sind einige Schritte getan, wird auch das Dröhnen leiser. Ich fasse das als Willkommen auf. Jetzt fliege ich dem Strand entgegen.
Die Sonne brennt auf der Haut, der Wind dagegen weht kühl und erfrischend. Das Brausen und Rauschen füllt mich ganz aus, ergreift mich, durchdringt mich bis aufs Innerste. Lange blicke ich aufs Meer hinaus. Ich zähle die Wellen, versuche eine Ordnung in ihrer Abfolge zu entdecken, beobachte, wie sie sich erheben, verfolge ihren Weg bis vor meine Füße. Die Steine, vom Wasser umspült, leuchten wie Edelsteine. Irgendwo ist alles bedeutungsvoll. Selbst der unscheinbarste Kiesel ist hier im Nassen ein Juwel. Die schönsten hebe ich auf und trage sie eine Weile mit mir in der Hosentasche. Einen behalte ich in der Hand, fühle seine glatte Oberfläche. Wie viel Arbeit liegt dahinter? Jemand hat sich die Mühe gemacht und ihn jahrhundertelang poliert. Nur für mich. Für den Augenblick, wo ich hier an diesem Strand gerade diesen Stein auswähle und ihm so Persönlichkeit verleihe. Aber was sind denn schon bunte Steine?
Ich erinnere mich, wie ich früher verschiedene Steine sammelte. Manche, weil sie so schön glitzerten, manche, weil sie eine schöne Form hatten oder sich gut in der Hand anfühlten. Wo sind die Steine jetzt? Sie hatten einen Wert für mich, und nun? Alles, was entsteht ist wert, daß es zugrunde geht. Aber ich trage sie ja noch immer mit mir. Nicht mehr in der Tasche, aber in meinen Gedanken. Wenn ich jetzt an sie denke, dann haben sie immer noch einen Platz, bedeuten sie immer noch etwas. Und da ich einer der vielen Mittelpunkte der Welt bin, sind sie für die ganze Welt da. Die Natur sieht und erkennt sich mit den Augen der Menschen. Ein merkwürdiger Gedanke, den ich nie ganz begriffen habe, aber jetzt scheint er mir einleuchtend. Schau und sieh, was dich umgibt und du wirst Teil der Welt, lebst, erfüllst einen Zweck.
Ich sehe mich nach der Stelle um, an der ich am Abhang herunter zum Strand gekommen bin, versuche mir den Platz zu merken, um ihn dann wieder zu finden. Ein eiserner Mülleimer, der stolz in die Höhe ragt soll mir als Zeichen dienen: hier kommst du wieder zurück. Und das andere Zeichen ist: Ein MÜLLEIMER ist mir der Wegweiser zurück zum Ferienhaus, zurück zu den Menschen, zurück zur Gesellschaft. Alles kann ein Zeichen werden. Alles IST ein Zeichen, doch wofür? Lese, wer lesen kann.
In der Ferne erblicke ich einen Leuchtturm. Er ist kaum zu sehen, also ein gutes Ziel. Wer will schon wissen, wohin ihn der Weg führt?
Außer dem Rauschen ist nichts zu hören, kein anderes Geräusch dringt an mein Ohr. Ich versuche mich zu erinnern, wie die Lerchen eben noch sangen. Aber mein Denken wird von der Gegenwart erfüllt. Stimmen klingen in mir. Es ist, als rufe mich etwas an, als versuche mich durch das Brausen eine Nachricht zu erreichen. Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn?...
Und ist es nicht so? – Wie viele Nachrichten dieser Art verhallen ungehört, werden vom Rauschen des täglichen Ablaufs, vom Schreien der Reklame, der Wünsche und Verführungen übertönt und verklingen unwiederbringlich im Nichts. Hier am Meer beginne ich alles zu hören. Und alles spricht mich an. Weit am Horizont zieht ein weißer Dampfer vorbei, seinem eigenen Ziel entgegen, von dem ich nichts weiß, voller Menschen, die ich nicht kenne. Warum ist er in meinem Leben? Warum nehme ich ihn wahr? Was kann ich mit ihm anfangen? Welches Teil des Puzzles ist das? Aber er strahlt Ruhe aus. Ordnung. Auch wenn ich nicht Teil dieser Ordnung bin, ich nehme sie doch wahr, sie verleiht meinem Chaos einen Bezugspunkt.
Im Sand, der immer wieder von den Wellen durchnässt wird, zwischen den Steinen, den angespülten Algen findet sich hin und wieder eine Krebsschale. Die Scheren unversehrt, aber der Panzer aufgebrochen. Krebse haben mich schon immer fasziniert, vielleicht weil ich selbst einer bin. Aber ich habe noch nie einen lebenden Krebs gesehen. Wie so oft ist das, was uns anzieht längst verlebt. Das Eigentliche ist nicht mehr und nur noch eine Erinnerung. Eine Form, eine Ruine bleibt uns. Wir leben in einem Geisterhaus. Einmal frische Luft atmen, einmal die Bedeutsamkeit spüren, einmal an der Zeit beteiligt sein. Einmal einen lebendigen Krebs sehen. Doch Lebendes wird von der Zeit nicht wahrgenommen. Oder – vielleicht ist es auch so, daß es sich versteckt? Es schützt sich, will nicht mitgerissen werden im Strudel, in den Abgrund. Aber ein Baum wächst immer zur Sonne.
Der Leuchtturm war nun schon ganz nah. Ein einsames Bauwerk, ein letzter Vorposten der Menschheit zum Unbeherrschbaren hin. Aber auch er eine Krebsschale. Seine Funktion hatte er schon seit langem eingebüßt und war nun ein Denkmal für Zeiten, da Ordnung noch sichtbar war. Inzwischen wird das Meer mittels Funkwellen gezähmt, für das Auge unsichtbar. Mir gefällt es mehr, wenn ich sehe, was mich umgibt. Und – wenn ich es verstehe. Aber bin ich jetzt nostalgisch? Wollte ich nicht eben am Puls der Zeit fühlen? Leben fühlen? Was aber, wenn die Zeit eine falsche Richtung nimmt? Oder sind es nur wir Menschen und die Zeit wartet ab, bis wir es bemerken? Und was ist die richtige Richtung?
Ich werfe einen Blick zurück, woher ich gekommen war. Weit und offen liegt der Strand vor mir. Meine Fußspuren verlieren sich in der Ferne, der Mülleimer ist überhaupt nicht zu sehen. War das Meer am Anfang fast bedrohlich, nahm ich es jetzt kaum noch wahr. Es ist zu einem natürlichen Teil von mir geworden. Welcher Weg ist der richtige und wann wissen wir, daß wir den falschen gehen? – Es war Zeit umzukehren. Die Sonne senkte sich immer mehr zum Wasser hin. Erstes Gelb war auf den Wolken zu sehen. Bald würde sich der Himmel rotgolden färben. Dies blieb noch zu erwarten. Die Dämmerung.
Ich ging auf meinen eigenen Fußspuren zurück, versuchte, immer die gleiche Schrittgröße zu machen, um in den Fußabdruck zu treffen. Hin und wieder wurden die Abstände zwischen den Abdrücken kleiner, traten auf der Stelle. Hier hatte ich mir das Stück Treibholz angesehen, dort die Flasche untersucht, ob sie nicht eine Nachricht enthalte. Dann bemerkte ich zwischen all den verschiedenen Fußstapfen und Abdrücken eine andere Trittspur, deren Spitzen ebenfalls in zwei Richtungen wiesen. Also ist hier noch jemand auf seinen eigenen Abtritten zurückgegangen. – Was bilden wir uns doch oft für Originalitäten ein und gehen doch nur auf Fußspuren. Gut noch, wenn es die eigenen sind. Ich achtete nicht mehr darauf, welche Spuren wo verliefen und ging meinen eigenen, meinen gegenwärtigen Weg. Es gibt kein Zurück. Alles ist immer ein Vorwärts. Selbst wenn du umkehrst; glaub nicht, du kämest zurück! Folglich gibt es auch keinen falschen Weg. Es gibt nur Umwege. Irrtümer können nicht rückgängig gemacht werden, nur korrigiert. Fast ist es ein tröstlicher Gedanke. Falsche oder richtige Entscheidungen sind immer richtig, weil wir sie nur einmal treffen können. Und selbst wenn man die falsche Entscheidung fällt, mußte man sie fällen, um zu erkennen, daß sie falsch war. Wie ist das klein, womit wir ringen, was mit uns ringt, wie ist das groß.
Unmerklich hatte das Tosen nachgelassen. Jetzt wurde ich gewahr, daß sich der Wind gelegt hatte. Die Wellen schlugen nicht mehr mit aller Macht auf den Sand, sie wurden sanft angespült. Das Wasser kräuselte sich, rollte einige Sandkörner mit und glitt ebenso ruhig wieder zurück. Inzwischen hatten sich die Wolken intensiv gerötet. Die oberen glühten purpurn, die unteren gingen in ein strahlendes Orange über. Ich hatte meinen Mülleimer gefunden, also blieb ich an Ort und Stelle und wandte mich zur See. Warum ist der Untergang der Sonne so schön? Die Ruhe, die Farbenvielfalt. Und warum sind es im Herbst ähnliche Farben, die uns erfreuen? Die Wolken, die sich vorhin am Horizont zusammengeballt hatten, waren jetzt in kleine rote Flöckchen zersplittert und über den ganzen Himmel verteilt. Geheimnisvoll leuchtete zwischen ihnen das tiefe Blau des Himmels. Wie Inseln in einem märchenhaften Gegen-Meer nahmen sie sich aus. An den oberen Rändern zeichnete sich ein fein strahlender Goldrand ab. Dieser Sonnenuntergang hier ließ längst vergessene Museumsbesuche wieder auferleben. Ich erinnerte mich an Bilder alter Meister, wo das Himmlische Reich in den Wolken dargestellt wurde. Städte mit Goldkuppeln in der gleißenden Mittagssonne waren darauf abgebildet, aus ihnen stiegen Engel auf flammenden Leitern zur Erde herab. Als Kind liebte ich es, hinter Wolken solche Städte zu sehen und mir das Leben dort vorzustellen. Und manchmal schien die Zeit mich diese Kindheitsgefühle noch einmal auskosten lassen zu wollen. Plötzlich konnte es vorkommen, daß eine verlorengeglaubte Verbindung auferstand, daß eine Assoziation Vergangenes wieder in die Gegenwart holte. Ein Duft, ein Geräusch, ein Bild und die Zeit wurde ad absurdum geführt. Ich sah den Spaziergang vor mir, den ich eben gemacht hatte. Sah die Bilder, den Leuchtturm, die Steine, das Wasser, die Krebse und jetzt den Sonnenuntergang, versuchte alles tief in mir festzuhalten, um vielleicht irgendwann in der Zukunft eine Assoziation an den heutigen Tag zu haben, um der Zukunft die Möglichkeit zu geben, diesen Tag in meinen Gefühlen wiedererscheinen zu lassen. Nimm, was vergeht, in dein Herz auf.
Die Sonne war nun schon nicht mehr zu sehen, nur der Horizont war noch glühend rot gefärbt. Die Wolken über mir waren schwarz geworden. Der Zauber verflogen. Warm wehte ein leichter Wind vom Meer herüber. Ich drehte mich um und ging die Düne hoch; vor mir lag die Dunkelheit – ich tauchte darin ein.

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Harry Haller

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