Hesses Lesewelt

Vor kurzem hat der Kritiker Marcel Reich-Ranicki seinen „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“ im Magazin „DER SPIEGEL“ vorgelegt. Dieser Kanon ist „für den Unterricht“ gedacht und schließt Romane, Erzählungen, Gedichte, und andere Stücke vom Mittelalter über die Romantik und den Realismus bis zum Modernismus ein.

Reich-Ranicki gibt zu bedenken, dass jeder Kanon seine eigene Epoche und deren Auffassungen spiegele. Der Fan von Hermann Hesse mag auch an Hesses eigenen Kanon denken, der erst 1946 unter dem Titel „Eine Bibliothek der Weltliteratur“ veröffentlicht worden ist. Obwohl „niemand jemals die gesamte Literatur auch nur eines einzigen großen Kulturvolles völlig durchstudieren und kennenlernen könnte, geschweige denn die der ganzen Menschheit“ ist Hesses Kanon sehr viel umfassender angelegt als der Reich-Ranickis. Hesse schenkt in seinem Kanon, der unter anderem gedacht ist für den, der „mit dem Aufbau einer eigenen Bücherei beginnt“, der ganzen Weltliteratur Beachtung.

Einen besonderen Stellenwert in Hesses Kanon nimmt die Literatur des nahen und fernen Ostens ein, an die er durch seine Eltern und Großeltern gekommen ist. Zu einer Bücherei gehören laut Hesses Essay eine Auswahl aus den Upanishaden sowie eine Auswahl aus den Reden des Buddha, und danach folgen z.B. der „Gilgamesh,“ die Gespräche des Konfuzius, die Märchensammlung „Tausendundeine Nacht“ und eine Auswahl aus der klassischen chinesischen Lyrik.

Aber auch die eruropäische Literatur hat vieles zu bieten: An alter Literatur nimmt Hesse „vor allem“ die zwei epischen Gedichte Homers auf, vergisst aber auch nicht die Tragiker Äschylus, Sophokles, und Euripides. Unter den Römern schätzt Hesse nicht nur Horaz, Vergil, und Ovid, sondern auch Tacitus, Petronius, und Augustin. Besonders wertvoll aus dem Mittelalter findet Hesse zum Beispiel das „Dekameron“ von Giovanni Boccaccio (1313-1375), Dantes „Göttliche Komödie,“ die Sonette von Petrarca und die Gedichte von Michelangelo sowie die Heldensagen von der Tafelrunde des Königs Artus.

Doch damit nicht genug: Denn auch französische Autoren haben viel Lesenswertes geschrieben, besonders zu berücksichtigen sind Villon, Montaigne, Rabelais, Pascal, Molière, Voltaire, Rousseau, Stendhal, Baudelaire, und Balzac. Und auch Chaucer, Shakespeare, Swift, Defoe, Shelley, Keats, Thackeray, Dickens, und Wilde, die englischen Vertreter ihrer Zunft, sind nicht zu verachten. Dann stehen noch Cervantes, Villegas, und Calderon – alle spanisch – im Kanon und Gogol, Puschkin, Turgenieff, Tolstoi, und Dostojewskij, alle russisch. Hesse nimmt auch Werke aus anderen Ländern auf, zum Beispiel die Gedichte des Amerikaners Walt Whitman, die Märchen des Dänen Hans Christian Andersen, und einige Theaterstücke des Norwegers Henrik Ibsen.

Am Ende kommt Hesse zu der deutschen Literatur, die er „mit besonderer Liebe“ betrachtet. Natürlich befinden sich im Kanon die Dichter, die Hesse immer gelobt hat: Hölderlin, Novalis, Brentano, und E.T.A. Hoffmann. Von Johann Wolfgang Goethe nimmt Hesse die Gedichte, „Die Leiden des jungen Werther,“ „Novelle,“ „Faust,“ die Gespräche Eckermanns und einige Briefe auf. Was Luther, Schiller, Kleist, Chamisso, Droste-Hülshoff, Mörike, und Keller angeht, sind sich Hesse und Reich-Ranicki einig: Deren Werke tauchen in beider Kanones auf.

Wie gesagt, jeder derartige Kanon ist ein Produkt seiner Epoche. Oft hat Hesse auf spezifische Werke und Dichter verzichtet, weil es damals noch keine deutsche Übersetzungen gegeben hat. Auch fehlt in Hesses Kanon verständlicher Weise das ganze zwanzigste Jahrhundert – und nicht nur deutsche Schriftsteller wie Mann, Grass, und Hesse selbst, sondern auch Joyce, Proust, und Hemingway. Aber lassen Sie sich von Hesses „Eine Bibliothek der Weltliteratur“ begeistern, oder um es in Hesses eigenen Worten zu sagen: „Ehe die Meisterwerke sich an uns bewähren, müssen wir uns erst an ihnen bewährt haben.“

Autor:in

Rich

hhesse.de's USA-Korrespondent und Mitglied seit der ersten Stunde. Wenn er nicht gerade hier ist, findet ihr ihn auf Facebook oder Instagram.

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