Hermann Hesse und Martin Heidegger

Der Versuch einen Vergleich zwischen dem Denken Hermann Hesses und der Philosophie Martin Heideggers zu ziehen, ist bestenfalls erschreckend. Hesse war ein Schriftsteller, den man stets in Verbindung mit den Romantikern des neunzehnten Jahrhunderts setzt, Heidegger allerdings war ein oft umstrittener Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts, dessen Schriften die Grundlagen des späteren Existentialismus legten. Hesse selber würde dieser Versuch wahrscheinlich nicht gefallen:

"When, upon occasion of a visit in Montagnola in the summer of 1954,
conversation turned to Heidegger, Hesse could only shake his head slowly
in an obvious expression of antipathy."

["Als, bei einem Besuch im Sommer 1954 in Montagnola, man von
Heidegger sprach, konnte Hesse nur langsam den Kopf schütteln,
in einem offenkundigen Ausdruck von Abneigung."]

–Joseph Mileck, s. 305.

Trotz dieser Reaktion behaupte ich, diese zwei Denker hatten vieles gemeinsam. Beide lebten inmitten des Zusammenbruchs der Werte des damals vorherigen Jahrhunderts, und beide wurden stark geprägt von der Nazi-Zeit – auch wenn in ganz verschiedenen Weisen. Am wichtigsten ist, die Werke von beiden gingen um Selbsterkenntnis und Selbstechtheit.

Heideggers Biograph Rüdiger Safranski beschreibt Heideggers geistliche Herkunft so:

"Philosophisch kommt Heidegger von weither. Mit Heraklit, Platon, Kant
ging er um, als seien es seine Zeitgenossen. Er kam ihnen so nahe, daß er
das bei ihnen Ungesagte hören und zur Sprache bringen konnte. Bei
Heidegger ist noch die ganze wunderbare Metaphysik da, aber im
Augeblick ihres Verstummens; man kann auch sagen: im Augeblick, da
sie sich für etwas anderes öffnet."

Und:

"Heidegger begann als katholischer Philosoph. Er nahm die Heraus-
forderung der Moderne an. Er entwickelte die Philosophie eines
Daseins, das sich unter einem leeren Himmel und unter der Gewalt
einer alles verschlingenden Zeit vorfindet, geworfen und mit der
Fähigkeit begabt, das eigene Leben zu entwerfen. Eine Philosophie,
die den einzelnen in seiner Freiheit und Verantwortlichkeit anspricht
und den Tod ernst nimmt. Die Seinsfrage in Heideggerschen Sinne
bedeutet, das Dasein lichten, so wie man die Anker lichtet, um
befreit in die offene See hinauszufahren…"

–Rüdiger Safranski, s. 13.

Heidegger war 1889 geboren und studierete 1909-1911 Theologie und Philosophie in Freiburg, als er einige antimodernistische Artikel in katholischen Zeitschriften veröffentlichen liess. Zwischen 1911 und 1913 brach er aber seine Priesterausbildung ab und wechselte zu Philosophie und Geistes- sowie Naturwissenschaften. 1913 kam seine Promotion mit der Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus.

Sein berühmtestes Werk ist das 1927 erschienene Buch Sein und Zeit, in dem er seine Kernphilosophie vorlegte. Heidegger unterscheidet menschliche Existenz ("Dasein") und unmenschliche Präsenz ("Vorhandensein") voneinander. Bei der Geburt werde man in die Existenz "geworfen". Wenn der Mensch von Dingen absorbiert wird , werde seine Existenz unauthentisch. Der Mensch sei die einzige Kreatur, die dazu fähig sei, ihre eigene Existenz zu verstehen, aber sie verliere diese Fähigkeit wenn sie abgelenkt werde. Authentische Existenzen haben nur diejenigen, die vor "nichts und nirgendwo" Angst erfahren. Wenn ein Mensch dem Nichts gegenüberstehe, verschwinde die "Alltäglichkeit", die ihm seine Würde sonst abnehme.

Dagegen ziehen sich Themen wie Hoffnung, Liebe, und das Göttliche durch Hesses Prosa und Gedichte. Obwohl Hesse kein eigenes Philosophiewerk im traditionellen Sinn schrieb, war er dafür von der Frömmigkeit seinen Eltern und von dem altromantischen Idealismus stark geprägt. Trotzdem zeigen seine späteren Romane eine entscheidende moderne Richtung, und enthalten deswegen verschiedene Elemente, mit denen sich Heidegger auch beschäftigt hatte: besonders Hesses Demian und Der Steppenwolf.

Demian ist ein klassischer Roman der Selbstentwicklung. Das Buch reflektiert nicht nur Hesses gleichzeitig psychoanalytische Behandlung, sondern auch die eher allgemeine Begegnung des Menschens mit der Modernität. Dem Leser werden eine Reihe von Selbstdarstellungen Emil Sinclairs (Max Demian, Pistorius, Frau Eva) spendiert. Für Hesse spielen diese Figuren eine zentrale Rolle in der Entwicklung eines jungen Menschens, sie führen diese Menschen in neue Lebensphasen. Nach Heidegger allerdings seien solche Figuren gefährlich:

"These images hardly represent true self-projection. Heidegger too deals
with this phenomenon of Wunschbilder, though not, of course, with their
psychoanalytical implications, and contrasts them with true self-projection."

["Diese Bilder stellen keineswegs echte Selbstprojektion dar. Auch Heidegger
setzte sich mit diesem Phänomen der Wunschbilder auseinander, doch
natürlich nicht mit ihren psychoanalytischen Implikationen, und stellt
sie echter Selbstprojektion gegenüber."]

–Publications, s. 676.

Dennoch sind Hesses und Heideggers Vorstellungen gleich. Man muss solche Figuren von Hesse wie Demian und Pistorius innerhalb eines belletristichen Rahmens betrachten, worin sie von Anfang an ein fiktives Dasein haben, und zwar auf dem selben Niveau des Hauptcharakters Emil Sinclair. Man mag sich besonders an die Szene in Demian erinnern, wo Sinclair und Pistorius zu einem Bruch kamen:

"…Nur allmählich kam ich zum Nachdenken. Meine Gedanken hatten
alle die Absicht, mich anzuklagen und Pistorius zu verteidigen. Und alle
endeten mit dem Gegenteil…Seine Leibe war am Bilder gebunden, welche
die Erde schon gesehen hatte, und dabei wußte er im Innersten, selber
wohl, daß das Neue neu und anders sein, daß es aus frischem Boden
quellen und nicht aus Sammlungen und Bibliotheken geschöpft werden
mußte. Sein Amt war vielleicht, Menschen zu sich selbst führen zu
helfen, wie er es mit mir getan hatte. Ihnen das Unerhörte zu geben,
die neuen Götter. war sein Amt nicht."

Im Gegensatz zu Hesses bereits erwähnten Abneigung gegen Heideggers Philosophie, könnte er in diesem Beispiel keine genauere Bezeugung von Heideggers Aufruf gegen eine unauthentische Existenz hervorbringen.

Im Steppenwolf setzt sich Hesse mit dem Streit zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen auseinander, oder in Heideggers Terminologie, mit dem Zwiespalt des Daseins (Harry Haller) und des Vorhandenseins (Steppenwolf). Der Leser findet auch in diesem Roman einen anderen Begriff, der wichtig für Hesse und auch Heidegger war: die Zeit. So Safranski:

"Der Tod, sagt Heidegger, ist nicht das Ende des Lebens, sondern das
Sein zum Ende, er steht uns nicht nur bevor als das letzte Stündlein,
sondern er steht in unser Leben herein, da wir doch von unserem
Sterben wissen. Der Tod ist die Möglichkeit, die uns ständig
bevorsteht, und als solche die Möglichkeit der Unmöglichkeit der
eigenen Existenz. Obwohl alle vom Tod betroffen sind, muß doch
jeder seinen eigenen Tod sterben."

und weiter:

"…Der Bezug zum Tod ist das Ende jeden Bezugs. Das Denken des
Todes ist das Ende jeden Denkens. Beim Denken des Todes will
Heidegger dem Geheimnis der Zeit auf die Spur kommen: Der Tod
ist nicht ein Ereignis >in< der Zeit, sondern das Ende der Zeit. Als
Ereignis >in< der Zeit erscheint der Tod, wenn ich den Tod der
anderen erfahre. Dann stehe ich unter der Suggestion der verräum-
lichten Zeit. Der Zeitraum ist so geräumig, daß ich, nach dem
Ableben des anderen, immer noch Platz darin habe."

–Safranski, s. 189.

Hesses Gedanken zu der Beziehung zwischen der Zeit und dem Tod befinden sich im Magischen Theater. Wenn die Zeit der eigenen Existenz genau entspricht, so wie nach Heidegger, darf eine unsterbliche, also unvergängliche, Figur wie Mozart frei in Harry Hallers Zeitraum einkommen. Diese "Geräumigkeit" der Zeit spiegelt sich in der Gestalt des Magischen Theaters, durch die vielen Spiegeln und Kämmerlein, die Heideggers verschiedene "Möglichkeiten" des Todes suggerieren.

Doch sollte der Leser Hesses Roman nicht als eine blosse Verwendung bzw. Studie von Heideggers Philosophie ansehen. Dennoch beschäftigten sich Hesse und Heidegger mit gemeinsamen Themen, die jeden Denker des frühen 20. Jahrhunderts interessiert hätten. Hesse schrieb einen modernen Roman, der seinen Ursprung in privaten Ängsten und Ereignissen hatte, auch wenn er sich später zu einem Kult-Buch entwickelte. Heidegger schrieb allerdings ein Manifest für
alle, das aber eher zu dem Einzelnen sprach.

Über Hesse und Heidegger, den Dichter und den Denker, wird immer noch debattiert. Man zweifelt einerseits an Hesses literarischer Fähigkeit, anderseits ist Heideggers frühe Assoziation mit den Nazis suspekt. Für beide spielte aber die Frage der menschlichen Existenz eine zentrale Rolle.

Literaturnachweis:
Joseph Mileck, Hermann Hesse and his Critics: The Criticism and Bibliography of Half a Century, The University of North Carolina Press, 1958.

Publications of the Modern Language Association, 1952.

Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland: Heidegger und seine Zeit, Fischer Taschenbuch Verlag, 1997.

Autor:in

Rich

hhesse.de's USA-Korrespondent und Mitglied seit der ersten Stunde. Wenn er nicht gerade hier ist, findet ihr ihn auf Facebook oder Instagram.

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