Hermann Hesse auf der Mathildenhöhe


„Ein Sturm von Schönheit und Jugend“ – so überschreibt die Süddeutsche Zeitung ihren Bericht. Und in der Tat: das Erscheinungsbild ist geradezu triumphal. Kaum ein Künstler oder Denker von Rang und Namen, der von dieser Bewegung nicht berührt worden wäre, der nicht mitgerissen worden wäre vom nietzscheanischen Ideal des „neuen Menschen“: Ob Hesse, Hauptmann, Rilke, George, ob Magnus Hirschfeld oder Otto Gross, Max Weber oder Heidegger, ob Kandinsky, Jawlensky, Mary Wigman, Franz Marc – sie alle und viele andere wurden von jenem élan vital der Jahrhundertwende ergriffen, der zu einer Kulturblüte führte, die heute mit der klassischen Geniezeit verglichen wird. Was lange als abseitig belächelt wurde, erweist sich im Rückblick als ein Aufbruch, der das 20. Jahrhundert bewegt hat, als eine „andere Moderne“, die den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt auf eine geistig-humane Weise zugleich ergänzt und berichtigt.

Damit ist schon angedeutet, dass die Ausstellung in Darmstadt über den engeren Bereich der Lebensreform hinausgreift und ein Panorama der kulturellen Erneuerung bietet, die in der Tat von Nietzsche ausging, dem philosophischen Lebensreformer. Er wird, mit einem eigenen „Tempel“, in Darmstadt in die Mitte gestellt. Das bedeutet eine Überhöhung und Verschiebung, die der geschichtlichen Wirklichkeit denn doch nicht ganz gerecht wird. Die eigentlichen Praktiker und Pioniere, die Propheten und Vorkämpfer der Lebensreform bleiben weitgehend verdeckt im Hintergrund: die großen Naturheiler wie Kneipp, Bilz, Lahmann, Rikli, Just usw., die Naturapostel wie Diefenbach und Guttzeit, die Sexual- und Gesellschaftsreformer wie Magnus Hirschfeld, August Forel, Otto Gross, die prophetischen Dichter wie Christian Wagner und Gusto Gräser. (Gräsers programmatisches Ölbild DER LIEBE MACHT nimmt immerhin einen Ehrenplatz ein!)

Die Darmstädter Kolonie Mathildenhöhe war eine Gründung des Großherzogs von Hessen aus vorwiegend wirtschaftlichem und künstlerischem Interesse: Lebensreform von oben. Entsprechend ist die Perspektive der Ausstellung eine vorwiegend ästhetische und bürgerlich-hochkulturelle. Die „Lebensreform von unten“, die mit Schweiß und Tränen um ihre Existenz, ihr Überleben kämpfte und den eigentlichen Boden geschaffen hat, den Humus, der künstlerische Blüten erst ermöglichte, kommt kaum ins Bild. Noch weniger die politische Bewegung, die im antimilitaristischen Widerstand und im revolutionären Aufbegehren ihre Blutopfer gebracht hat.

Trotz dieser Einschränkungen: Diese Ausstellung ist ein Ereignis, das sich niemand entgehen lassen sollte, der etwas verstehen und fühlen will vom Befreiungssturm um 1900, der sich bis heute fortsetzt in den modernen Alternativbewegungen.

Am 19. Januar 2002 soll es auf der Mathildenhöhe ein Symposion zum Thema geben.

Nähere Informationen zur Ausstellung gibt es unter:
www.dielebensreform.de und
www.darmstadt.de/kultur/museum/instmath.htm

E-mail: instmath@stadt.darmstadt.de.
Tel.: 06151 / 13-3738 und 13-2778

Im nächsten Artikel: Äußerungen zu Hermann Hesse im Katalog zur Ausstellung.

Dank für diese Informationen an Herrn Hermann Müller.

Autor:in

timo

Gründer und Betreiber von hhesse.de seit 1998

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