Wärmender Wein und erschauerndes Braun

Elegie im September

Feierlich leiert sein Lied in den düsteren Bäumen der Regen,
Über dem Waldgebirg weht schon erschauerndes Braun.
Freunde, der Herbst ist nah, schon äugt er lauernd am Wald hin;
Leer auch starret das Feld, nur von den Vögeln besucht.
Aber am südlichen Hang reift blau am Stabe die Traube,
Glut und heimlichen Trost birgt ihr gesegneter Schoß.
Bald wird alles, was heut noch in Saft und rauschendem Grün steht,
Bleich und frierend vergehn, sterben in Nebel und Schnee;
Nur der wärmende Wein und bei Tafel der lachende Apfel
Wird noch vom Sommer und Glanz sonniger Tage erglühn.
So auch altert der Sinn uns und kostet im zögernden Winter,
Dankbar der wärmenden Glut, gern der Erinnerung Wein,
Und von zerronnener Tage verflatterten Festen und Freuden
Geistern in schweigendem Tanz selige Schatten durchs Herz.

(c) Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main

Dieses Gedicht stammt aus der Frühphase Hesseschen Schaffens, er schrieb es im September 1913. Dem durchschnittlichen Leser erscheint dieses Gedicht auf den ersten Blick wie ein bloßes „Vergnügungsstück“, in dem der junge Hesse dem verschwindenden Sommer hinterher trauert. Aber schon im Titel fordert ein einziges Wort die totale Aufmerksamkeit des vorsichtigen Lesers verlangt: „Elegie“.

Eine Elegie ist eine wichtige und auch spezifische Form in der Dichtung, die ihren Ursprung in der Antike findet. Für die griechischen und römischen Dichter war eine Elegie irgendein Gedicht, das in elegischen Distichen geschrieben war:

x ` ` x ` ` x ` ` x ` ` x ` ` x ` ` (6-hebiger Daktylus)
x ` ` x ` ` x ` ` x ` ` x ` ` (5-hebiger Daktylus)

Die Dichter in der Antike benutzten diese Form, um Gedichte über verschiedene Themen zu verfassen. Dabei hatten sie die Elegie nur als eine Form gemeinsam, die Stimmungen der Gedichte waren unterschiedlich, handelten meistens aber von Verzweiflung. Die Elegie hat bis in die früheren Jahre der deutschen Dichtung überlebt, allerdings nur als ein gemeinsamer Ausdruck von persönlicher Verzweiflung, ohne die präzise Form ihrer Vorfahren.

Die Elegie hat 1795 ihre erste vollkommene deutsche Form von Friedrich Schiller bekommen. In seinem Gedicht „Der Spaziergang“ beschreibt Schiller nicht nur einen Spaziergang in die Umgebung von Jena, sondern auch die menschliche Geschichte. Laut dem amerikanischen Hesse-Forscher Theodore Ziolkowski legte Schiller die „klassische deutsche Elegie“ fest: ein Gedicht aus elegischen Distichen, die einen Rahmen bilden, der einen meditativen Kern umfasst. Von späteren deutschen Dichtern wurde diese Form noch weiter entwickelt: Goethe, Hölderlin, Rilke, Trakl.

Da kommen wir zu Hermann Hesse und seiner „Elegie im September“. Klar fängt dieses Gedicht im Schwanken zwischen Verzweiflung und Optimismus die elegische Stimmung ein, durch solche Paarungen wie „Feierlich“/“Lied“ (1) und „zögernden Winter“/“wärmenden Glut“ (11-12). Die September-Szene erinnert den Leser an Schillers „Der Spaziergang“, das auch im September (1795) geschrieben wurde. Und wie Hesse die Stimmung der Elegie bewahrt, setzt er auch die Form der Elegie ein: durch die Distichen (1-2, 3-4, 5-6, 7-8, 9-10, 11-12, 13-14) und durch den meditativen Kern (11-14). In diesen Zeilen werdet sich Hesse von der Natur draußen zur Seele drinnen.

Hesses „Elegie im September“ zählt zu den Gedichten der deutschen Elegie-Tradition. Diese Gedichte teilen eine gemeinsame Form und handeln von einer beunruhigten Menschheit, die sich zwischen zeitlichen Phasen findet. In diesem Sinn passt die „Elegie im September“ genau zu diesem Punkt in Hesses eigenem Leben: nach der Kindheit, nach den ersten Erfolgen als Schrifsteller, noch vor dem ersten Weltkrieg und seiner persönlichen Krise 1914-1919.

Autor:in

Rich

hhesse.de's USA-Korrespondent und Mitglied seit der ersten Stunde. Wenn er nicht gerade hier ist, findet ihr ihn auf Facebook oder Instagram.

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