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Kampf mit sich selbst

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Sie geht durch die dunklen Straßen. Es ist kalt. Sie ist nicht warm angezogen. Mühsam versucht die den Pulli über ihren Bauch zu ziehen. Aber es geht nicht. Er ist zu kurz. Sie fragt sich, ob es wohl schlimm für das Baby ist, denn inzwischen kann sie kaum weiterlaufen, so sehr schmerzt die Kälte. Sie sieht alles verschwommen. Doch so sehr sie auch versucht auf die Umgebung zu achten, sie kann einfach nicht aufhören zu weinen. Sie weicht vereinzelten Leuchtreklamen aus, kann das grelle Licht nicht vertragen. Sie ist ganz alleine, nicht mal Autos fahren vorbei. Es ist auch mitten in der Nacht. Die meisten Leute schlafen. Wie gerne würde sie jetzt auch schlafen, vergessen. Als sie auf einer Brücke steht, denkt die wie einfach es doch wäre zu springen. Aber sie könnte das nicht tun. Nicht mit dem Baby. Sie geht weiter bis zu dem Wartehäuschen einer Bushaltestelle und stellt sich unter, um sich vor dem Wind zu schützen. Langsam wird sie wieder klar im Kopf und begreift, wie blöd es war einfach ihre Tasche zu packen und zu gehen. Wie konnte sie nur so überstürzt aufbrechen - ohne die geringste Ahnung wohin. Blinde Verzweiflung. Jetzt steht sie also hier in der kalten Nacht und kennt niemanden, zu dem sie gehen kann. Freunde und Familie leben 800 km von hier entfernt. Keine Chance sie zu erreichen. Sie hat sogar ihre Kreditkarte vergessen.
Sie kam hierher wegen der Liebe ihres Lebens. Und das ist nun auch der Grund, warum sie so schnell wie möglich weg muss. Am Anfang freuten sie sich noch gemeinsam über ihre Schwangerschaft. Doch wie sehr hat er sich verändert – die letzten Monate. Er zog sich vor ihr zurück kämpfte schweigen seinen bitteren Kampf.
Sie friert jetzt noch mehr als vorher. Sie weiß, dass sie keine andere Möglichkeit hat, als sich zu orientieren und zurückzugehen. Sie sieht auf den Busfahrplan. Der Bus fährt sogar ungefähr in ihre Richtung, nur nachts fährt er gar nicht. Sie meint sich zu erinnern, wo die Hauptstraße war und geht zurück. Der Schnee knirscht unter ihren Schuhen. Die Luft riecht rein. Es wäre ihr lieber, wenn die Welt sich nackt und hässlich zeigen würde anstatt sich unter einer Schneedecke zu verstecken.
Sie hört hinter verschlossenen Türen einen Säugling schreien – oder bildet es sich zumindest ein. Sie stellt sich die fürsorglichen Eltern vor. Die Mutter, die ihr Baby sanft in ihren Armen wiegt, obwohl sie todmüde ist und seit Wochen nicht mehr durchgeschlafen hat. Der Vater, der eine Flasche für das Kind macht und nicht daran denkt, dass er in drei Stunden zur Arbeit fahren muss.
Sie weoß. dass sie bald in dergleichen Situation ist. Nur wird ihr Kind seinen Vater nicht kennen.
Sie entdeckt eine U-Bahnstation. Sie geht schneller, dort wird es wärmer sein. Bald ist sie zu Hause. Wenn es doch nur ein Zuhause wäre…
Sie steht vor der Haustür steckt den Schlüssel ins Schloss, wartet eine paar Sekunden und schließt auf. Er steht im Flur und sieht sie besorgt an.
„Wo warst du?“
Sie antwortet nicht und bleibt ganz nah an der Tür stehen.
Als sein Blick auf ihre Reisetasche fällt, beginnt er zu verstehen.
„Wie konntest du so gedankenlos sein? Du gefährdest dich und das Kind.“
„Und wie wichtig ist dir, dass es uns gut geht?“

Er hatte sich langsam von ihr entfernt, war seltener in ihrer gemeinsamen Wohnung. Hatte tausend Entschuldigungen, um nicht mit ihr zu reden. Aber er sprach nie aus worum es ging. Irgendwann verstand sie, was sie wohl die ganze Zeit gefühlt hatte, aber nicht wahrnehmen wollte: er wollte diese letzte endgültige Bindung nicht eingehen. Verantwortung für das Kind übernehmen. Das Gefühl haben, nicht mehr zurück zu können. Seine Freiheit verlieren.
Er wusste, dass er sie mit seinem Verhalten dazu bringen würde, das Richtige zu tun. Er wusste, dass sie nicht abtreiben würde. Sie könnte das sich und ihm nicht verzeihen. Auch in diesem Fall wäre eine weitere gemeinsame Zukunft ausgeschlossen. Er wusste, sie würde gehen. Nur hatte er nicht so schnell damit gerechnet. Er wollte sie behalten solange es ging.

Er verschwindet in der Küche. Sie merkt wie erschöpft sie ist und legt sich aufs Sofa. Er kommt mit einer Tasse Tee, einer Wärmflasche und einer Decke. Als er sie zudeckt, achtet er darauf sie nicht zu berühren. Sie sieht so schwach und verletzt aus, aber er will seine Gefühlen nicht nachgeben. Das würde es nur noch schwerer machen. Er weiß, dass es seine Schuld ist, aber er kann es nicht ändern.
„Ich werde morgen zu meinem Bruder fahren. Meine Sachen sind spätestens in einem Monat weg. Versprich mir, dass du nie versuchen wirst, das Kind zu sehen. Du kannst nicht immer, wenn es dir gerade passt den Teilzeitpapa spielen.“
Er kämpft gegen die aufsteigende Trauer über diese Endgültigkeit an und sagt: „Ich verspreche es.“ Er sieht sie lange an. „Du musst mir glauben, dass ich dich immer noch liebe.“
Sie sieht weg, versucht ihre Tränen zu unterdrücken. „Das Schlimmste ist, dass ich das weiß.“

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wortkarg

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