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Die Offenbarung

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Draußen vor dem Fenster singt eine Amsel. Durch das offene Fenster strömt die weiche Sommerluft herein und vermischt sich mit dem Krankengeruch, der über dem Raum liegt wie eine nasse Hundedecke.
Die Abendsonne taucht das Zimmer in ein goldenes Licht, in dem Myriaden winziger Staubpartikel tanzen.
Er schließt die Augen. Seine Hand streicht unruhig über die Bettdecke. So still. Nur die Amsel und das leise Blubbern der Apparate. Sein rasselnder Atem. Er verspürt keine Schmerzen. Auch damals, als sie vor seiner Tür stand und er sich blitzartig in sie verliebte, hatte eine Amsel gesungen.
Er hört Schritte auf dem Gang, das Öffnen der Tür. Die Krankenschwester erscheint, die sein langsames Sterben überwacht. Die mit unbewegtem Blick den Rhythmus seines Herzens vom Bildschirms abliest, ihm Brei in seinen Mund drückt und seine Windeln wechselt. Wie er es hasst, ihr hilflos ausgeliefert zu sein!
Er wünscht sich, die Amsel würde endlich verstummen und die Bilder der Erinnerung verlöschen. Es gab Dinge, die man besser vergaß. Ihr Gesicht wie das einer Madonna. Das fröhliche Lachen in den dunkelbraunen Augen. Ihre Haut so weich. Das helle Haar. Die innige Vertrautheit.
Erinnerungen aus der Vergangenheit keimen auf. Wenn er damals nicht ...

Reiß dich zusammen.

Wenn er aufstehen könnte, würde er der Amsel den Hals umdrehen, damit die Bilder verschwinden. Doch er konnte sich nicht bewegen. Schlaganfall. Dann die Lungenentzündung. Er war fast 76 Jahre alt. Lebensgefährliche Komplikationen. So blieb ihm einzig der Blick in die Vergangenheit, der ihn zu Tränen rührten.

* * *

In ihrem Traum streckt er Hilfe suchend seine Hände nach ihr aus, flüstert ihren Namen. Sie beugt sich zu ihm hin. »Ja?«
»Ich wollte dich noch einmal sehen. Ich bin glücklich, unendlich glücklich, dass du da bist.«
Sie entgegnet nichts.

Sie erinnert sich.

Vor fast fünfzig Jahren haben sie sich getroffen. Eine gemeinsame Freundin hatte sie einander vorgestellt. Er öffnete die Tür, vor der sie stand, und schaute ihr in die Augen. Es durchdrang sie wie ein Blitz, rührte sie wie ein Donnerschlag. Bis zu diesem Augenblick war sie überzeugt, dass es so etwas wie „Liebe auf den ersten Blick“ unmöglich geben konnte.
Wie bei vielen Fragen, die das Leben ihr stellte, fand sie keine Antwort oder wählte die falsche. So täuschte sie sich hier ebenfalls.
Sie erlebten in der kurzen Zeitspanne ihres Zusammenseins Augenblicke, an die sie sich lange lebhaft erinnerte. In seiner Gegenwart wurde sie wie er, übermütig, ausgelassen und überblickte nicht die sich daraus entwickelnden Folgen. Und er begriff erst Jahre später, dass er das junge Mädchen überfordert hatte, ihre Seele verletzte, ihr Herz brach. Womöglich wäre beider Zukunft anders verlaufen, wenn …
Ja, wenn …

Aber das sind Vermutungen.

Nach mehr als fünf Jahrzehnten hatte sie sein Angedenken tief im Unterbewusstsein vergraben. Er hingegen verlor sie niemals aus seiner Erinnerung. Sein Erscheinen in ihrem Traum holte ihn in ihr Bewusstsein zurück. Auf einmal war der Blick in die Vergangenheit gegenwärtig. Sie wurde sich in diesem Moment darüber klar, dass er immer in ihren Gedanken zugegen sein, dass er ihren Frieden stören würde. So schlugen Überraschung, Erstaunen, Freude und Mitteilsamkeit nach kurzer Zeit in Ablehnung, Missbilligung und Zurückweisung um.
Es endete konsequent in vollständigem Rückzug.
Erinnerungen ausradiert.

* * *

Sie nimmt seine Gegenwart im Raum buchstäblich wahr. An diesem schwülheißen Sommertag zerstückelt der heruntergelassene Fensterladen die Erinnerungen in wenige helle Punkte der Freude und in Überfülle zu dunkle Streifen der Traurigkeit. Durch das angekippte Fenster hört sie eine Amsel zwitschern. »Langsam bricht der Herbst des Lebens an«, geht es ihr durch den Sinn. Unbewusst wird ihr bewusst, dass es sein letzter Sommer sein würde.
Es mangelt ihr an den passenden Worten. Sie würgt den Kloß in ihrem Hals hinunter, hängt den aufkeimenden Erinnerungen nach. Das Chaos der über sie hereinbrechenden Gedanken verwirrt ihren Geist.
Er streckt die Hände nach ihr aus und flüstert ihren Namen. Sie richtet sich auf, beugt sich zu ihm hin und spricht zu ihn, als wäre er körperlich zugegen: »Verlier jetzt nicht die Fassung. So schwer es mir fällt, aber ich muss dir sagen …«

Er unterbricht sie. »Ich liebe dich! Du hast keine Ahnung, wie unglücklich ich war, als du mich verlassen hast. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, empfand bittere Reue, dennoch kamen mir weder die passenden Worte über die Lippen, noch war ich zu Handlungen imstande, um die Geschehnisse aufzuhalten. Über Jahre hinweg fühlte ich mich schuldbeladen. Ich bin so erleichtert. So … befreit.«

Seine Worte laufen ihr heiß und kalt über den Rücken, betäuben sie für einen Augenblick.
Langsam kommt sie zu sich, räuspert sie, öffnet ihren trockenen Mund, um ihm zu antworten. Bevor sie Worte findet, holt er Luft und stammelt: »Du warst meine … meine große Liebe. Ich wollte, ich wollte … dich … heiraten. Wenn ich gewusst hätte … «

Der Rest des Satzes bleibt unausgesprochen, verschwiegen wie Vieles in der Vergangenheit.
Sie ist verwirrt, sprachlos.
Fassungslosigkeit raubt ihr die Worte.
»Ich wollte dich heiraten.« Und nach einer quälenden Gedankenpause: »Glaubst du mir?«
Er schließt die Augen, hält sich am Fußende des Bettes fest, wartet ab.

Sie lässt sich Zeit mit einer Antwort.
Beide schweigen.
Einzig das Ticken der Uhr zerteilt die Stille in kleine Stückchen und erinnert sie daran, dass Zeit unablässig vergeht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit besinnt sie sich und flüstert fast tonlos: »Ja. Ich glaube dir.«
Dann richtet sie sich auf, stellt ihre Füße auf den Boden, erhebt sich.
»Geh nicht! Bleib bei mir! - Endlich habe ich dich wieder, bitte bleib bei mir, - bitte!«
»Ist ja gut«, murmelt sie und setzt sich wieder auf das Bett. Er wendet den Blick nicht von ihr ab. Er vergewissert sich, dass sie bleibt.

Mit dem Halbstundenschlag der nahen Kirchturmuhr löst er sich in ihrem Traum langsam auf, wird durchsichtig wie verwehende Rauchschwaden. Sie blickt durch die Vergangenheit hindurch, die Tapete und die Möbel hinter der sich auflösenden Gestalt nehmen wieder ihre Form an. Die Erinnerungsschwaden verflüchtigen sich, er verschwindet. Stumm verweht ihr Traum.
Sie erhebt sich, tritt ans Fenster, hört der Amsel zu und hängt ihren Gedanken nach. Dass er viele Jahrzehnte an sie gedacht hat, überrascht sie. Das kurze Zusammensein mit ihm war für sie ein einschneidendes, prägendes Erlebnis gewesen, doch dass es ihn bis ins hohe Alter beschäftigte, das hatte sie nicht erwartet.

Der Traum lässt ihr keine Ruhe.
Nach einigen Tagen der Unruhe recherchiert sie im Internet.

* * *

Hinter der angelehnten Tür vernimmt sie die Schritte der Krankenschwester und hört das Gestöhne des Patienten aus dem Nebenzimmer, durch das halboffene Fenster die schnellen, scharfen Stimmfühlungslaute der Amsel.
Seine qualvollen Atemgeräusche nimmt sie zunehmend lauter in ihre Ohren wahr. Vorsichtig streicht sie über die wenigen, dünnen, weißen Haare auf seinem Kopf. Dann zeichnet sie sanft die Konturen des Gesichts mit ihren Fingern nach und gibt ihm einen zarten Kuss auf die Stirn.
Behutsam unterbricht sie die Sauerstoffversorgung.
Zögernd legt sie eine Hand auf seine Brust, schaut in sein Gesicht.
Kurze Zeit später wird seine Atmung schwer und mühevoll. Er ringt nach Luft. Sein Keuchen geht über in eine Schnappatmung.
Er reißt die Augen auf, krallt die Finger in die Bettdecke.
Seine Lippen formen geräuschlos ihren Namen.
Er bäumt sich kurz auf.
Dann lässt er los.

Stille breitete sich aus. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Sie wartet eine Minute ehe sie das Zimmer verlässt.

Jetzt …
ist sie Witwe.

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Autor:in

Klaus D. Andreß

* 08.08.1947 in Arnstadt/Bittstädt; Mittlere Reife; Studienabschlüsse in Hochbau, Städtebau, Soziologie; 2. Staatsprüfung; praktische Arbeit in Architektur- und Ingenieurbüros (Hensen, Görres & Schmitz-Aachen), Stadt verwaltungen Alsdorf, Aachen, RP Köln. Fachgebiete: Stadtplanung, Bau- u. Planungsrecht. Steckenpferde: Schach, Poker, Schreiben / Prosa, Lyrik, Kochen, Beobachten. Ich liebe Stille, (klassische) Musik, Entspanntheit, sachliche und wertschätzende Gespräche-

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