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ALLES IN MEINEM KOPF

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Jeden Tag werde ich mir diese erstaunliche Geschichte vorlesen, bis mir bewusst ist, dass sie sich zugetragen hat.

Was sich an jenem Abend ereignet hat, das strapaziert die Vorstellungskraft eines jeden Menschen.

* * *

IN MEINEM KOPF

Dein Antlitz,
das verbannte Bild,
gegenwärtig.
Ich sehe es
vor meinen Augen.

Dein Lachen,
der gelöschte Klang,
vergnüglich klingt er wieder
in meinem Ohr.

In der Blüte des Lebens,
der Rose Blattwerk welk,
das Sonnenlicht erloschen.

Jahre folgten,
finster wie die Nacht,
wo strahlend’ Glanz
sich zeigen sollte.

Ich seh’ mich stehn,
vor deiner Tür.
Öffnest du mir nicht?
Reichst mir nicht
die Hand zum Gruße?
Hör´ ich dich nicht sagen:
»Tritt ein mein Freund.«
Schenkst mir nicht
ein vom roten Wein?

Lauschest du nicht
meinen Worten
mit geneigtem Kopf?
Du redest doch mit mir!
Das alles nur
in meinem Kopf?
Das kann nicht sein!

Ich bin verwirrt,
ich schau dich an,
spüre deinen Blick,
der sich mit meinem kreuzt!

Du sollst gestorben sein?
Nicht mehr im Leben?
Trügen meine Augen mich?

Nein!
Ich sehe dich!
Blick in dein Gesicht!

Rinnt eine Träne
der Erinnerung
über mein Gesicht?
Weine ich um dich?

Seh’ ich ein Irrlicht?
Seh’ ich dich?
Ich bin verwirrt,
ich weiß es nicht.


SPRACHLOSIGKEIT

Wenn die Erde zu meinen Lebzeiten aufhören würde, sich um die Sonne und sich selbst zu drehen, werde ich diesen Moment nicht vergessen, in dem sie in mein Leben tritt. Sie sitzt an meiner Seite, bildhübsch, aufregend, vertraut. Ich bin aufgewühlt, fassungslos.
Wortlos und ergriffen schaue ich in das Antlitz neben mir. Ich sehe sie an, blicke in ihre Augen, in die ich vor ungezählten Jahren geschaut habe und erinnere mich ihrer Tränen, als sie gestorben ist. Ich blicke in ihre Augen, als wäre es das erste Mal in meinem Leben. Ich erlebe sie wie vor Jahrzehnten. Ähnlich Quecksilber, glanzvoll, flüssig und greifbar, dennoch unmöglich festzuhalten.
Wahrhaftig!

Meine Ruhe, die Ausgeglichenheit, löst sich auf, verdampft buchstäblich. Darunter bin ich roh. Mein Verstand hört allmählich auf zu arbeiten, leert sich, flüchtet ins Nichts, als könnte er die Trauer aus der verdrängt geglaubten Vergangenheit nicht verkraften. Er setzt ein, zwei Herzschläge lang aus, eilt aufgewühlt los, stolpert über sich und bleibt an den scharfen Kanten der Erinnerung hängen. Im gleichen Moment sprudelt ihr Name aus der verborgenen Tiefe und explodiert in meinem Schädel. Das Blut flieht aus dem Kopf. Halt suchend umklammere ich die Tischkante. Meine Gelassenheit gerät ins Wanken, rutscht kreischend aus der vorgegebenen Rille in eine andere. Die aufgewühlten Sinne dürsten nach einer Ohnmacht. Meine Disziplin hindert mich daran, die Fassung zu verlieren. Mit allen Mitteln versuche ich, sie zu bewahren.
Bisher war mein Leben ungestört. Ich hatte die Erinnerung ausgesperrt. Schlagartig ist das Andenken an den geliebten Menschen gegenwärtig.
In meinem Kopf!
Die Zeit scheint zu zerfließen, sich zu dehnen wie ein langes Gähnen. Verharrt wie in Spiritus eingelegt.
Dauerhaft.
Gibt Raum für Gedanken und Erinnerungen.
Es ist der Augenblick der Wahrnehmung.

Aus dem Meer der Zeit schwappt eine Welle aus der Vergangenheit über den Strand der Gegenwart, schwemmt im Zurückfluten den Sand des Vergessens von den Steinen der Geschichte, legt verschüttete Erinnerungen frei, die mir uralt erscheinen, wie das Licht der Sterne am nächtlichen Himmel.
Das Andenken zeichnet mit zögerlichen Federstrichen vage Konturen des verdrängt geglaubten Bildes in meinen Kopf und die Erinnerung füllt mit wehmütigen Pinselschwüngen die verschwommen Umrisse. Die Gedanken verweilen in diesem Augenblick. Reihen sich hinter der Erinnerung ein, betrachten gebannt das entstehende Bildnis in meinen Kopf.
Mauern weichen zurück, um unendlichen Raum für die Schweigsamkeit zu schaffen. Lautlosigkeit dehnt sich aus, füllt das Vakuum zwischen den Wänden, der Decke, dem Boden. Sie überschwemmt den Raum, ergießt sich in das Gebäude, schwappt über den Vorplatz, flutet in die Straße, brandet über die Stadt und wird die Welt ertränken, bevor es Abend ist.
Die Geräuschlosigkeit dröhnt in meinen Ohren.
Betäubt betrachte ich die sich auflösenden Wände und den Fußboden, der sich in die Vergangenheit wellt. Die Decke öffnet sich, Zeitlosigkeit drängt machtvoll herein. Von einem Moment auf den anderen bin ich gedankenfrei. Nur der Schmerz bleibt der übrig, sonst nichts.
Schmerz, ...
Auf einen einzigen Punkt konzentriert.

Die Geräuschlosigkeit breitet sich bedächtig im abendlichen Lärm aus. Sie reißt mich mit, trägt mich in eine andere Sphäre. Ein Atemzug der Vollkommenheit stellt sich ein, ein Gefühl unendlichen Glücks.
Es ist der Augenblick der Stille.

In diesem Moment der Friedfertigkeit dringt die Melodie des Largo ,Aus der Neuen Welt' von Antonin Dvořák in mein Bewusstsein und die Erinnerung hält mich in ihren Armen wie eine Mutter ihr furchtsames Kind.
Kein Wort, …
keine Geste, …
kein Augenaufschlag, …
kein Gedanke.
Nichts. Nur Stille.

Stille, ...
und die intime Nähe dieses ewig währenden Augenblicks.
Ihr Leben lang hat Sie darauf gewartet, dass ich ihr heute begegne, in jenen Moment himmlischer Ruhe. Dieser erhabene Augenblick dauert den Hauch einer Sekunde, hält einen Lidschlag lang und füllt die Ewigkeit.

Wohin soll ich meinen Blick richten?
Ich bin erregt wie ein Kind. Ein Kind, das unvermittelt die Welt begreift.
Erstaunt. Erschreckt.
Fassungslos.


WORTLOSIGKEIT

Im Spiegel erblicke ich die Wanduhr über dem Schanktisch. Die Zeiger rücken in die Vergangenheit. Mit jedem Zucken schaben sie Erinnerungen frei.
Ein Gefühl der Dankbarkeit streift mich und feuchtet meine Augen.
Mir fallen in diesem Augenblick weder passende Worte noch geeignete Begriffe oder taugliche Redewendungen ein, die meine Verwunderung, meine Verwirrung, meine Empfindung in diesem Moment annähernd beschreiben könnten. Ich bin außerstande ein Wort, einen einzigen Buchstaben auch nur zu denken.
Ich muss sie wissen lassen, was mich bewegt, damit mir leichter wird. Aber die Sprache hält den Atem an. Worte verpuffen. Fliegen mir aus dem Kopf, bevor ich in der Lage bin, sie zu begreifen, erst recht nicht sie auszusprechen. Ich spüre Buchstaben, Silben, Worte, ganze Sätze auf der Zunge, schmecke jedoch nicht, ob sie süß oder bitter sind.
In ihrer Nähe fühle ich mich wie ein Analphabet, stumm wie ein Fisch, gehemmt. An den Tagen, in denen sie in meiner Nähe ist, fehlen mir die Worte. Ich bin einzig in Gedanken bei ihr.
Wochenlang bleibe ich stumm.


DENKBLOKADE

Versuche ich, meine Erinnerungen festzuhalten, fliegen sie davon wie ein windgescheuchter Haufen herbstlich gefärbtes Laub. Sie verschwinden wie Blätter, die im Wind ihre Richtung ändern, sobald ich sie fangen will. Sie kommen und entschwinden ebenso eilig. Tatenlos sehe ich zu. Kurze, flüchtige Gedanken ziehen vorbei wie Kometenstaub am nächtlichen Himmel und vergehen, bevor sie ankommen.

Als ich meine Gedanken aus ihrer Lethargie aufscheuche, Buchstaben zusammenzutragen, um die passenden Begriffe zusammenzusetzen, mit denen ich meine Gefühle, die Erregung und Benommenheit beschreiben kann, wird mir schlagartig bewusst, dass es aussichtslos ist. Den Mut, sie anzusprechen, ihr mit kargen, ungelenken Gesten versuchen klarzumachen, was sie ausgelöst hat, welche Erinnerungen sie geweckt hatte, bringe ich nicht auf.
Nicht im Augenblick, nicht heute.
Später.
In der nächsten Woche.

Vielleicht.


ERINNERUNG

Zuhause angekommen, reibe ich mir die klammen Hände, setze mich in den Ohrensessel und lege die Füße übereinander. Angespannt und gedankenfrei schaue ich durch die Scheibe hinaus in die windige Nacht. Mein Blick hat sich an dem uralten Walnussbaum festgemacht, der im Garten steht und das Haus bewacht.
Erinnerungen treiben mit Träumen, Wünschen, Hoffnungen und Erwartungen in der Dunkelheit als buntes, welkes Laub, vom Schein der Gartenleuchte angemalt, am Fenster vorbei. Sie entschwinden aus meinen Augen, lassen sich auf das Gras, den Fußweg nieder und nehmen ihre Reise mit der Windsbraut erneut auf.
Mein Blick verlässt die wirbelnden Erinnerungen und Fantasien vor der Scheibe, kehrt zurück in die Ruhe des Zimmers. Im Kamin lecken blasse, gelbrote Zungen müde über glimmenden Scheite. Hin und wieder knackt das Holz. Eine Flamme züngelt aufgeschreckt empor. Ich nehme das Notizbuch zur Hand, in dem ich Gedanken, Erinnerungen, Träumen und Hoffnungen notiert habe. Das Kornblumenblau des Einbandes ist über die Jahrzehnte verblichen und an Kanten und Ecken abgeschabt. Es wellt sich leicht an den Rändern, ist eingerissen wie trockene, abgestorbene Haut. Die von Hand aufgetragene Beschriftung „Blauseide“ ist abgegriffen, verblichen und nur in Ansätzen lesbar. Durch die Risse im Einband, die gezackten Narben ähneln, ist die braune Pappe darunter zu erkennen. Ich schlage die Kladde auf. Die Bindung seufzt, die Seiten flattern aufgeschreckt, in ihrer Ruhe gestört, hin und her. Einzelne Blätter sind unsauber herausgerissen, haben anklagende Reste hinterlassen.
»So leicht lassen sich Gedanken und Erinnerungen tilgen«, geht es mir durch den Kopf.
Das Papier ist dünn, die Kanten vom wiederholten Blättern ausgefranst und angeschmutzt. Ich streiche mit dem Finger über den verwischten Namen, der auf einer der ersten Seiten steht. Es ist ihr Name.
M o n i k a

Ich lese ihren Namen. Die Buchstaben sind endlos voneinander entfernt, weiter, noch weiter, als meine Erinnerung.
Ich schließe die Augen, berge das Gesicht in die Hände, um mich an mich selbst zu erinnern. Die eintretende Dämmerung in meinem Kopf wächst sich zur Schwärze aus, bis sich die bodenlose Trauer zu noch Grauenhafterem wandelt: zu dem verdrängt geglaubten Sterben.
Mit dieser Erinnerung kommt die Angst. Sie liegt bleischwer auf meiner Brust. Verschlägt mir die Luft. Ich ersticke. Atemlos, mit schmerzenden Lungen springe ich auf. Die Augen weit aufgerissen. Mein Herz pumpt. Ich spüre, wie die Zeit diesen Augenblick umkrallt.


VERDRÄNGTE MOMENTE

Wenn ich sie ansehe, wenn ich an sie denke, stellt sich die verdrängte Erinnerung ein, kommen die vergessen geglaubten Bilder.
Ein weiteres Mal bewältige ich das schmerzvolle Ereignis.

Ich sehe das flackernde Blaulicht auf dem nassen Asphalt. Ich sehe Feuerwehrleute, die versuchen, sie aus dem Wrack zu befreien. Ich sehe Polizisten herumlaufen. Mir ist bewusst, dass einer von ihnen mir später sagt, dass sie tot ist.
Ein Sanitäter legt mir eine Decke um und führt mich zum Rettungswagen. Meine Beine knicken ein, sind aus Pudding. Es ist ein Wunder, dass ich nicht verletzt bin.
Ich will sie in den Armen halten, sie an mich drücken. Ich will ihr sagen, dass wieder alles gut wird. Ich will ihre Nähe, ihren Körper spüren, ihre Wärme. Ihren Atem auf meiner Haut. Den Druck ihrer Hand. Ihren liebevollen Blick, der meine Augen sucht.
Auf irgendeine Weise habe ich es geschafft, aus den Rettungswagen zu kommen. Irgendwie ist es mir gelungen, zu ihr zu gelangen.

Ich durchlebe, wie sie ihren Blick aus der Ferne holt, sich mir zuwendet, mich Ewigkeiten lang anschaut mit furchtbar geweiteten Augen, die die meinen in einer schier endlosen Weite suchen und finden. Mit angstvollem Blick schaut sie mich an. Stumme Tränen rinnen unaufhörlich über ihre Wangen. Ihre blassen Lippen hauchen: »Ich will nicht sterben.«
Mir krampft das Herz, als ich sie tröste.
»Du musst keine Angst haben. Du wirst nicht sterben. Du gehst auf die die stille Seite des Lebens. Du bist nicht weit weg von mir. Wenn ich in einen Spiegel schaue, dann sehe ich dich. Lege ich meine Hand an das Glas, leg die deine an. Dann spürst du die Wärme meiner Hand. Sei nicht traurig, ich bleibe bei dir, bis wir uns auf der stillen Seite wieder in die Arme nehmen und gemeinsam unseren Weg gehen.«
Widerstrebend gleitet ihre Hand langsam aus meinen Fingern, als ließe sie den einzigen Funken Hoffnung los. Sie schaut zu mir auf, lächelt hilflos, sieht mich lange schmerzvoll an und ihr Mund formt fast lautlos die Worte: »Wir ... wir sehen uns wieder«.
Ihr Blick vergräbt sich in den Tiefen meiner Seele. Dunkelheit drängt das Licht aus ihren Augen. Das Leben verstummt. In diesem Moment stirbt ebenfalls ein Teil von mir.
Bestürzung. Furcht. Finsternis.
Die Dunkelheit verdichtet sich, wächst an, kriecht in meinen Kopf, füllt den ganzen Raum. Mein Unterbewusstsein spricht zu mir. Das lässt sich nicht zum Schweigen bringen.
Ich schreie auf. Angst. Schwärze.
Mit dieser Schwärze in meinem Kopf kommt das Entsetzen.
Die Katastrophe aus der Vergangenheit ist in mein Leben getreten.

Ich bin mir bewusst, dass alles meine Schuld ist.
Weit nach Mitternacht liege ich auf dem Bett und versuche zu begreifen, was heute passiert ist. Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gelingt.

ERKLÄRUNG

Sie beugt sie sich über mich. Ich sehe in ihre Augen, sehe ihr Lächeln, sehe die winzigen Sommersprossen, die jedes Frühjahr im Sonnenlicht erblühten. Ihr dunkles Haar, das mir ins Gesicht fällt. Sogar ihre Stimme höre ich in meinem Kopf. Glockenrein und melodisch. Eine weiche, unbeschwerte Mädchenstimme. Ich rieche sie. Ich erinnere den Geruch, der ihr eigen ist. Eine zarte Wolke aus dem würzigen Duft regenfeuchten Wiesen, den Gräsern und Blumen, die am Wegrand wachsen. Und Narzissen. Ich vergrabe die Nase in ihren Haaren, um den Geruch einzuatmen. Meine aufflackernde Liebe zu ihr zerreißt mir die Brust. Das Bild des Mädchens verblasst, wird zarter, durchsichtiger, luftiger, bis ein schwaches Gekräusel übrig bleibt. Andere Bilder schieben sich davor: der feuchtgraue Asphalt der Straße. Ihr regungsloser Körper, gehüllt in ein farbenfrohes Sommerkleid. Ihr kalkweißes Gesicht. Wolken am regenschweren Himmel, blühende Narzissen, Frühling.
Jäh zerplatzt der Traum. Ruckartig setze ich mich im Bett auf, hellwach von einem Moment zum anderen, schweißnass. Mein Herz rast und hämmert. Sprengt mir die Brust.

Es gibt Dinge, die weiß man und es gibt Dinge, auf die man inständig hofft. Treten sie ein, ist man fassungslos.
Es hat ungezählte Jahre gedauert, ehe es Tage gab, an denen es mir gelang, nicht an sie zu denken.
Irgendwann gab es Stunden, in denen es mir vergönnt war, traumlos zu schlafen.
Irgendwann gab es Minuten, in denen ich gewillt war, unseren Traum zu leben.
Irgendwann wurden mir Sekunden geschenkt, in denen ich zaghaft hoffte, dass es ohne sie eine Zukunft für mich gibt.
Es war eine lange, schmerzvolle Zeit. Eines Tages gewährte mir das machtvoll vorwärtsstrebende Leben den Moment, in dem ich mir verzeihen konnte und nachsichtig gegenüber Gott wurde, weil er sie mir genommen hat.

An jenem kühlen Winterabend in der Gastwirtschaft fühle ich, nein, ich sehe, dass sie in der Gegenwart zurück ist, als wolle sie mir sagen, dass ich mich erinnern soll, was sie mir hinterlassen hat. Als habe sich nichts verändert. Als wolle sie mit ihrem gewohnten Leben fortfahren. Nicht ahnend, das es durch einen Unfall endete. Das sie tot ist.
Es sind ihre Augen, es ist ihr Gesicht, in das ich an jenen Abend geschaut habe. Es ist ihr Lächeln, das sie in mein Bewusstsein rückte. Es ist die Erinnerung, die mich ängstigt, aus dem Gleichgewicht gebracht, erregt hat seit jenem Abend.
Nichts scheint unmöglich. Einem beschränkten Geist kommen gewisse Dinge und Vorkommnisse mysteriös, unbegreiflich, unerklärlich vor. Ich bin der Überzeugung, dass die Grenzen des Geistes lange nicht erreicht sind, alles für möglich zu halten, auch das vermeintlich Unmögliche. Es ist eine Frage der Zeit. Zeit, die man braucht, um zu verstehen, was möglich sein wird, was möglich sein kann.
Mir ist bewusst, dass sie es nicht ist, dass sie es nicht sein kann. Dennoch würde ich gerne glauben, dass sie ihr Leben weiterführt, als wäre nichts geschehen.
Sie hätte es verdient.

Es gibt eine versteckte Ecke in meinem Herzen, die sich nicht füllen lässt. Dort hocke ich davor und warte, ...
... und warte.
Jeden Tag.

Jeden der verdammt langen Tage eines Jahres ohne sie. Ich vermag meiner Schuld nicht davonzulaufen, niemand vermag das. Wieder und wieder stelle ich mir die Frage: »Wie kann ich eine Tote um Vergebung bitten?«
Jedes Jahr beginnt mit einem unbeschriebenen Blatt, auf das ich zögerlich meine Träume und Wünsche in bunte Formulierungen fasse. Am Ende jeden Jahres ist das Licht der Zuversicht erloschen, sind meine Träume erneut zerplatzt und meine farbenfrohen Wünsche in graue Schattierungen zerflossen. Ein weiteres Jahr wird folgen. Und ein weiteres.

Ich vermisse sie mehr, als irgendwen sonst. Sie ist die unermessliche Lücke in meinem Leben, das bodenlose Loch in meiner Seele. Ich trauere der Zukunft nach, die wir hätten haben können. Vor wenigen Wimpernschlägen war ich überzeugt, dass mir nichts fehlt, dass ich zurechtkomme, dass mein Leben ausgezeichnet ist.
Sie ist nicht mehr im Leben.
Gleichwohl blicke ich in ihr Antlitz, sehe ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund, ihre Lippen. Ihr Gesicht lebt mit einem anderen Körper, mit einem stillen Lächeln in Schweigsamkeit, als hielte die Sprache dauerhaft den Atem an.
Ist es meine Fantasie, dass ich sie wieder im Leben sehe?
Ist es mein ungestillter Wunsch?
Ist sie es doch?
Ist alles nur in meinem Kopf?
Kurze, flüchtige Fragen, die schnell am Fenster vorbeiziehen wie sturmgepeitschte Wolken.
Seitdem betrachte ich sie in den Momenten, in denen sie in meiner Nähe ist. In vergänglichen Augenblicken, in kurzen Sekunden, in rasch vergehenden Minuten, in rasch verstreichenden Stunden.
Ich sehe ihr ins Gesicht.
Angespannt.
Verstohlen aus dem Augenwinkel.
Hoffnungsvoll.

Jede ihrer Regungen registriere ich. Achte auf ihre Mimik. Bemerke, wenn sie mit den Händen redet. Versuche, zu begreifen. Manches Mal spielen ihre Finger gedankenverloren mit den nachtdunklen Haaren, streichen über die Wangen, während sie den Blick über den Tisch, in die Karten vor sich, durch den Raum, über die Mitspieler schweifen lässt.
Sie hat mich bezaubert. Es ist eine Faszination, die mir ein stilles Lächeln über das Gesicht gleiten lässt, mich an vergessen geglaubte Augenblicke meiner Jugend erinnert. Sie wirkt in sich gekehrt, strahlt ein ausgeglichenes Selbstvertrauen aus.
Sie hat meine Blicke bemerkt, lässt aber nicht erkennen, ob es ihr gefällt, dass ich sie ansehe. Erwidert sie den Augenkontakt, vergisst mein Herz zwei, drei Schläge.
Dann ruht sich die Zeit aus. Das Wasser beendet sein Geplätscher, hört auf zu fließen. Festgefroren hängt es am Zapfhahn ohne ein Zeichen von Frost. Ruht erstarrt.
Der kühle Lufthauch, der durch den Raum streicht, hält abrupt inne. Man kann ihn noch in den wehenden Haaren sehen und fühlt ihn über die Haut streichen. Gardinen und Vorhänge, vom Wind in eine Richtung gezwängt, verharren regungslos inmitten der Bewegung.
Ein Schmetterling, der sich dem Wind hingegeben hat, hängt wie gemalt in der Luft, ein Schnappschuss des Augenblicks. Alles ist erstarrt. Nichts bewegt sich. Nicht einmal das Leben.
Die Gegenwart bleibt zwei Herzschläge lang stehen und lässt die Zukunft warten, um der Vergangenheit eine Zeitspanne der Erinnerung zu schenken. Umarmt mich ihr Blick, berührt er meine Seele und Ewigkeiten vergehen. Ein schwaches Kräuseln auf der Oberfläche des Meeres der Vergangenheit trägt mich zurück in die Gegenwart. Verlegen löse ich den Blick. Der Moment ist vorbei. Die Welt beginnt, sich wieder zu drehen.

Das Vergangene wird Geschichte und die Gegenwart wird Vergangenheit. Die Zeiger der Uhr mühen sich redlich, die verloren gegangene Zeit aufzuholen. Mein Puls regt sich. Klopft hart. Kühler Schweiß perlt auf meiner Stirn. Die Kopfhaut zieht sich zusammen. Die Hände werden klamm. Im Kopf entwickeln sich wirre Gedanken.
M o n i k a.


ALLES NUR IN MEINEM KOPF?

Mein Blick verschwimmt. In meinen Augen schimmern Tränen. Ich habe Verlorenes, Vergessenes, Verdrängtes wiedergefunden. Es ist wunderbar. Wunderbar und schrecklich zugleich.
Wochen, Monate, schlimmstenfalls Jahre werden sich einstellen und vergehen, ehe ich den Willen aufbringe, das Geschenk der Erinnerung zu begreifen.
In diesem Moment werde ich in der Lage sein, darüber zu sprechen.

ICH FREUE MICH

Es freut mich, dass es dich gibt!
Es ist schön, dich zu sehn.
Mir fehlt der Blick in dein Gesicht.
Es ist der Blick in das Gesicht von Monika.

Ich wünsche mir, du hättest sie gekannt. (durchgestrichen)

Lange habe ich diesen letzten Satz betrachtet.
Nachdenklich.
Schwarz.
Auf Papier.
So unabänderlich. So endgültig.

»Schwachsinn«, habe ich mir gesagt.
Ich habe ihn durchgestrichen.
Ich bin in der Lage, mich besser auszudrücken.

Vor dieser Begegnung wären die Worte aus mir herausgeströmt, hätten sich auf dem Papier verteilt wie spielend hingeworfenes, buntes Konfetti. Im Augenblick ist alles schwerfälliger geworden, verkrampft, unbeholfen, zäh ...

Ich fühle mich besser, nachdem ich den letzten Satz durchgestrichen habe.
Jetzt habe ich wieder nichts.

Kein Ende.
Und keinen Anfang.

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Autor:in

Klaus D. Andreß

* 08.08.1947 in Arnstadt/Bittstädt; Mittlere Reife; Studienabschlüsse in Hochbau, Städtebau, Soziologie; 2. Staatsprüfung; praktische Arbeit in Architektur- und Ingenieurbüros (Hensen, Görres & Schmitz-Aachen), Stadt verwaltungen Alsdorf, Aachen, RP Köln. Fachgebiete: Stadtplanung, Bau- u. Planungsrecht. Steckenpferde: Schach, Poker, Schreiben / Prosa, Lyrik, Kochen, Beobachten. Ich liebe Stille, (klassische) Musik, Entspanntheit, sachliche und wertschätzende Gespräche-

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