Hesse-Herausgeber Volker Michels mit Ernstem und Heiterem in Maulbronn

Um diesen Ausbund pervertierter Erziehungskunst, der Ende des 19. Jahrhunderts an der Lateinschule in Calw amtierte, kümmerte sich heutzutage niemand mehr, wenn nicht als unmittelbare Folge dieses schulischen Terrorregimes ein weltweit gelesenes Buch entstanden wäre. Hermann Hesse hat es geschrieben; eine flammende Anklage, eine bitterböse Abrechnung, der Aufschrei einer verwundeten Seele: „Unterm Rad“.

Des „Prügeljakobs“ (und anderer Lehrer) gewalttätige Lehrmethoden haben nicht nur den nachmaligen Dichter allein, sondern weit mehr noch dessen fünf Jahre jüngeren Bruder Hans getroffen. Deswegen auch trägt die Titelfigur der Erzählung „Unterm Rad“ diesen Vornamen. Die Handgreiflichkeit pädagogischen Eifers hat sich seit Hesses Jugendzeit gewisslich erheblich vermindert. Vorbei sind auch die Zeiten, als der Direktor des Calwer Gymnasiums – wie ich mich sehr gut erinnere – seinen Schülern, bis zur Abitursklasse hinauf, gelegentlich saftige Ohrfeigen verabreichte. Derselbe Direktor übrigens, der die Benennung seiner Schule nach dem Literaturnobelpreisträger emsig bekämpfte mit dem Hinweis auf die angebliche Unanständigkeit von Hesses „Narziß und Goldmund“.

In einem wissenssatten Essay hat der Hesse-Herausgeber Volker Michels vor etlichen Jahren Hesses nachhaltig wirkende Erzählung „Unterm Rad“ analysiert mit der Überschrift „Unterm Rad der Fremdbestimmung“. Und eben der Vortrag dieses geringfügig überarbeiteten Essays war der erste Teil einer Veranstaltung an jenem Ort, der sowohl Hesses Leben als auch sein literarisches Schaffen wie wenig anderes geprägt hat: Maulbronn.
Im spätgotischen Oratorium der Klosteranlage – die seit 450 Jahren als evangelisches Seminar von Johannes Kepler bis Hölderlin manch spätere Berühmheit beherbergte – hatte sich eine große Hörergemeinde eingefunden, um Michels literaturpsychologische Spurensuche zu verfolgen. Die verschiedenartige Bewältigung der schulischen Drangsal überträgt Hesse einerseits dem Hans Giebenrath, andererseits dessen mutigerem und klügeren Freund Hermann Heilner. Beide jedoch sind ein alter ego des Autors, also die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Überraschenderweise verzichtet Michels jedoch darauf, die Parallelen aufzuzeigen zur engen Freundschaft Hesses mit einem Maulbronner Stubenkameraden; eine Verbindung des Herzens, deren Nachklang bis ins hohe Alter des Dichters vernehmbar war.

Es mag als stilistischer Bruch gedeutet werden, dass Michels nach dem Vortrag seines Essays umschwenkte zu heiteren Hesse-Versen im Wilhelm-Busch-Stil. Diese aber – nun in der neuen Gesamtausgabe erstmals gedruckt – nehmen unmittelbaren Bezug auf Hesses Zeit in Maulbronn, dokumentieren in lustiger Weise den Lesehorizont des Schülers Hesse von Schiller bis zu Karl May. Ist’s auch sicherlich keine große Dichtung (und somit durchaus verzichtbar), so regten die Verse das Publikum zum Schmunzeln an und zeigten auf, dass die wenigen Monate Seminarleben in Maulbronn für Hesse auch ein Hort unbeschwerten Schülerlebens sein konnten.

Sebastian Giebenrath

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