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Ohne Reisen

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Im eigenen Ich harren, das ist die grösste und wahrhaftigste Kunst. Entwicklung seines Selbsts anstreben, und doch nicht zu sehr herbeizusehnen oder zu forcieren, da es sonst anstrengend und verwirrend wird.
Theo flieht dann jeweils nach Thailand, wenn er sich selbst nicht mehr ganz versteht und sein Leben ihn zur Veränderung auffordert. Und die Anderen, seine Kumpels oder seine Freundin, können ihn sowieso nie verstehen. Eben genau dasjenige Ich – viel zu kompliziert.
Saufen und Sex. "Zurück zu den Wurzeln", denkt er sich, so wie die Höhlenbewohner. Die wichtigsten Bedürfnisse decken – das ist Zufriedenheit, das ist Glück.
Wieder zurück im miefigen Europa, gerade genug Geld für Wohnen und selbst gekochte Pasta am Abend mit roter Büchsensauce. Theo arbeitet als Buchhändler, hat schon viel gelesen, gute und schlechte Literatur, mag Fussball und Dart, als aktiver Vereinssportler und zuhause vor dem Fernseher, ist in der Bürgermusik, spielt ganz ordentlich Posaune, mag vor allem Schlager, geht am Wochenende ins Kino, trinken mit den Kumpels, hat eine Freundin seit zweieinhalb Jahren, sie wohnt eineinhalb Autostunden entfernt, Beziehung nicht das Gelbe vom Ei, "man nimmt, was kommt", wie er und seine Kumpels in geselligen Runden zu sagen pflegen.
Nach Thailand reist er einmal eine Woche pro Jahr, manchmal sogar zweimal, mit einem Arbeitskollegen. "Wie alte Säcke", spotten sie über sich selbst. Seiner Freundin sagt Theo jeweils, er müsse an eine Vernissage oder an eine Buchmesse irgendwo in Europa.
Theo weiss nicht, was er am liebsten mag, Mut und Entscheidungskraft zählt er nicht zu seinen ausgeprägten Eigenschaften. "Du weisst nicht, was du willst", sagt manchmal seine Freundin im Scherz und sie lachen beide. Oder sie weint wenn sie diesen Satz ausspricht, um ihre Beziehungsprobleme anzusprechen. Er weint dann auch, weil sie weint.

Auf einer Internetcommunity, von der sie beide voneinander nicht wussten, dass sie Mitglied waren, sah sie ein Foto von Theo mit einer Thai-Frau. Seine Freundin stellte ihn zur Rede, er konnte sich nicht klar nur für sie entscheiden, sie war verletzt und beendete die Beziehung. Er war ein bisschen traurig und verreiste.
Aber nicht nach Thailand. In die andere Richtung. Theo feierte in den Anden seinen 33ten Geburtstag inmitten von Leuten, die er erst seit einigen Wochen kannte, sie aber seine neuen, vielleicht sogar besseren Freunde nannte. "Schnapszahl", dachte er und nahm einen kräftigen Schluck vom Selbstgebrannten der Ortsansässigen.
Theo mochte den reisenden Theo sehr, so beliebt, und witzig, und selbstsicher, und unternehmungslustig.
Zurück zuhause dachte er, vielleicht hatte sie Recht. Was wollte Theo, kannte er sich? Ein einfaches Leben haben, wollte er, zufrieden sein, das wollte er. Nicht immer alles so kompliziert. Was kann man als kleines Menschen- Ich der gigantischen, ungemütlichen Moloch- Welt entgegensetzen? Das fühlte er in sich drin, zwar etwas unklar, aber ihn vollends durchdringend.
Er flüchtete nochmals nach Thailand, aber es gefiel ihm nicht mehr sosehr. Dann versuchte er es noch einmal mit seinen neuen Freunden in den Anden und blieb dort. Theo wurde unglaublich unruhig und lief alleine in den Urwald, seine Freunde hörten und wussten nichts mehr von ihm. Theo lag nach einem Sturz mit einem komplizierten Beinbruch tief im Urwald im undurchdringlichen Gestrüpp, war verzweifelt und bevor er das Bewusstsein verlor, wünschte er sich etwas mehr Mut.

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glasperlenspieler

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