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Auf dem Parteitag

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Jochen Kernschmidt war der Chef einer Partei, die einen kometenhaften Aufstieg innerhalb kürzester Zeit erlebt hatte. Mit einfachen Ideen und simplem Willen war er ein erfolgreicher Kommunalpolitiker geworden, aber es begab sich zu dieser Zeit, dass in dem beschaulichen Staate Dreggskahren ebendiese Partei zur nationalen Parlamentswahl antreten sollte. Die Partei nannte sich schlicht „Neue Partei“, denn das stimmte immerhin.
Auf ihrem ersten Parteitag sollte die Partei nun ihr Vorgehen festlegen. Parteichef Kernschmidt hatte nämlich keine Idee, wie seine Partei sich in der blühenden politischen Landschaft – Spötter benutzten gerne den Ausdruck „rattenverseuchter Sumpf“, aber Blumen gefielen doch den meisten besser – orientieren sollte. Bei den vorhergegangenen Wahlen hatte es immer gereicht, sich vorzustellen, seine Vorschläge zu unterbreiten und Schnittblumen mit Kaffee und Kuchen zu verschenken. Nun stand der Gründer der Partei und zugleich ihr Vorsitzender vor dem Problem, dass er selbst nicht wusste, unter welche Definition sie fallen sollte; aus diesem Grunde hatte er den Parteitag einberufen, schlichten Gemütes und von ländlicher, einfältigen Gutmütigkeit wie er war.
Da neben dem Vorsitzenden auch sonst niemand wusste, wo die Neue Partei stand, war ihre Anhängerschaft ein bunt zusammen gewürfelter Querschnitt durch die verschiedenen politischen Gesinnungen des Landes. Jeder hoffte, die Partei verwirkliche die Ziele seiner favorisierten Idee. Um Streit vorzubeugen, hatte Kernschmidt eine Sitzordnung ersonnen, die Raum zwischen den verfeindeten Vertretern schaffen sollte. Leider hatte der Hausmeister, der gleichzeitig stellvertretender Parteivorsitzender war, das Papier zusammen mit zwölf Ordnern voller alter Akten, einer vertrockneten Zimmerpflanze, einer streunenden Katze und einem schlafenden Parteisekretär zum Müll hinausgetragen. Kurzerhand hatte er selbst eine mit Kaffeeflecken übersäte Sitzordnung angefertigt. So kam es, dass die Kommunisten neben den Nationalisten, die Liberalen neben den Erzkonservativen und die Christdemokraten neben den Antiklerikalen saßen. In der Mitte saß eine Gruppe Anarchisten, die eigentlich nicht zur Partei gehörten, sondern sich lediglich vor dem Regen in die Parteizentrale geflüchtete hatten. Nun saßen sie mit den Füßen auf den Sitzlehnen des Vordermannes und schlürften genüsslich den Kaffee, den die Sozialdemokraten gekocht hatten, während ihre durchnässten Mäntel auf der Heizung trockneten.

Kernschmidt erklärte den Parteitag für eröffnet. Zu Beginn sollte der berühmte Politologe Professor B. von LA eine Rede halten. Professor B. von LA, kurz Professor B., war der Mentor von Kernschmidt und hoffte auf kostenlose Verpflegung. Leider ging dem gesetzten Herren seine Rede beim Aussteigen aus dem Taxi vor der Parteizentrale verloren. Der Wind riss sie fort und der Regen verwischte die sauberen Buchstaben. Doch Professor B. war ein talentierter Rhetoriker und durchaus in der Lage, eine Rede aus dem Stehgreif zu halten. Unter verhaltenem Applaus betrat er das Podest und stützte sich auf das Rednerpult.
„Meine Damen und Herren, wir leben in unsicheren Zeiten“, begann er seine Rede. Ein Husten von der Seite der Nationalisten war zu hören. „Es ist“, fuhr er fort, „heutzutage nicht leicht für den eifrigen Vogel, den armen Wurm zu erwischen. Kehrt der Vogel dann doch erfolgreich in sein Nest zurück, so muss er feststellen, dass das diebische Eichhorn dieses bereits geräubert hat und dass Forstarbeiter dabei sind, seinen Baum, ja ich möchte sagen, seine Heimat, abzusägen, sie zu fällen.“ Ein einzelnes Lachen ertönte aus den Reihen der Anarchisten, die die anderen Parteimitglieder mit ihren durchnässten Socken belästigten.
„Ferner bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Leben in diesem schönen Lande in keinem Fall einfacher geworden ist. Nein, man könnte gar sagen, es sei bedeutend beschwerlicher geworden. Wer baut heute noch ein Eigenheim, wenn er feststellen muss, dass er in der Zeit, die er auf das Aussuchen des Tapetenmusters verwendet, einen landwirtschaftlichen Betrieb im südostasiatischen Dschungel aufbauen könnte? Man kann durchaus mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass der Bau einer Parteizentrale, wie dieser, in der wir hier und heute alle versammelt sind, dem Aufbau einer strukturierten, organisatorisch veranlagten, von Verantwortung und Selbstentbehrung getragenen Partei gleichkommt.“ Eine nasse Socke, die ein Anarchist zuvor auf einen Liberalen geworfen hatte, flog durch den Saal und traf einen Kommunisten am Kopf. Die Rede des Professors ging ungestört weiter: „Wir sollten heute erkennen, dass Entscheidungsfragen zum Reinigungsvorgehen bei Straßenbelägen durchaus ihre Berechtigung neben den Optionen der Durchschaubarkeit zur Aufdeckung konsequenter, frequentativer Anstrengungen im Bereich der dem Durchschnittsbürger durch ein geschicktes Maß an eigener Entscheidungsgewalt zur Durchführung ebenso zahlreicher wie wohl bedachter Schachzüge in Anbetracht einer theoretisch nicht kontrollierbaren Zukunftsprojektion mit dem Ziel der Schaffung einer lokalen, kontra-uniformen Einrichtung zur Bestätigung persönlicher Inkompetenz haben.“
Die Sozialdemokraten spielten Karten, während Nationalisten und Anarchisten Fangen spielten und der stellvertretende Vorsitzende im Saal staubsaugte. Kernschmidt brütete über seinem vierten Kreuzworträtsel in hebräischer Sprache, während die Liberalen gemeinsam ein sechs Meter hohes Kartenhaus aus Pappuntersetzern bauten. Die Rede des Professor B. war ein solcher Erfolg, dass Kernschmidt sich von seinem Kreuzworträtsel löste, seinem Vize den Staubsauger entriss und gemeinsam sperrten sie den kontinuierlich weiterredenden Politologen in eine Besenkammer, wo er den Schrubbern seine Theorie zum außenpolitischen Verhalten in Westsibirien lebender Stare erklärte.
„Revolution“, schrieen die Nationalisten und warfen mit Schuhen nach den Kommunisten, wobei sie das Kartenhaus der Liberalen zum Einsturz brachten.
„Beschneidung der Grundrechte“, antwortete es aus den Reihen der Sozialdemokraten, die von dem Lärm aufgeweckt worden waren. Schließlich konnte alle mit einem Stück Kuchen und einer Tasse Kaffee besänftigt werden.
„Nachdem wir durch die Rede des verehrten Professor B. von LA einige konstruktive Denkanstöße erhalten haben, wäre es nun an der Zeit, das Programm der Partei festzulegen“, sagte Kernschmidt vom Rednerpult aus. Schweigen. „Nach einer kleinen Pause mit Kaffee und Kuchen“, fügte er schnell hinzu. Es folgte tosender Beifall.
Als ein Vertreter der Christdemokraten ans Rednerpult trat, blökten die Kommunisten: „Die Kirche ist ein Feind der Revolution!“
„Aber, aber“, versuchte der glatzköpfige Dicke mit den Augen eines Schweins, die Linken zu beruhigen, „die wahre Revolution, meine Brüder, kommt doch von Gott durch Jesus Christus unsern Herrn. Er, der am Kreuze für euch starb…“
„Maul halten“, tönte es von den Liberalen und den Anarchisten. „Als erstes schaffen wir den Religionsunterricht an den Schulen ab.“
„Aber im Christentum sind wir doch alle gleich, gleich vor Gott. Es ist ja fast eine Form des geistlichen Kommunismus…“ Der Dicke rang nach Worten zu seiner Verteidigung, aber seine Ansätze gingen im Tumult unter.
„Verräter“, schrieen die Kommunisten und zwangen die Sozialdemokraten mitzumachen. Die Rechten klatschten Beifall. Einerseits zeigten sie so Sympathie mit der Kirche, was es ihnen später einfacher machen würde, sie für ihre Zwecke einzuspannen, andrerseits ermutigten sie die Befürworter der Kirche, sie weiter mit dem Kommunismus zu verbinden (wenn auch nur in ihren Reden), sodass sie sie später, unter Berufung auf ebendiese Aussagen, als bolschewistische Gefahr brandmarken und verbieten konnten.
Als nächstes trat einer der umweltbewussten Grünen auf die Bühne. Die Grünen waren vor allem bei den traditionellen Liberalen und den Konservativen nicht gerne gesehen und als Öko-, Hippie-, oder gar Kindergartenpartei verschrien. Als der Grüne seinen Vorschlag zur Abrüstung und nachfolgender Nutzung von ehemaligen Kampfpanzern als integrierte Bestandteile von Grünflachen und Erholungsgebieten und die Verwendung von entschärften Artilleriegranaten als Bauteile für Kinderspielplätze vortrug, machte sich Empörung bei den Konservativen, den Militaristen und den Nationalisten breit. Die Armee diene schließlich der Verteidigung der geliebten Heimat, als Druckmittel und zusätzlich als Mittel zur Entwicklungshilfe bei „rückständigen“ Völkern. Die Anarchisten hingegen klatschten, pfiffen und johlten und schlugen vor, die Panzer auf den Hauptstraßen und in den Regierungsvierteln abzufackeln.
Jochen Kernschmidt, die Seele der Partei, brauchte eine Pause. Auf dem Weg zur Toilette hörte er wie Professor B. von LA Putzlappen und Klopapierrollen einen Vortrag über die effektive Nutzung der durch Wolken erzeugten Schatten zum Ausgleich eines Haushaltsdefizits hielt. Er schüttelte den Kopf und erschöpft ließ er sich auf einem Klodeckel nieder. Er lockerte seine Krawatte und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er hörte ein Geräusch und sah aus der Kabine nach draußen. Stellvertretender Parteivorsitzender und Hausmeister in der Parteizentrale Otto war gerade dabei, die Spiegel und Waschbecken zu reinigen.
„Was machen Sie denn hier, Chef?“, fragte er Kernschmidt, als er ihn entdeckte.
„Ach, Otto. Es ist so furchtbar. Was hatten wir für hohe und noble Ziele, als wir überlegten, mit unserer Partei ins Parlament einzuziehen.“
„Oh, ja“, seufzte Otto. „Damals gab es nur die drei Klos in der alten Kneipe zu putzen. Was waren das für Zeiten, als das Parteilokal noch ein Lokal im eigentlichen Sinne war…“
„Wie bitte?“, fragte Kernschmidt leicht irritiert.
„Wir werden uns wohl daran gewöhnen müssen, dass wir mit dem Wachsen der Partei auch mehr Kompromisse eingehen müssen.“ Wehmütig sah er auf die Flasche WC-Reiniger in seiner Hand.
„Ja, die Politik ist ein nimmersattes Monster, das sich ungefragt am geistigen Reichtum der Gesellschaft bedient“, sinnierte Kernschmidt.
„Welche Politik?“, fragte Otto. Er zeigte auf das Klo, auf dem Kernschmidt saß. „Da muss ich noch sauber machen.“
Seufzend erhob sich Kernschmidt und kehrte mit hängenden Schultern und eingezogenem Kopf in den Sitzungssaal zurück. Dort lieferten sich ein Vertreter der Sozialdemokratie und ein Rechter ein Rededuell. Ein kleinwüchsiger Liberaler wollte unbedingt bei der Diskussion mitwirken, wurde aber von ein paar Faschisten mit seinem Kragen an einen Kleiderhaken gehängt, wo er den Rest des Parteitages verbrachte. Inzwischen hatten die beiden Kampfhähne sich in einen Streit über eine Reform des Gesundheitswesens verstrickt. Zur Veranschaulichung hatte man einen Anarchisten auf die Bühne gebeten, der verschiedene Krankheiten vorspielen sollte. Harmlos fing es an, als der Rechte in der Rolle des Arztes die Wirksamkeit seiner Art der Reform an der Behandlung eines an Husten leidenden Patienten (dem Anarchisten) demonstrierte. Der Sozialdemokrat konterte mit der Heilung eines gebrochenen Beins. Der Rechte sah sich bedroht, schlug dem Anarchisten die Schneidezähne aus und fertigte eine Prothese aus drei Stücken Würfelzucker an. Als ein Grüner, der sich auf der Suche nach der Toilette auf die Bühne verirrt hatte, demonstrierte, wie man einen Gelähmten nach seiner eigenen Reform behandeln würde, erntete er Beifall und Jubelrufe, bevor er aufs Klo verschwand. Der zahnlose Anarchist war nun nicht einmal in der Lage sich auf der Bühne liegend, das Blut aus dem Gesicht zu wischen.
„Aber sehen Sie, meine Herren“, sprach der Sozialdemokrat, nahm seinem „Patienten“ die Brieftasche aus der Hosentasche und steckte sich eine einzelne Münze ein. „Erschwingliche Pflege für alle“, rief er und unterzog sein Opfer einer Chemotherapie. Der Saal war nicht mehr zu halten, während der querschnittsgelähmte, krebskranke und frontzahnlose Anarchist mit Blaulicht in einer Ambulanz ins Krankenhaus gebracht wurde.
Als nächstes sollte Gerhard Ahrens eine Rede halten. Ahrens galt als intelligenter und fähiger Politiker. Er war von einer christlich-demokratischen Partei zur Neuen Partei gekommen. Der Redner wurde angekündigt, aber nichts geschah. Kernschmidt war dem Zusammenbruch nahe, da stieß sein Sitznachbar den schlafenden Ahrens an. „Sie sind dran!“
„Was? Wo bin ich?“, fragte Ahrens sichtlich verwirrt, nachdem er aus dem tiefsten Schlummer geweckt worden war.
„Auf dem Parteitag. Sie sollen eine Rede halten, wissen Sie nicht mehr?“, sagte sein Nachbar.
„Auf dem Parteitag? Mit diesem liberalen Gesocks?“ Seine Augen weiteten sich und er sprang von seinem Stuhl auf und schrie: „Diese Partei ist eine Schande für eine jede Demokratie!“ er griff seine Aktentasche und stürmte hinaus. Die Anarchisten klatschten begeistert Beifall.
Während Kernschmidt sich heulend auf dem Boden wälzte, reinigte sein Parteivize Otto die Polster seines Stuhls.
In dieser Art ging es weiter; einzelne Mitglieder hielten sinnentleerte Vorträge über die Ziele der Partei, wobei sie sich alle widersprachen, die Parteizentrale war so sauber wie noch nie zuvor und der Bäcker in der Nähe verdiente genug mit dem Kuchenverkauf, dass er beschloss, für drei Monate die Welt zu umsegeln.
Letztendlich wurde ein dreihundert Seiten starkes Parteiprogramm verabschiedet, das insgesamt zweitausendeinhundertdreiundsechzig Punkte umfasste, die sich gegenseitig widersprachen und widerlegten. Man hatte auch ein Plakat für den kommenden Wahlkampf entworfen und gedruckt, welches jedoch anstatt des Kandidaten Kernschmidt den Politologen Professor B. von LA zeigte. „Mehr giftgrüne Vogelhäuschen aus Zahnstochern auf den Autobahnen“, lautete der Slogan. Es hatte aufgehört zu regnen und so verließen die Anarchisten die Versammlung. Der Parteitag ging zu Ende und sämtliche Mitglieder zogen jubelnd hinter dem über den Sinn der Errichtung eines auf dem Kopf stehenden Hochhauses philosophierenden Professor B. aus der Parteizentrale, um ihren Erfolg gebührend zu feiern.
„Ich freue mich schon auf die erste Parlamentssitzung“, sagte Otto beim Fensterputzen. „Es gibt unglaublich viele Glühbirnen, die im Parlament ausgetauscht werden müssen.“
Jochen Kernschmidt saß matt in einer Ecke und setzte einen Brief zum Austritt aus der Partei auf. Er hatte sich vorgenommen, in seinen Heimatort auf dem Land zurückzukehren und als Testperson für Psychopharmaka zu arbeiten.

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Daydreaming

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