WAS SOLL SCHON SCHIEFGEHEN?
Zuerst springt mir das Matjesbrötchen aus der Hand und zerlegt sich auf dem Tisch in seine Einzelteile: den Matjeshering, das Salatblatt, die Zwiebelringe und die Semmelhälften.
Dann schießt mir der Schmerz aus der Schulter in den Nacken und den Oberkörper.
Kurz darauf platzt mir beinahe das Trommelfell bei dem Gebrüll in mein noch mittäglich dösendes Ohr.
»Möönsch, Kovin!! Wat machs dudn hia!?«
Kalle Blomquist, er heißt wirklich so, mein rustikaler Kumpel aus der Grundschule und dem nachfolgenden, gescheiterten Leben überfällt mich beim Frühstück in der Nordsee-Filiale Braunschweig und beginnt, mir den Tag zu versauen. Er quetscht sich zu mir an den Tisch und fragt mich aus nach dem Woher und dem Wohin.
»Ääiih, wat machse?! Ääih, und wie jehts dia?! Sach ma!«
Um das Fass zum Überlaufen zu bringen, die unangenehme Frage nach unserer gemeinsamen Bekannten Johanna.
»Wie gehts dein´ Schatten, das Johanna, äih?!«
Der gut gemeinte Klaps an meinen Oberarm fegt mich um Haaresbreite vom Stuhl.
Mit Johanna verbrachte ich mein Leben seit der Grundschule. Nach fünf Jahren gemeinsamer Zeit auf dem Gymnasium war sie weggezogen und wir hatten uns aus den Augen verloren. Richtig kennengelernt habe ich sie während des Studiums.
Ich erzähle Kalle die Geschichte mit Johanna, die mich seit heute Morgen wieder gefangen hält.
Ich hatte mich für Germanistik eingeschrieben. Wie trafen uns überraschend im Hörsaal wieder. Von da an traten wir, wie früher, als Gespann auf. Die meiste Zeit verbrachten wir miteinander. Wir lernten zusammen, arbeiteten in den gleichen Projekten und schrieben gemeinsam an unseren Hausarbeiten. Wir ergänzten uns vorbildlich in vielen Dingen. Gleichgültig, ob es ums Studium ging oder um Angelegenheiten des alltäglichen Lebens, Johanna wurde für mich die wichtigste Bezugsperson. Auf Johanna konnte ich mich hundertprozentig verlassen.
Nach arbeitsreichen Stunden lagen wir erschöpft in den Kissen, tranken Bier oder auch Rotwein und küssten uns flüchtig auf die Wangen, wie bei Freunden üblich.
Kalle grinst anzüglich. Ich konnte mir denken, was durch sein einfach gestricktes Hirn geisterte.
Es blieb unverbindlich und freundschaftlich zwischen Johanna und mir. Niemand war verwundert, als wir eines Tages unsere Klamotten zusammenpackten und eine Wohngemeinschaft gründeten. Irgendwann sagte Johanna zu mir: Lass uns ins Bett gehen. Ich war erstaunt.
»Du machst Witze«, lachte ich und stand auf. Johanna fiel in mein Lachen ein, es war ein Scherz.
Zwei Wochen später, nach einem Lernmarathon, sagte sie wieder zu mir: »Lass uns ins Bett gehen.« Da wurde ich unruhig.
»Wär ich auch«, unterbricht mich Kalle, »ich hätt se schon beim ersten Mal flachjelegt.«
»Kannst du nicht mal auf deine blöden Kommentare verzichten und mir weiter zuhören?!«
Kalle hebt abwehrend beide Hände: »Is jut, is jut. Ab jetzt bin ick stille.« Er lehnt sich zurück und verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust und streckt, in provozierender Weise seinen Ärger bekundend, die Beine aus.
Ich versuche, die Situation zu entschärfen, in dem ich ruhig weiter erzähle.
»Ich müsste dich fragen, nicht umgekehrt«, grinste ich Johanna an.
»Solange kann ich nicht warten, bis du auf den Gedanken kommst«, konterte sie.
Ich war sprachlos und irritiert und verschwand verlegen in die Diele und wollte weg. Ich mochte Johanna, wollte aber keinen Sex mit ihr. Sie folgte mir, hielt mich am Arm fest und wiederholte ihr Angebot. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie attraktiv finde und es mir in manchen Momenten nicht leicht falle, mich unter Kontrolle zu halten. »Du bist sexy, aber ich liebe dich nicht. Ich liebe Anna und du bis meine beste Freundin. Ich kann nicht mit dir schlafen! Unsere Freundschaft würde in die Brüche gehen und Anna sich von mir trennen, das ist es mir nicht wert.«
Ich glaube, unsere Freundschaft basiert auf der nicht ausgelebten Zuneigung. Es ist ein belebendes Moment, sich zu umarmen, ohne es zum Äußersten kommen zu lassen. Wäre ich mit ihr ins Bett gegangen, wäre unsere Freundschaft verflogen wie ein Finkenschwarm nach einem Knall. Wir waren Freunde und ich wollte, dass es dabei blieb. Und ich war in festen Händen und wollte auf keinen Fall meine Freundin verletzen oder gar verlieren.
Johanna weinte. Ich stand da und wusste nicht, was ich tun sollte. Sie schaute mich an und ging wortlos zurück ins Zimmer. Tage später flüchtete sie in ein Studentenwohnheim.
In den folgenden Wochen sah ich sie nicht mehr im Hörsaal. Sie besuchte weder die Mensa noch die Seminare. Sie war verschwunden. Meine Emails beantwortete sie nicht und ihr Mobiltelefon hatte sie ausgeschaltet. Nach sechs bangen Wochen besuchte ich sie im Studentenwohnheim. Ihr Aussehen erschreckte mich, als sie mir die Tür öffnete.
»Schläfst du jetzt mit mir?«, wollte sie wissen. Ich habe mich umgedreht und bin gegangen. Die weiteren Versuche, mit Johanna ins Reine zu kommen, verliefen im Sande. Ich wollte sie vergessen. Ich habe mich auf das Studium konzentriert und meine freie Zeit mit Freunden und Anna verbracht.
Gestern hat mir Johanna eine SMS geschrieben: Ich habe gehört, mit Anne ist es aus. Schläfst du jetzt mit mir?
Weiß der Teufel, woher sie das wusste.
»Kalle, ehrlich. Im Augenblick überlege ich ernsthaft, ob ich ihr den Gefallen tun soll. Schließlich fühle ich mich für eine alte Freundin verantwortlich. Und mit Anne ist es aus. Ich kann ihr nicht mehr wehtun.«
Kalle hatte bis jetzt stumm wie ein Fisch zugehört. Er nimmt die Arme von der Brust und legt sie breit auf den Tisch, zieht seine Beine unter den Sitz, beugt sich vor, sieht mir in die Augen und sagt ungewöhnlich ruhig und leise: »Kovin, dat muss du wissn, wat richtich is. Ihr waat schon imma unzatrennlich und die Anne, die hat sich da bloß zwischenjedrängt.«
Nach einem Augenblick der inneren Einkehr fügt er grinsend hinzu: »He, Alter, wat soll schon schiefjehn?«
Ich schüttle meinen Kopf, stehe auf und gehe. Den verdutzten Kalle lasse ich ohne Antwort zurück.
Vielleicht hat er Recht.
Was soll schon schiefgehen?
Und im Moment bin ich sowieso ungebunden.
Dann schießt mir der Schmerz aus der Schulter in den Nacken und den Oberkörper.
Kurz darauf platzt mir beinahe das Trommelfell bei dem Gebrüll in mein noch mittäglich dösendes Ohr.
»Möönsch, Kovin!! Wat machs dudn hia!?«
Kalle Blomquist, er heißt wirklich so, mein rustikaler Kumpel aus der Grundschule und dem nachfolgenden, gescheiterten Leben überfällt mich beim Frühstück in der Nordsee-Filiale Braunschweig und beginnt, mir den Tag zu versauen. Er quetscht sich zu mir an den Tisch und fragt mich aus nach dem Woher und dem Wohin.
»Ääiih, wat machse?! Ääih, und wie jehts dia?! Sach ma!«
Um das Fass zum Überlaufen zu bringen, die unangenehme Frage nach unserer gemeinsamen Bekannten Johanna.
»Wie gehts dein´ Schatten, das Johanna, äih?!«
Der gut gemeinte Klaps an meinen Oberarm fegt mich um Haaresbreite vom Stuhl.
Mit Johanna verbrachte ich mein Leben seit der Grundschule. Nach fünf Jahren gemeinsamer Zeit auf dem Gymnasium war sie weggezogen und wir hatten uns aus den Augen verloren. Richtig kennengelernt habe ich sie während des Studiums.
Ich erzähle Kalle die Geschichte mit Johanna, die mich seit heute Morgen wieder gefangen hält.
Ich hatte mich für Germanistik eingeschrieben. Wie trafen uns überraschend im Hörsaal wieder. Von da an traten wir, wie früher, als Gespann auf. Die meiste Zeit verbrachten wir miteinander. Wir lernten zusammen, arbeiteten in den gleichen Projekten und schrieben gemeinsam an unseren Hausarbeiten. Wir ergänzten uns vorbildlich in vielen Dingen. Gleichgültig, ob es ums Studium ging oder um Angelegenheiten des alltäglichen Lebens, Johanna wurde für mich die wichtigste Bezugsperson. Auf Johanna konnte ich mich hundertprozentig verlassen.
Nach arbeitsreichen Stunden lagen wir erschöpft in den Kissen, tranken Bier oder auch Rotwein und küssten uns flüchtig auf die Wangen, wie bei Freunden üblich.
Kalle grinst anzüglich. Ich konnte mir denken, was durch sein einfach gestricktes Hirn geisterte.
Es blieb unverbindlich und freundschaftlich zwischen Johanna und mir. Niemand war verwundert, als wir eines Tages unsere Klamotten zusammenpackten und eine Wohngemeinschaft gründeten. Irgendwann sagte Johanna zu mir: Lass uns ins Bett gehen. Ich war erstaunt.
»Du machst Witze«, lachte ich und stand auf. Johanna fiel in mein Lachen ein, es war ein Scherz.
Zwei Wochen später, nach einem Lernmarathon, sagte sie wieder zu mir: »Lass uns ins Bett gehen.« Da wurde ich unruhig.
»Wär ich auch«, unterbricht mich Kalle, »ich hätt se schon beim ersten Mal flachjelegt.«
»Kannst du nicht mal auf deine blöden Kommentare verzichten und mir weiter zuhören?!«
Kalle hebt abwehrend beide Hände: »Is jut, is jut. Ab jetzt bin ick stille.« Er lehnt sich zurück und verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust und streckt, in provozierender Weise seinen Ärger bekundend, die Beine aus.
Ich versuche, die Situation zu entschärfen, in dem ich ruhig weiter erzähle.
»Ich müsste dich fragen, nicht umgekehrt«, grinste ich Johanna an.
»Solange kann ich nicht warten, bis du auf den Gedanken kommst«, konterte sie.
Ich war sprachlos und irritiert und verschwand verlegen in die Diele und wollte weg. Ich mochte Johanna, wollte aber keinen Sex mit ihr. Sie folgte mir, hielt mich am Arm fest und wiederholte ihr Angebot. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie attraktiv finde und es mir in manchen Momenten nicht leicht falle, mich unter Kontrolle zu halten. »Du bist sexy, aber ich liebe dich nicht. Ich liebe Anna und du bis meine beste Freundin. Ich kann nicht mit dir schlafen! Unsere Freundschaft würde in die Brüche gehen und Anna sich von mir trennen, das ist es mir nicht wert.«
Ich glaube, unsere Freundschaft basiert auf der nicht ausgelebten Zuneigung. Es ist ein belebendes Moment, sich zu umarmen, ohne es zum Äußersten kommen zu lassen. Wäre ich mit ihr ins Bett gegangen, wäre unsere Freundschaft verflogen wie ein Finkenschwarm nach einem Knall. Wir waren Freunde und ich wollte, dass es dabei blieb. Und ich war in festen Händen und wollte auf keinen Fall meine Freundin verletzen oder gar verlieren.
Johanna weinte. Ich stand da und wusste nicht, was ich tun sollte. Sie schaute mich an und ging wortlos zurück ins Zimmer. Tage später flüchtete sie in ein Studentenwohnheim.
In den folgenden Wochen sah ich sie nicht mehr im Hörsaal. Sie besuchte weder die Mensa noch die Seminare. Sie war verschwunden. Meine Emails beantwortete sie nicht und ihr Mobiltelefon hatte sie ausgeschaltet. Nach sechs bangen Wochen besuchte ich sie im Studentenwohnheim. Ihr Aussehen erschreckte mich, als sie mir die Tür öffnete.
»Schläfst du jetzt mit mir?«, wollte sie wissen. Ich habe mich umgedreht und bin gegangen. Die weiteren Versuche, mit Johanna ins Reine zu kommen, verliefen im Sande. Ich wollte sie vergessen. Ich habe mich auf das Studium konzentriert und meine freie Zeit mit Freunden und Anna verbracht.
Gestern hat mir Johanna eine SMS geschrieben: Ich habe gehört, mit Anne ist es aus. Schläfst du jetzt mit mir?
Weiß der Teufel, woher sie das wusste.
»Kalle, ehrlich. Im Augenblick überlege ich ernsthaft, ob ich ihr den Gefallen tun soll. Schließlich fühle ich mich für eine alte Freundin verantwortlich. Und mit Anne ist es aus. Ich kann ihr nicht mehr wehtun.«
Kalle hatte bis jetzt stumm wie ein Fisch zugehört. Er nimmt die Arme von der Brust und legt sie breit auf den Tisch, zieht seine Beine unter den Sitz, beugt sich vor, sieht mir in die Augen und sagt ungewöhnlich ruhig und leise: »Kovin, dat muss du wissn, wat richtich is. Ihr waat schon imma unzatrennlich und die Anne, die hat sich da bloß zwischenjedrängt.«
Nach einem Augenblick der inneren Einkehr fügt er grinsend hinzu: »He, Alter, wat soll schon schiefjehn?«
Ich schüttle meinen Kopf, stehe auf und gehe. Den verdutzten Kalle lasse ich ohne Antwort zurück.
Vielleicht hat er Recht.
Was soll schon schiefgehen?
Und im Moment bin ich sowieso ungebunden.